Samstagsessay:Rückkehr der Dienstmädchen

Operations Inside Amazon.com Inc.'s Fulfillment Center As U.K. Online Sales Due to Peak

Versandhändler wie Amazon machen das Leben bequemer und einfacher.

(Foto: Bloomberg)
  • Der Online-Handel kommt der Bequemlichkeit der Menschen entgegen.
  • Doch darunter leiden die stationären Geschäfte und die Innenstädte.
  • Die Internet-Wirtschaft spaltet die Gesellschaft.

Von Karl-Heinz Büschemann

Sicher wäre "Bimmel-Bolle" auch heute ein Erfolgsunternehmer. Der umtriebige Berliner Carl Andreas Julius Bolle war Maurer, gründete aber ein Unternehmen nach dem anderen. Einige gingen wieder ein, 1879 jedoch gründete er im Berlin der Kaiserzeit ein Milchgeschäft, das ihn berühmt machte. Dem Milchhändler vom Lützowbogen war schnell klar geworden, dass es in der kalten Jahreszeit schlecht war mit den Laufkunden. Also beschloss er, die Milch dort zu verkaufen, wo die Menschen wohnen. Bimmel-Bolle bekam von der Berliner Volksschnauze seinen Namen, weil er bald die ersten Pferdewagen mit Milch losschickte und seine Kutscher mit Glocken ausstattete, die gut hörbar auf sich aufmerksam machten. Bald hatte Bolles Meierei den Berliner Milchmarkt in der Hand.

Wäre dieser pfiffige Bolle heute auf die Welt gekommen, er hätte wahrscheinlich ein Internet-Unternehmen gegründet. Vielleicht so eines wie Amazon, den großen amerikanischen Online-Versender, der alles verkauft, was man in Pakete packen kann und der in großen Städten gerade dazu übergeht, den Kunden sogar Lebensmittel nach Hause zu liefern.

Seit Amazon vor 20 Jahren mit dem Versand von Büchern begann, ist der von Jeff Bezos gegründete Milliardenkonzern zum Feindbild Nummer eins im Einzelhandel geworden. Amazon gilt als der Killer des klassischen Buchhandels und wird jetzt verdächtigt, den gesamten klassischen Laden-Einzelhandel in die Bredouille zu bringen. Als Amazon kürzlich in München einen Service startete, der dem Kunden seine Bestellung von der CD bis zur Weinflasche innerhalb von einer Stunde liefern will, war das Entsetzen groß. Die Furcht geht um, die klassischen Läden in den Städten seien zum Untergang verurteilt. "Das trifft den stationären Handel schon ins Mark", sagt Bernd Ohlmann, Sprecher des Handelsverbandes Bayern.

Deutschland wurde zur Service-Wüste

Für den einen ist es der blanke Horror, dass demnächst rasende Fahrradboten für die Verödung der Innenstädte sorgen könnten. Für die anderen ist es ein Glück, dass Einkaufen einfacher wird und das lästige Tütenschleppen ein Ende hat. Internet, Apps und Smartphones sorgen dafür, dass die Dienstboten zurückgekehrt sind. Sie waren schon fast vergessen. Es gab sie ja mal. Der Internethandel mag neu sein, seine Dienstleistung ist es nicht.

Auch bevor das Internet den E-Commerce erlaubte, gab es dienstbare Geister, wurden Lebensmittel zu den Kunden gebracht. Noch in der Nachkriegszeit fuhr in Deutschland der Milchmann durch die Straßen, der Eiermann kam an die Haustür, und für Lebensmittelhändler war es normal, sich einmal pro Woche an die Küchentische der Hausfrauen zu setzen und zu notieren, was sie brauchten. Am nächsten Tag fuhr er mit seinem Kombi vor, um eine Kiste mit Konserven, Tüten und Früchten abzuliefern.

Auch nach dem zweiten Weltkrieg gab es noch Dienstmädchen, die der Frau des Hauses bei Küche und Kindern zur Hand gingen. In den Häusern von Großbürgern und Adel gehörten Bedienstete seit Menschengedenken zur Grundausstattung. Die Dienstleistung lebte, bevor der wichtigtuerische Begriff der Dienstleistungsgesellschaft erfunden worden war. Der Schneider saß meist gleich um die Ecke. Der Schumacher war nicht weit, die Bundesbahn verkaufte den Menschen die Fahrkarten noch mit einem Menschen am Schalter.

Bis die große Dürre kam, die Hausmädchen besser bezahlte Jobs in den Büros fanden, die kleinen Lebensmittelhändler von Selbstbedienungsgiganten überrollt wurden, es im Einzelhandel kaum noch Beratung gab und sich Deutschland zur Servicewüste entwickelte. Die Menschen nahmen es hin und gewöhnten sich an lange Schlangen an Supermarktkassen und muffiges Personal, das nur noch für das Einräumen der Regale da war.

Das Leben ist durch das Internet bequemer und besser geworden

Das Internet öffnet wieder das Tor zum Dienst am Kunden, der so lange untergegangen zu sein schien. Der Kühlschrank ist leer? Kein Problem, der Onlinehändler nimmt die Bestellung auf. Überraschende Gäste stehen vor der Haustür. Der Vietnamese aus dem Nachbarstadtteil liefert das Abendessen. Das Buch ist ausgelesen. Ein Klick auf dem Smartphone und Amazon schickt Lektüre-Nachschub in den Briefkasten, und wenn die Milch aus ist, muss eben der digitale Milchmann in die Pedale treten. Das Leben ist durch das Internet bequemer geworden und besser. Das ist ein Gewinn, und nicht nur für die obersten Einkommensschichten. Das Netz demokratisiert die Dienstleistung, weil Pizza-, Sushi oder Burrito-Boten jetzt auch von Mittelbetuchten gerufen werden.

Das hat allerdings einen Preis. Der klassische Handel hat zu leiden. Viele Läden in den Innenstädten machen dicht, weil es für die Kunden bequemer ist, sich im digitalen Kaufhaus zu bedienen. Bis zum Ende des Jahrzehnts sind nach einer vom Institut für Handelsforschung (IFH) in Köln veröffentlichten Analyse 45 000 Ladengeschäfte gefährdet. Mehr als jedem zehnten Laden drohe die Schließung.

Dass viele Innenstädte schon jetzt einen schleichenden Tod sterben, liegt wohl nicht nur am bösen Internet. Aber der Onlinehandel ist attraktiv bei Leuten, die wenig Zeit haben, aber ein gutes Einkommen. Der klassische Einzelhandel wird sich etwas einfallen lassen müssen, um der Bequemlichkeit des Internethandels etwas entgegenzusetzen. Die Gegner sind übermächtig. Die Leitkonzerne der Internetwirtschaft heißen Google, Facebook, Microsoft oder Amazon. Diese Milliardenkonzerne haben bereits eine weitgehende Durchdringung von Märkten und Gesellschaften erreicht, und den Konsumgewohnheiten ihren Stempel aufgedrückt. Was soll die kleine Boutique-Besitzerin von der Papenhuder Straße in Hamburg dieser Macht entgegenhalten?

Sorge, Säubern, Service

Die Bequemlichkeit des Internets hat einen Preis. Nicht nur, weil das Bestellen per Mausklick und die Anlieferung an die Haustür einen Obolus kostet. Denn auch Menschen müssen dafür zahlen, dass es sich andere bequem machen können. Es sind diejenigen, die wegen der Internetkonkurrenz im stationären Handel ihre Arbeitsplätze verlieren. Es sind auch diejenigen, die in der Internetwirtschaft einen Job finden. Oft werden sie schlecht bezahlt.

Wieder gilt: alles schon da gewesen. Wenn Menschen im Dienstleistungswesen zwischen Pizza-Botendienst und Amazon-Lagerarbeiten für Mini-Löhne schuften und keine Gewerkschaft ihnen hilft, so ist das die Anknüpfung an das Schicksal früherer Dienstboten. Auch die wurden mit mickriger Bezahlung abgespeist. Die Herrschaften waren wohlhabend. Die Diener blieben arm. Dienstleistungen wurden in Anspruch genommen, weil sie bezahlbar waren. Jetzt sind sie es wieder.

Die Internetwirtschaft bringt aber auch die Klagen ans Licht über hohen Leistungsdruck und niedrige Löhne etwa bei Amazon. Es wird berichtet über die Billigjobs bei Pizzadiensten. Schon geht das Wort vom Digitalfeudalismus um. Die moderne Online-Dienstleistung wird auf dem Buckel von Millionen Menschen ausgetragen, die wenig verdienen. Der Sozialwissenschaftler Philipp Staab vom Hamburger Institut für Sozialforschung spricht vom "Digitalprekariat", das einhergeht mit der Rückkehr des Dienstbotentums.

Wer im Eiltempo Pakete bringt, kann keine Gehaltsprünge machen

Diese Entwicklung wirft einen Schatten auf den Erfolg von Amazon und all der Zalandos oder Lieferandos. Das moderne Dienstbotentum kann die gewachsenen Bedürfnisse der Kunden nur erfüllen, weil diejenigen, die sie bedienen, mit wenig zufrieden sein müssen. Schon heute steht ein Fünftel aller Arbeitsplätze in Deutschland für einfache Dienstleistungen, vor allem in den Drei-S-Bereichen: Sorge, Säubern, Service, also bei Pflege und Reinigungsarbeiten sowie bei digitalen Dienstleistern, die oft nicht einmal den Mindestlohn von 8,50 Euro zahlen. Millionen Menschen müssen solche Arbeiten machen, weil sie schlecht ausgebildet sind.

Gleichzeitig tragen die digitalen Diener zur Verschönerung der Statistik bei. In den vergangenen zehn Jahren wurde die deutsche Arbeitslosenquote um fast die Hälfte auf etwa sechs Prozent gedrückt. Das ging einher mit Druck auf die Reallöhne. In den Sechzigerjahren stellte die Industrie noch 45 Prozent der Arbeitsplätze, die meist gut bezahlt waren. Heute sind zwei Drittel der Jobs im sogenannten Tertiären Sektor zu finden. Wer einen Beruf hat wie Investmentbanker, Unternehmensberater oder Anwalt kann mit Dienstleistung viel verdienen. Doch wer im Sauseschritt Pakete zustellen muss, kann mit dem Gehalt keine großen Sprünge machen.

Es ist nicht verwerflich, kreativ Neuland zu betreten

Ein Trost ist, dass die Armen ohne die Billigjobs beim Pizza- oder Gemüselieferservice möglicherweise gar keinen Job hätten. Allerdings sind die Chancen für die Menschen mit Service-Billigjobs, ihre Lage zu verbessern, gering. "Für die Mehrheit der Arbeitnehmer im Handel sehe ich eher Nachteile", sagt Sozialforscher Staab. Im Zeitalter des Cyberspace driftet die Gesellschaft auseinander. Die Kluft zwischen Armen und Reichen wird größer. Die schöne neue Welt der Internet-Wirtschaft birgt gefährlichen Zündstoff. Ihr Zusammenhalt ist gefährdet.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn es dem Einzelhandel gelänge, aus seiner verbreiteten Mutlosigkeit herauszufinden und der Macht der Online-Konzerne etwas entgegenzusetzen, was den Kunden nützt. Die heutigen Konsumenten haben andere Bedürfnisse als die Menschen früherer Jahrzehnte. Aber wer sagt, dass nur Riesen wie Amazon die Bedürfnisse der Menschen befriedigen können? Richtig ist, dass die Online-Lieferanten etwas bieten, was die Menschen gerne nutzen: Bequemlichkeit. Sie haben kreativ Neuland betreten und Bedürfnisse entdeckt, die zuvor nicht sichtbar waren. Das ist weder verwerflich, noch neu. Auch in anderen Branchen kommt es zu Verwerfungen, weil die Konkurrenz Neues bieten kann, auf das man selbst nicht gekommen ist. Das ist Wirtschaft. Nicht nur Internet-Ökonomie.

Auch der alte Carl Andreas Julius Bolle im Berlin des 19. Jahrhunderts musste sich zunächst damit abfinden, dass sein stationäres Milchgeschäft im wahrsten Sinne des Wortes enge Grenzen hatte. Aber er war innovativ und hat seinen Handlungs-Radius erweitert. Das Prinzip Bolle hat viele Jahrzehnte funktioniert.

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