Mittelschicht im Bundestagswahlkampf:Deutschland boomt, die Populisten profitieren

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Illustration: Sead Mujić (Foto: wiressay010417)

Die deutsche Politik ignoriert die Mittelschicht schon lange - gefährlich lange für die Demokratie.

Essay von Alexander Hagelüken

Die Bundesrepublik erlebte in den vergangenen Jahrzehnten ein bemerkenswertes Ausmaß an sozialem Frieden. Erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern waren selten. Davon profitierten beide Seiten. Die Unternehmer, weil sie ohne Störungen und Dauerstreiks ihren Geschäften nachgehen konnten. Und die Arbeitnehmer, weil sie das Gefühl hatten, dass ihr Wohlstand stetig wuchs. Doch in den vergangenen Jahren verloren mehr und mehr Arbeitnehmer dieses Gefühl. Es geriet etwas ins Rutschen.

Laut dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verdienen die unteren 40 Prozent der Deutschen heute real weniger als Mitte der 90er Jahre. 40 Prozent: Da kann es sich nicht nur um jene gesellschaftliche Gruppen handeln, bei denen Geld stets knapp ist. Da muss es sich um weite Teile der Mittelschicht handeln. 40 Prozent: Das demonstriert, wie unfair der Erfolg im Boomland Deutschland verteilt wird. Die Monate bis zur Bundestagswahl bieten die Chance, daran endlich etwas zu ändern. Bevor die Verärgerung der Stagnierenden die Demokratie angreift. Doch die etablierten Parteien drohen diese Chance zu vergeben. Durch Zaudern.

Das ist gerade mit Blick auf die Mittelschicht erstaunlich. Denn die bildet das Fundament der Nachkriegsgesellschaft. Sie finanziert die Sozialsysteme. Sie trägt einen Großteil der staatlichen Ausgaben für Schulen, Straßen und Sicherheit. Sie sorgte dafür, dass extreme Parteien in der Bundesrepublik nie den Anklang fanden, den die übrige Welt nach dem Jahrhundert-Horror der Nazis nicht verziehen hätte.

Die Mittelschicht ist nicht mehr die Mehrheit

Wer zur Mittelschicht gehört, wird unterschiedlich definiert. Die engere Definition reicht von jenen, die etwas weniger des mittleren Einkommens in Deutschland verdienen bis zu jenen, die eineinhalb Mal so viel verdienen. Für Singles heißt das: Etwa 1500 bis 2500 Euro netto im Monat. Für eine Familie mit zwei Kindern 3000 bis 5500 Euro im Monat. Da fallen Facharbeiter genauso drunter wie Lehrer, Sachbearbeiter und Ingenieure.

Die enger definierte Mittelschicht schrumpfte nach der Jahrtausendwende auf unter die Hälfte der Bevölkerung. Sie stellt also nicht mehr die Mehrheit wie lange Jahre, als sie das erklärte Sehnsuchtsziel der deutschen Bevölkerung war: Einmal zur Mittelschicht gehören, mit eigener Immobilie, Fernreisen in den Urlaub, Studium für die Kinder.

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Auch der Beschäftigungsrekord, der sich seit Mitte der Nullerjahre aufgebaut hat, ließ die Mittelschicht nicht wieder wachsen. Hurra, rufen die Gesundbeter, die Gruppe in der Mitte schrumpft seit zehn Jahren nicht mehr! Stimmt: Sie bleibt kleiner, als sie war. Das sind die Art Erfolge, mit der Wirtschaftsfunktionäre und Politiker das Problem kleinreden.

Die Angehörigen der Mittelschicht nehmen diese Verniedlichung nicht mehr hin. Sie wissen, was sie erleben. In den 80er und 90er Jahren nahm ihr Einkommen um etwa ein Fünftel zu. Seitdem stagniert es bei vielen. Globalisierung, technologischer Fortschritt und Lockerung des Arbeitsrechts haben zu einer Ausbreitung moderat bis mäßig bezahlter Dienstleistungsjobs geführt. Der Aufstieg gelingt schwerer als früher. Der finanzielle Abstieg umso leichter. Männer um die 50 verdienen heute vielfach nicht mehr, als es die Generationen vor ihnen taten. Und Männer unter 50 verdienen im Schnitt weniger. Das Versprechen von zunehmendem Wohlstand, das die Mittelschicht genauso zufriedenstellte wie potenzielle Aufsteiger - es ist gebrochen.

Der Aufstieg der Populisten geht mit dem Niedergang der Mittelschicht einher

Die politische Sprengwirkung lässt sich derzeit überall im Westen beobachten. Rechtspopulisten beuten es bei Wahlen aus, dass die großen Volksparteien sich mehr mit sich selbst beschäftigten als mit den Sorgen von Geringverdienern und Mittelschichtlern. Ob Donald Trump, die Propagandisten des Brexit oder die selbst ernannte Alternative für Deutschland: Der Aufstieg all dieser Personen und Gruppierungen geht einher mit dem Niedergang der Mittelschicht in praktisch allen Industriestaaten, analysiert der amerikanische Ökonom Branko Milanović. Das Drama ist, das Hexengebräu aus Protektionismus und Fremdenressentiments wird die Probleme nur vergrößern. Die der verführten Wähler genauso wie aller übrigen Bürger. Nach dem Sieg von Donald Trump und dem Brexit macht sich nun Marine Le Pen in Frankreich auf den Weg nach ganz oben. Von dort aus will sie die Europäische Union in die Luft sprengen, der Hunderte Millionen Menschen Dekaden des Friedens und der Prosperität verdanken.

In Deutschland haben die Volksparteien ein halbes Jahr bis zur Bundestagswahl die Gelegenheit, die ökonomischen Ursachen der Unzufriedenheit anzugehen. Dafür braucht es jeweils ein Gesamtprogramm - stark in den Einzelteilen, aber auch umfassend: Mehr Nettoeinkommen für breite Schichten, mehr Unterstützung für Familien, Aufstiegschancen, Perspektiven für die jüngere Generation. Wie sieht es damit aus?

SPD-Kandidat Martin Schulz lässt sich eines zubilligen: Er redet wenigstens engagiert über die "hart arbeitende Mitte". Damit verankert er das Thema Gerechtigkeit im Zentrum des Wahlkampfs, sehr zum Unwillen der Union - und erzeugt Spannung, wo der ewigen Kanzlerin ein ungefährdeter Sieg winkte, nach dem sie die Dinge weiter dem Schlechten hätte zutreiben lassen können.

Woran es Schulz mangelt, ist ein Gesamtkonzept. Ein Auto, dem die Deutschen zusteigen können, um in eine bessere Zukunft zu fahren. Hat er wenigstens Einzelteile, Motor, Sitze, Bremsen? Richtig liegt Schulz, wenn er das Gefühl vieler aufnimmt, wonach es ungerecht zugeht im Land. Die Einkommen von Unternehmern und Kapitalbesitzern stiegen seit der Jahrtausendwende vier Mal so stark wie die Löhne. Da erscheint es nicht nur billig, sondern recht, hohe Vermögen stärker heranzuziehen - und Unternehmen hohe Managergehälter nicht mehr voll von der Steuer absetzen zu lassen. Man darf gespannt sein, welcher Schulz-Rivale auf Marktplätzen argumentieren wird, Dax-Vorstände müssten unbedingt weiter 60 Mal so viel verdienen wie die anderen Mitarbeiter ihrer Firma.

Diese Schulz-Pläne gehen aber nicht als Motor für das Auto durch. Das gilt auch für den Vorschlag, Entlassenen länger Arbeitslosengeld zu zahlen: Zwiespältig, weil das Anreize zur Jobsuche vermindert, annehmbar, weil nur gezahlt werden soll, wenn jemand in dieser Zeit eine Qualifikation absolviert. Aber wer kontrolliert die Qualität dieser Maßnahmen?

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Schulz denkt in paternalistischer SPD-Tradition

Qualifikation und Bildung wären ganz zentrale Punkte, um die große Mehrheit der Bürger zu unterstützen. Einerseits wegen der Herausforderungen einer digitalisierten Berufswelt, andererseits wegen unfair verteilter Aufstiegschancen: Nur jedes vierte Arbeiterkind studiert, aber drei Viertel des Akademikernachwuchses. Hier liefert Schulz bisher nur Überschriften, wie die Ankündigung des gebührenfreien Wegs von der Kita bis an die Universität.

Martin fährt noch ohne Motor, falls das mal so salopp ausgedrückt werden darf. Das gilt insbesondere, als Kandidat Schulz mehr Nettoeinkommen für breite Schichten offenbar für nebensächlich hält. Zwar bastelt ein Parteibeauftragter an einem Konzept, wie Mittelschicht und Geringverdiener von Steuern und Abgaben entlastet werden können. Doch Schulz sieht das skeptisch. Er denkt offenbar in der paternalistischen SPD-Sozialtradition, wonach der Staat nur Gutes tut, wenn er den Bürgern etwas gibt - aber nicht, wenn er ihnen Steuern erspart, so dass sie mehr vom Einkommen übrig haben.

Die Union blockiert sich selbst, weil sie im Neoliberalismus verharrt

Damit liefert Schulz der Union einen Pass in den freien Raum. Sie müsste nur einen genau durchgerechneten, gut erklärten Plan vorlegen, wie sie die Mittelschicht entlastet. Dann würde jeder verstehen, dass von harter Arbeit künftig deutlich mehr übrig bleiben soll. Doch die Union ist uneinig. Finanzminister Wolfgang Schäuble will um 15 Milliarden Euro entlasten, andere um doppelt so viel - auf solche Unterschiede kommt es schon an. Die Union hat erkennbar das Problem, nicht zu wissen, wie sie eine spürbare Entlastung finanziert. Sie blockiert sich selbst, weil sie den Spitzensteuersatz nicht anheben will, wie es für Besserverdiener geboten wäre - und weil beispielsweise Firmen weiter steuerfrei an Erben fallen sollen. Dabei herrschen hier groteske Verhältnisse, die illustrieren, warum Deutschland so unfair geworden ist: In den vergangenen Jahren fielen 100 Kindern unter 14 Jahren Firmen im Milliardenwert in den Schoß, ohne dass für die Allgemeinheit ernsthaft etwas abgefallen wäre. Jedes Kind erbte im Schnitt 300 Millionen Euro.

Ja, Martin Schulz fährt noch ohne Motor. Die Union aber bekommt gar kein Auto gebaut, weil sie zu lange schon im Porsche der Besitzenden mitfährt.

Wo ihr einerseits die neoliberalen Gewohnheiten im Weg stehen, ist es andererseits der gesellschaftliche Konservativismus. Der brandneue Vorschlag, Familien mit Kindern durch spezielle Steuervorteile zu helfen, wird zu dürftig ausfallen. Weil die Union nicht bereit ist, Geld zu mobilisieren, in dem sie das Ehegattensplitting abschafft - das dem Familienbild der 50er Jahre folgt, wonach der größter Steuervorteil gewährt wird, wenn die Frau am Herd bleibt. Auch mehr Bildungschancen für mehr sozialen Aufstieg steht die Union am Ende im Weg. Denn für eine solche Reform dürften Schulkinder wie in den erfolgreicheren Bildungsnationen Skandinaviens frühestens mit 16 Jahren auf Gymnasium und die anderen Schulformen aufgeteilt werden - und nicht schon mit zehn Jahren wie bei uns, wodurch soziale Unterschiede zementiert werden.

Bildungschancen, steuerliche Entlastung, weniger Dumpingverträge am Arbeitsmarkt, Hilfen für Familien: Um die Mittelschicht in Deutschland zu stärken, bedarf es eines großen Gesamtplans. Man darf den Volksparteien zugute halten, dass sie ihr ganzes Wahlprogramm im Juni vorstellen wollen. Sie sollten das nur nicht als Ausrede benutzen, wieder mal Stückwerk vorzulegen. Sie sollten sich nicht durch die Umfragedelle der AfD in Sicherheit wiegen. Die Unzufriedenheit breiter Schichten baut sich auch in Deutschland seit Jahren auf. Ein weiterer halbgarer Wahlkampf, danach vier Jahre weiter so? Das ist eine gefährliche Illusion.

© SZ vom 01.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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