Samstagsessay:Bleibt bloß glaubwürdig!

Die Koalitions­verhandlungen haben noch gar nicht begonnen, schon können sich die potenziellen Partner CDU, FDP, Grüne und CSU vor taktischem Rat kaum retten. Dabei gibt es nur einen Punkt, der wirklich wichtig ist: dass sie sich treu bleiben.

Von Marc Beise

Deutschland hat, heißt es im Fußball, 80 Millionen Bundestrainer. So viele wie Einwohner, sozusagen. Jeder weiß genau, wie Jogi Löw die Nationalmannschaft aufzustellen hat, wer zum Zug kommen soll und wer nicht und welche Taktik angesagt ist. Politiker haben es insofern leichter, dass sich wesentlich weniger Bürger für ihr Geschäft interessieren als für den Fußball. Aber einige Millionen Hobby-Parteimanager kommen doch zusammen, und insbesondere vor und nach Wahlen finden sich - namentlich in den Medien, muss man selbstkritisch sagen - viele, manchmal arg selbstverliebte, Ratgeber.

Nach der Absage der Sozialdemokraten stehen die Zeichen bekanntlich auf "Jamaika", eine Koalition also der drei, nein der vier Parteien CDU, CSU, FDP und Grüne. Sie alle können sich seit zwei Wochen vor guten, gut gemeinten, schlechten und sogar bewusst böswilligen Ratschlägen kaum retten. Noch ehe die erste Verhandlungsrunde überhaupt stattgefunden hat, wird schon durchbuchstabiert, bei welchen Themen man sich wohl wird einigen können und bei welchen nicht, wo die Sollbruchstellen des breiten Bündnisses von links (Grüne) über FDP und CDU bis rechts (CSU) liegen.

Eilt die Regierungsbildung, oder soll man sich lieber Zeit lassen? Wird Angela Merkel besser moderieren oder dekretieren? Tut sie vielleicht besonders gut daran, bis zur eigenen programmatischen Unkenntlichkeit allen anderen Partnern ihren Willen zu lassen, und kann sie das Gewährte im Regierungsalltag wieder Stück für Stück einsammeln? Oder hat ihr Abschied sowieso schon begonnen, und wenn ja: wie lange dauert er? Muss ins Kabinett, wer ihr in der CDU nachfolgen will? Soll die FDP das Finanzministerium für sich beanspruchen oder gerade nicht, darf die Union es überhaupt hergeben? Wie formuliert man eine Obergrenze so, dass CSU und Grüne gleichermaßen damit zurecht- kommen? Und sind Digitalisierung und Bildung am Ende der Zauberkitt, der die Koalition zusammenhalten wird?

Eine Marke muss präzise und wiedererkennbar sein. Das gilt auch für Parteien

Viele Menschen machen sich über diese Art von Polittaktik ihre Gedanken, einige auch über die längerfristige Strategie, kaum jemand aber über Charakter von Parteien und Personal. Dabei ist für die Frage der Gründung und der Überlebensfähigkeit der Jamaika-Koalition nicht die einzelne Sachfrage entscheidend, nicht einmal die Summe derselben. Sondern es sind allein die großen Linien, die Grundüberzeugungen und der Identitätskern der jeweiligen Parteien, die am Ende eine solche Koalition zusammenhalten - oder eben nicht.

In der Betriebswirtschaftslehre ist die große Bedeutung einer Marke (englisch: Brand) mittlerweile weitgehend anerkannt, die Literatur dazu füllt Regale. Nach klassischem Verständnis genügte es noch, wenn der Hersteller eines Produkts anhand des Logos identifiziert werden konnte. Heute weiß man, dass eine erfolgreiche Marke so bekannt sein muss, dass man den Hersteller schon an den Eigenschaften seiner Produkte, auch an ihrem Image, zweifelsfrei zuordnen kann.

WIR

Illustration: Sead Mujic

Dabei geht es nicht nur um handgreifliche Produkte (Autos, Shampoos, Nudeln), sondern auch Dienstleistungen: Eine gute Unternehmensberatung oder Werbeagentur hat ihren Brand, ihre höchstpersönliche Note. Für die Marke tun kluge Unternehmen heute fast alles, sie hegen und pflegen sie. "Brand Protection" ist in vielen Unternehmen ein wichtiger Geschäftsbereich. Die Marke muss hell strahlen, sie muss präzise sein, sie muss für Mitarbeiter und Kunden gleichermaßen attraktiv sein und sie muss frei von Skandalen sein. Zugleich darf die Marke kein Lippenbekenntnis sein, alles Handeln im Unternehmen muss sich an ihr ausrichten.

Wenn das funktioniert, dann meistert das Unternehmen auch überraschende und vorhersehbare Krisen und Umbrüche, kann bei Bedarf seinen Kurs korrigieren und Mitarbeitern und Kunden einiges abverlangen. Wenn Marke und Mitarbeiter, Marke und Unternehmensführung, Marke und Kunde aber nicht zusammenpassen: Dann wird das Unternehmen auf Dauer keinen Erfolg haben.

In der Politik ist es nicht anders. Für die Parteien spielt in besonderer Weise eine Rolle, ob die Marke, die sie im Wahlkampf aufgebaut haben, in den Koalitionsverhandlungen und in den kommenden vier Jahren weitergepflegt und geschützt wird. Diese Regel nicht ausreichend beachtet zu haben, hat die FDP vor vier Jahren beinahe ihre Existenz gekostet. Im Wahlkampf 2009 hatten sich die Liberalen als Heilsbringer für die besser verdienende Mittelschicht geriert und hatten das unter anderem mit konkreten Versprechungen der Entlastung, beispielsweise im Steuerrecht, unterfüttert. In den Koalitionsverhandlungen aber verkaufte sich die Partei schlecht. Am Ende trug der Koalitionsvertrag alle möglichen Handschriften, aber nicht die der FDP, Parteichef Guido Westerwelle fand Gefallen am Außenamt. Ihn dorthin zu hieven aber, dafür hatte niemand die Partei gewählt; Markentreue war das gerade nicht.

Es ist kein Zufall, dass eben ausgerechnet die FDP eine so klare Marke aufgebaut hat - und das mit Erfolg. Jung, hip, digital, und zugeschnitten auf den fünftagebärtigen Christian Lindner, ob im Anzug oder im Unterhemd. Der 38-Jährige, mit dem man sich so wunderbar über David Hume, den Aufklärer, oder John Stuart Mill, den Vorkämpfer für Freiheit, unterhalten kann, wandelt allerdings auf einem schmalen Grat: einerseits nachdenklicher Bürger, andererseits lautsprecherischer Wahlkämpfer. Die Rolle kann er nicht beliebig häufig tauschen, wenn er glaubwürdig bleiben will.

Wenn nun in jeder Talkshow darüber diskutiert wird, ob Lindner Finanzminister werden soll, dann ist das weniger eine operative Frage. Braucht er das Amt, um auf "Augenhöhe" mit der Kanzlerin zu sein? Oder empfiehlt es sich, wenn immer die Kanzlerpartei auch den Finanzminister stellt? Und so weiter. Dabei geht es doch viel mehr um die Frage, ob der Mann, der den Spruch "Jetzt wieder verfügbar: Wirtschaftspolitik" hat plakatieren lassen und der getwittert hat "Deutschland braucht nicht einen neuen Finanzminister, sondern eine neue Finanzpolitik", sich in die Kabinettsdisziplin einbinden lässt und als Bundes-Kassenwart entsprechend taktiert und finessiert - und ob er die FDP-Programmatik im Parlament schärft.

Drei Thesen

Nach der Bundestagswahl

Die SPD mag nicht mehr regieren.

Vor den Sondierungsgesprächen

Die vier Jamaika-Parteien suchen ihre Rolle.

In den Koalitionsverhandlungen

Nicht auf die Details kommt es an, sondern auf die großen Linien.

Wie man es garantiert nicht machen darf, führt gerade die CSU vor. Sie hat sich im Wahlkampf argumentativ fürchterlich verhoben und ist dafür mit einem katastrophalen Wahlergebnis abgestraft worden. Erst (nicht nur in der Flüchtlingsfrage) scharfe Kritikerin der Kanzlerin von rechts, dann vollmundige Unterstützerin - diesen Kurswechsel hat Parteichef Horst Seehofer, der sich für den größten Volksversteher von allen hält, ausgerechnet der Wähler nicht abgenommen. Trotzdem macht er weiter wie bisher. Er hat seiner Partei ausgeredet, jetzt die Führungsfrage zu stellen und will, obschon stark beschädigt, für die CSU erst mit der CDU und dann auch mit den beiden anderen Parteien verhandeln.

Schöner könnte der Fall nicht fürs BWL-Handbuch skizziert werden: Sich mit einer lädierten Marke einfach so am Markt wieder erfolgreich positionieren zu wollen? Kann nicht funktionieren. Genau anders herum müsste es laufen: Erst die Führungsfrage klären, gegebenenfalls den Parteichef auswechseln, sich programmatisch entscheiden und dann in die Verhandlungen gehen. Deshalb hatte CSU-Altrecke Peter Gauweiler recht, als er Seehofer via SZ am Freitag zum Rücktritt aufgefordert hat ("Horst, es ist Zeit").

Für die Grünen wiederum hängt ihre Glaubwürdigkeit an der Umweltpolitik, übrigens auch an der Frage der sozialen Gerechtigkeit (mangels des Koalitionspartners SPD hat sie hier ein natürliches Gestaltungsfeld). Mit ihrer gelassen-gewitzten Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt hat die Partei dafür eine glaubwürdige, flügelübergreifende Protagonistin gefunden, die sich im Wahlkampf und danach weiter profiliert hat. Die Marke ist also bisher in sich stimmig; fragt sich nur, was eine 14-köpfige (!) Verhandlungsdelegation damit macht.

Der Koalitionsvertrag wird nicht allein über Wohl und Wehe der Regierung entscheiden

Am einfachsten hat es die CDU, ihr Programm war Angela Merkel, und die wird weiter im Amt sein. Man kann darüber spotten oder sich grämen, aber das inhaltlich Ungefähre ist ja gerade der Markenkern der Kanzlerin - und solange sie ihre Partei dominiert auch jener der CDU.

Natürlich werden in den Koalitionsverhandlungen konkrete Projekte besprochen, die dann voraussichtlich auch abgearbeitet werden. Die Grünen wollen mehr Umweltschutz, die FDP niedrigere Steuern, die CSU Regeln für die Zuwanderung, die CDU Ruhe an der außenpolitischen Front. (Dass das Dokument, das die Parteivorsitzenden am Ende feierlich unterzeichnen, nicht nur geduldiges Papier ist, hat in der abgewählten großen Koalition die SPD gezeigt: Zur Überraschung mancher Wirtschaftsvertreter hat sie, mit tätiger Unterstützung der CDU-Kanzlerin, beharrlich ein Wahlversprechen nach dem anderen in die Tat umgesetzt.) Und ja, die großen Zukunftsaufgaben der Bildung und der Digitalisierung sind eine Schnittmenge aller Parteien - wer will auch ernsthaft dagegen sein?

Ob aber die Koalition zustande kommt oder nicht, ob sie vier Jahre hält, wird sich nicht an den vielen konkreten Projekten entscheiden, die in zahlreichen (Nacht-)Sitzungen ausgefeilscht werden. Sondern am großen Ganzen. An der Frage, ob die Parteien selbstbewusst und zugleich gelassen bleiben können, weil sie programmatisch und charakterlich die große Mehrheit ihrer Mitglieder und Wähler weiterhin erreichen und von diesen getragen werden.

Im Grunde reichen einige grobe Striche: Die Grünen tragen ihre Programmatik im Namen. Die FDP steht für mehr Freiheit. Die CSU für Law and Order. Und die CDU für Beständigkeit. Wenn sich alle diese Punkte erkennbar im Koalitionsvertrag und im Regierungshandeln wiederfinden, und wenn auch die Personalfragen in dieser Hinsicht stimmig sind - dann wird die Regierung nicht scheitern. Sondern sogar erfolgreich sein gerade dann, wenn es gilt, auf neue Themen angemessen und einvernehmlich zu reagieren.

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