Samstags-Essay:Die Mär von der Null

Wolfgang Schäuble spart und spart, sein Etat ist dank der Schuldenbremse ausgeglichen. Sollen wir uns darüber freuen? Nein, eher nicht.

Von Guido Bohsem

Die Schuldenbremse ist eine Erfolgsgeschichte. Einerseits jedenfalls. Zuletzt konnte man das feststellen als Wolfgang Schäuble und sein Staatssekretär Werner Gatzer den Entwurf für den Bundeshaushalt 2016 und die Finanzplanung für die nächsten Jahre der Öffentlichkeit vorstellten.

In der Vergangenheit gerieten diese Pressekonferenzen häufig zu inquisitorischen Fragerunden. Auf der Anklagebank: der jeweilige Finanzminister, der schon wieder neue Schulden aufnehmen musste. Dort die Journalisten, die seine Begründungen - die Konjunktur, die sinkenden Steuereinnahmen - nicht akzeptieren wollten. Hans Eichel und seine Schulden wurden im Jahr 2002 Gegenstand eines erbitterten Wahlkampfes. Eichel hatte mit Mühe und Not einen blauen Brief, also eine Abmahnung der EU wegen zu hoher Neuverschuldung, verhindert. Ein Untersuchungsausschuss folgte.

Und heute? Heutzutage lautet die kniffligste Frage, die Schäuble vorgelegt bekommt, ob sein Zahlenwerk geeignet sei, die Gleichstellung der Geschlechter zu befördern. Keiner fragt nach Risiken des Finanzplans, keiner zweifelt die Zinsprognosen an, keiner die Entwicklung der Steuereinnahmen. Der ausgeglichene Haushalt gilt als Selbstverständlichkeit, seit die schwarze Null erstmals 2014 im Etat auftauchte.

Diese Entwicklung hat vor allem mit der Schuldenbremse zu tun, auf die sich Bund und Länder vor gut fünf Jahren verständigten. Sie ist so erfolgreich, dass die Lehren der politischen Ökonomie widerlegt zu sein scheinen, nach denen Politiker in Wahlkämpfen teure Versprechen machen und diese bei erfolgreicher Wahl ohne Rücksicht auf die Finanzlage umsetzen. Sparen ist angesagt. Es scheint so zu sein, als ob kein Politiker, außer vielleicht die von der Linken, mehr auf eine solche Ausgabenpolitik zu setzen wagt.

Bestärkt wird der Drang zu ausgeglichenen Haushalten durch die Bilder aus Griechenland: Rentner warten vor geschlossenen Banken, Tagesgeldrationen von 60 Euro werden verfügt, Milliardenkredite versickern im System. Diese Bilder stärken das Vertrauen in die Sparpolitik, machen die Schuldenbremse populärer denn je. Geht es den hoch verschuldeten Griechen nicht schlecht? Und geht es uns nicht gut mit unserer schwarzen Null? Solche Fragen dienen der Bestätigung der Schuldenbremse. Doch spricht vieles dafür, dass die Schuldenbremse zu erfolgreich ist. Ihr sagenhafter Erfolg verbietet es, die derzeit günstigen Bedingungen für Investitionen zu nutzen. Die Schuldenbremse führt dazu, dass Politiker immer abenteuerliche Wege wählen, um Vorhaben zu finanzieren. Und sie hat dazu geführt, dass die Beziehungen zwischen Bund und Ländern so schlecht sind wie selten zuvor und der Föderalismus in eine Krise geraten ist.

Die Bedingungen der Schuldenbremse sind leicht erklärt. Die Länder haben sich dazu verpflichtet, 2020 die schwarze Null zu erreichen und dann keinerlei neue Schulden mehr zu machen. Der Bund darf von 2016 an nur noch Kredite aufnehmen, die 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht übersteigen. Das wären derzeit gut zehn Milliarden Euro.

Dieses Geld könnte der Bund sich - wenn er denn wollte - zu unglaublich günstigen Konditionen am Kapitalmarkt leihen. Doch lässt der Bund diese Gelegenheit verstreichen. Er nutzt diese günstige Finanzierungsgelegenheit nicht, weil sich die Koalition unter dem Eindruck der Krise und beseelt von der Schuldenbremse auf eine Null-Verschuldung festgelegt hat. Dabei zahlte der Bund im vergangenen Jahr durchschnittlich nur 0,63 Prozent Zinsen für neue Kredite; denn auch in Zeiten der schwarzen Null muss er natürlich Geld aufnehmen, um auslaufende Schuldpapiere zu erneuern.

Drei Thesen

Das Ziel: Die Bundesregierung hat neue Schulden per Gesetz verboten

Das Problem: Der Staat kann sich wichtige Investitionen nicht mehr leisten

Die Folge: Die Politik trickst und lagert Ausgaben in Schattenetats aus

Es wäre zum Beispiel vernünftig, sich zusätzliches Geld für Investitionen zu leihen. Denn schon seit Langem ist klar, dass die Infrastruktur des Landes eine Generalüberholung benötigt. Um die Null zu schaffen, hat das Land stattdessen von seiner Substanz gelebt. Viele Autobahnbrücken sind baufällig, die Straßen voller Schlaglöcher, Wasserstraßen müssen saniert werden und Schleusen repariert. Viele Regionen in Deutschland sind digitales Entwicklungsgebiet, weil leistungsfähige Leitungen fehlen. Die nach dem DIW-Chef Marcel Fratzscher benannte Kommission beim Wirtschaftsministerium beziffert den Investitionsstau auf 90 Milliarden Euro pro Jahr.

Doch weil eine Verschuldung derart tabu ist, geht die Regierung andere Wege. Es soll eine Konstruktion ins Leben gerufen werden, die es privaten Kapitalgebern ermöglicht, sich etwa am Bau einer Autobahn zu beteiligen. Damit sich die Sache für die Firmen lohnt, wird der Bund ihnen dafür eine Rendite garantieren - und zwar deutlich mehr, als er den Käufern von Staatsanleihen bezahlen müsste. Im Klartext passiert also folgendes: Der Bund leiht sich an der Schuldenbremse vorbei Geld und muss dafür auch noch deutlich mehr bezahlen als am Kapitalmarkt.

Diese Schattenplanung ist kein Einzelfall. Immer offener werden Aufgaben, die aus Steuermitteln finanziert werden müssten, durch andere Mittel ersetzt. Im kürzlich beschlossenen Präventionsgesetz verdonnerte die Koalition die Krankenkassen zum Beispiel dazu, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) pro Jahr mit 32 Millionen Euro zu unterstützen. Auch die privaten Versicherer sollen ihren Beitrag zur Finanzierung der Kölner Behörde leisten.

Künftig wird also die Fachbehörde eines Bundesministeriums aus Beitragsgeld von Versicherten finanziert. Und das nicht zu knapp. Mit den neuen Mitteln steigt der Etat der Behörde eben mal um mehr als 50 Prozent. Mit dem Geld soll die Bundesbehörde das Gute im Menschen befördern und dafür sorgen, dass sie sich um ihre Gesundheit kümmern. Ein schöner Auftrag. Aber er gehört aus Steuergeld finanziert, nicht aus Beitragsgeld.

Doch sollen solche Ausgaben den Haushalt nicht belasten, die schwarze Null nicht gefährden. Sie werden daher aus anderen Geldtöpfen finanziert, aus denen der Krankenkassen oder der Rentenversicherung. Es versuchen also immer noch Politiker, mit teuren Wahlgeschenken Wählerstimmen zu kaufen, nur sucht sich die Finanzierung einen anderen Kanal. Gleich zu Beginn der Legislaturperiode leistete sich die Koalition die größte Umfinanzierung bislang. Die von der Union versprochene Mütterrente wurde nicht, wie es systematisch korrekt gewesen wäre, aus dem Bundesetat finanziert, sondern aus den Beiträgen der Rentenzahler.

Samstags-Essay: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Auch auf Landesebene ergeben sich durch die Schuldenbremse schlimme Auswüchse. Dazu muss man wissen, dass die meisten Ausgaben der Länder fix sind - sie gehen für Gehälter von Polizisten, Lehrern, für Pensionen, Sozialleistungen und Zinsen drauf. Muss ein Land sparen, geschieht das meistens bei den Investitionen. So zahlen die Bundesländer pro Jahr etwa sechs Milliarden Euro zu wenig an ihre Krankenhäuser, um Neubauten oder Renovierungen zu finanzieren und bringen diese damit in höchste Not.

Sie schließen aber auch keine Klinik, weil das großen öffentlichen Protest hervorrufen würde. Nein, sie setzen einfach darauf, dass die Kliniken die fehlenden Investitionsmittel aus dem laufenden Betrieb erwirtschaften. Und so kommt es, dass die Krankenhäuser immer mehr operieren und behandeln, während die Zahl der Pflegekräfte immer weiter sinkt. Leidtragende sind die Patienten.

Trotz ihrer Erfolge versagt also die Schuldenbremse - oder besser gesagt: versagt die Politik bei der Umsetzung der Schuldenbremse. Nun wäre es politisch unklug, ja, geradezu unmöglich, sie einfach wieder abzuschaffen. Das hieße, ein falsches Signal zu setzen angesichts der europäischen Schuldenkrise. Ein solcher Schritt würde zudem als Abkehr von der an sich richtigen Sparpolitik interpretiert. Um den unheimlichen Erfolg der Schuldenbremse jedoch in eine vernünftige Politik zu verwandeln, sind fünf Änderungen notwendig.

Erstens: Die Politik muss die Spielräume der Schuldenbremse ausnutzen. Die Konzentration alleine auf die schwarze Null führt in die Irre und sorgt für ein Spardiktat selbst dann, wenn es ökonomisch geboten ist, Schulden zu machen.

Zweitens: Es muss verstärkt Aufklärung betrieben werden, dass Schulden nicht per se schlecht sind. Sondern dass es sehr wohl vernünftig ist, sich für Investitionen zu verschulden. So profitieren künftige Generationen nicht nur von der besseren Infrastruktur oder einem höheren Bildungsniveau, sondern sie werden so teilweise auch an ihren Kosten beteiligt.

Drittens: Es darf nicht in Schattenfinanzierung ausgewichen werden. Wenn bestimmte Ausgaben wirklich notwendig sind, müssen die verantwortlichen Politiker die Wähler mit konkreten Entscheidungen konfrontieren. Das Ziel wäre eine klare Kommunikation nach dem Muster: Um das zu erreichen, wollen wir hier kürzen oder folgende Steuern erhöhen.

Viertens: Die Länder müssen mehr Möglichkeiten erhalten, ihre Haushalte selbst zu steuern. Dazu könnte der Bund ihnen zum Beispiel einen Teil seines Spielraums bei der Schuldenbremse übertragen - 0,15 Prozentpunkte zum Beispiel. Besser wäre es noch, wenn die Flexibilität im Etat der Länder statt über Schulden über Einnahmen erweitert werden könnte. Daher sollte man bei den Verhandlungen über den innerstaatlichen Finanzausgleich vereinbaren, dass sie in einem festgesetzten Rahmen selbst über die Höhe der Einkommensteuer entscheiden können, nach oben wie nach unten.

Fünftens: Die Struktur vor allem des Bundeshaushalts muss langfristig verändert werden. Derzeit nehmen Transferzahlungen den weitaus größten Anteil ein. Das heißt, ein absoluter Großteil der erwirtschafteten Einnahmen wird konsumiert. Das ist nicht zukunftsweisend, die Investitionen müssen dauerhaft wieder einen höheren Anteil gewinnen. Das geht auch ohne Kürzungen, jedoch braucht man politische Disziplin und einen langen Atem. Die Investitionen in den Etats müssen lediglich Jahr für Jahr stärker wachsen als die Sozialausgaben.

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