Europäische Identität:Warum die Griechenland-Krise so schwer zu lösen ist

Europäische Identität: Die Akropolis als Wahrzeichen Athens ist auch ein Symbol europäischer Demokratie.

Die Akropolis als Wahrzeichen Athens ist auch ein Symbol europäischer Demokratie.

(Foto: AFP)

Geld ist nicht das Problem.

Gastbeitrag von Dennis J. Snower

Die derzeitige Krise in der Euro-Zone hat einen Erguss angestauter Emotionen verursacht. Jeder, der sich an dieser leidenschaftlichen Debatte beteiligt, hat realisiert, dass wir so nicht weitermachen können und dass es an der Zeit ist, eine Entscheidung über die Zukunft der Europäischen Union zu treffen. Die Herausforderung dabei ist nicht, die effizienteste ökonomische oder überzeugendste politische Lösung zu finden, sondern eine neue Vision für die EU zu entwickeln - eine, die ihren Bewohnern eine neue Form von Sinn und Identität vermittelt.

Um die Identitätsbildung zu verstehen, braucht man eine interkulturelle Perspektive. Es gibt keine Werte und Normen, die für alle Gesellschaften geeignet sind - aber es lassen sich Umstände kreieren, in denen die Menschen die Welt in einem ausreichend gemeinsamen Licht sehen, um sich zu verbinden und ein gemeinsames Ziel zu erkennen. Als Amerikaner, der seit mehr als einem Jahrzehnt eines der bedeutendsten deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute leitet, konnte ich diverse europäische und amerikanische Kulturen von innen sehen. Daher kann ich nachvollziehen, warum amerikanische und europäische Ökonomen die Krise der Euro-Zone unterschiedlich bewerten.

Wenn der US- Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman sagt, die Vorgaben der Euro-Gruppe für Griechenland gingen "über Härte hinaus hin zu purer Rachsucht, kompletter Zerstörung nationaler Souveränität ohne Hoffnung auf Besserung", dann kommt er nicht aufgrund einer bewährten ökonomischen Theorie zu diesem Urteil. Wenn Joseph Stiglitz, ein weiterer US-Nobelpreisträger, sagt: "Was gezeigt wurde, ist ein Mangel an Solidarität durch Deutschland", ist das keine Implikation einer Analyse aus seinem Lehrbuch.

Wenn fünf führende Ökonomen - Thomas Piketty, Jeffrey Sachs, Dani Rodrick, Heiner Flassbeck und Simon Wren-Lewis - in einem offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel schreiben, dass "die griechische Regierung gerade gebeten wird, sich eine Pistole an den Kopf zu setzen und abzudrücken", rührt diese Wahrnehmung nicht von empirischer Analyse her. Vielmehr sind diese Aussagen Ausdruck von Gefühlen, die aus dem impliziten Verständnis von Identität entstanden sind.

Drei Thesen

Ökonomisch Durch den richtigen Mix von Maßnahmen ließe die Krise sich lösen

Politisch Die Lösung scheitert, weil Schuldner und Gläubiger einander misstrauen

Menschlich Die Europäer müssen mehr tun, um andere Nationen zu verstehen

Die Menschen empfinden sich eher einer Nation zugehörig als Europa

Amerikaner haben ein starkes Identitätsbewusstsein und nehmen an, dass es Europäern ähnlich gehen müsste. Daher sind amerikanische Kommentatoren offener gegenüber zwischenstaatlichen Transferzahlungen als Europäer. Die Amerikaner sind empört, wenn das Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone ernsthaft diskutiert wird, weil sie sich nicht vorstellen können, einen US-Bundesstaat so zu behandeln. Sie verstehen nicht, dass viele EU-Bürger die Bewohner anderer Staaten genauso sehen wie die Amerikaner ihre kanadischen oder mexikanischen Nachbarn. Die meisten würden Transferzahlungen an Kanada oder Mexiko nicht tolerieren und es auch nicht undenkbar finden, dass eines der Länder das Nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta verlässt.

US-Kommentatoren sehen den politischen Stillstand, den der Sparkurs in Griechenland verursacht, kritisch; sie zeigen aber Verständnis für den politischen Stillstand zwischen Demokraten und Republikanern, der die Ungleichheit zwischen Amerikanern manifestiert. Das Erste ist Verrat, Letzteres dagegen nur ein Familienstreit.

Viele Kommentatoren verstehen nicht, dass das wesentliche Problem der EU kein ökonomisches oder politisches ist, sondern ein soziales. Europas wirtschaftliche und politische Probleme sind nur ein Symptom einer viel größeren Herausforderung: der Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Zielbewusstseins.

Für sich alleine ließen sich die wirtschaftlichen und politischen Probleme der EU bewältigen. Die US-Ökonomen haben recht, dass die Sparpolitik die wirtschaftliche Depression in Griechenland verschlimmert hat. Die deutschen Ökonomen haben recht, wenn sie kontern, dass ein bedingungsloser Schuldenschnitt für Griechenland dazu führen würde, dass Korruption und Ineffizienz weiter bestehen und von den Gläubigern finanziert werden müssten. All diese Probleme könnten durch eine Kombination von antizyklischer Fiskalpolitik, Strukturreformen und Finanzregulierung in Verbindung mit einem teilweisen Altschuldenerlass gelöst werden.

Aber solche Vorschläge sind bisher nicht umgesetzt worden. Die Griechen bestanden auf Entlastung beim Sparprogramm, während sie bei strukturellen und finanziellen Reformen, die für eine erfolgreiche Zukunft notwendig wären, nachlässig blieben. Die Gläubiger in der Euro-Zone, angeführt von Deutschland, bestanden weiter auf Reformen, und blieben nachlässig im Hinblick auf eine Entlastung beim Sparprogramm. Das Ergebnis ist politischer Stillstand, bei dem Griechenland immer aggressivere Reformen auferlegt werden, deren Umsetzung allerdings alleine in der Hand der griechischen Politik liegt. So steht jede Seite schlechter da als vorher.

Die Euro-Debatte

Sparen oder nicht? Schuldenschnitt - ja oder nein? Prominente Ökonomen diskutieren in der SZ über die Krise in Griechenland und was daraus für Europas Zukunft folgt. Alle bisherigen Beiträge - von Marcel Fratzscher, Hans-Werner Sinn, James Galbraith, Mark Blyth oder Jeffrey Sachs - finden Sie unter: sz.de/szdebatte-griechenland

Es fehlt die gemeinsame Identität

Der Grund für die festgefahrene Situation ist die fehlende gemeinsame Identität innerhalb der EU. Das derzeitige Zugehörigkeitsgefühl der Europäer ist von nationalen Grenzen bestimmt, nicht von europäischen Institutionen. Da ist es nur verständlich, dass die Gläubigerländer nicht willens sind, unbegrenzte Transfers an Griechenland zu leisten, während viele Griechen Deutschland als boshaften Hegemon wahrnehmen.

Schuldner und Gläubiger vertrauen einander nicht. Misstrauen führt zum Scheitern von Kooperation und mündet oft in Konfrontation und Konflikt. Ein wesentlicher Grund für die Gründung der EU war es, solche Konflikte undenkbar zu machen. Es wäre eine Tragödie, wenn die derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu neuen Feindschaften führen würden.

Der einzige Ausweg ist, eine europäische Identität zu etablieren. Die EU muss ihren Mitgliedern eine inspirierendere, zukunftsgerichtetere Vision bieten als nur das Versprechen möglichen Wohlstands, basierend auf freien Märkten und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Identität entsteht nicht allein durch Freihandel in einem gemeinsamen Markt. Die Gesellschaft ist mehr als ein Marktplatz.

Was Europa braucht

Eine erfolgreiche Gesellschaft erzeugt ein Verständnis von sozialer Zugehörigkeit. Diese basiert auf zwischenmenschlichen Beziehungen und rührt von einem gemeinsamen Verständnis einer gemeinschaftlichen Vergangenheit und einer kollektiven Zukunft her. In der Menschheitsgeschichte entstanden Gesellschaften normalerweise aus dem Alltag heraus, weil die Menschen ortsgebunden waren. Eltern und Geburtsort bestimmten darüber, wo man leben und welche Sprache man sprechen würde, welchem Glauben man folgen und sogar, wen man heiraten und welchen Beruf man ausüben würde.

Doch die Welt hat sich dramatisch verändert. Die Menschen sind viel mobiler geworden im Hinblick auf Geografie, Beschäftigung und Status. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es ein weit verbreitetes Wiederaufleben ethnischer, religiöser und kultureller Identitäten, die eine breitere Vielfalt an Zugehörigkeiten innerhalb vieler Länder kreiert haben, auch in Europa.

Während wir immer weiter hinabsteigen in den Kreislauf von Konfrontationen und Schuldzuweisungen innerhalb Europas, wird immer klarer: Für die Europäische Union ist es an der Zeit, eine Vision zu entwickeln, die die europäischen Völker dazu bewegt, sich gegenseitig zu unterstützen - einem gemeinsamen Ziel zuliebe. Das bedeutet nicht, dass die nationalen, regionalen, religiösen und kulturellen Zugehörigkeiten aufgegeben werden. Vielmehr sollte die europäische Identität die vorhandenen Identitäten ergänzen.

Jeder Europäer sollte ein soziales Jahr in einem anderen EU-Land machen

Es gibt mehrere Wege, dieses Ziel zu erreichen - keiner von ihnen hat jedoch bislang viel öffentliche und politische Aufmerksamkeit erfahren. Eine Möglichkeit wäre ein Europäisches Soziales Jahr für alle Schulabgänger. Die Teilnehmer würden in einem anderen EU-Land bei Menschen leben, die einer anderen Kultur, Religion und sozialen Klasse angehören als sie selbst und dabei an gesellschaftlich relevanten Projekten arbeiten. Wer die Erfahrung macht, bei Menschen zu Gast zu sein, die anders sind als man selbst, kann einen anderen Ausblick auf Europa gewinnen.

Auch ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt - ohne rechtliche und regulatorische Beschränkungen, dafür aber mit Wettbewerb zwischen verschiedenen Systemen und Unterstützung bei der Bewältigung von kulturellen sowie Sprachbarrieren - würde einen wichtigen Impuls für die soziale Integration Europas geben. Schließlich nimmt man Gesellschaften ernster, in denen man eines Tages arbeiten wollen könnte.

Ein weiteres Beispiel wäre die Implementierung einer gemeinsamen Finanzpolitik. Derzeit gibt es zwar Richtlinien wie die Maastricht-Kriterien; diese sind aber nicht mehr glaubwürdig, nachdem schon viele Länder, darunter neben Griechenland auch Deutschland und Frankreich, dagegen verstoßen durften. Eine gemeinsame europäische Steuerbehörde und ein gemeinsames öffentliches Beschaffungswesen sowie die Implementierung von Fiskalregeln, die sich jede Regierung eines Mitgliedsstaates selbst auferlegt, würden ebenfalls dazu beitragen, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen.

Natürlich wird es Zeit brauchen, eine gemeinsame europäische Identität aufzubauen. Aber wenn die Europäer entsprechende Initiativen jetzt ins Rollen bringen, werden sie sich schnell in Richtung einer Zukunft bewegen, die sich von dem, wo sie jetzt festsitzen, stark unterscheidet. Die ersten Schimmer einer solchen Zukunft könnten schon ausreichen, um die Europäer toleranter miteinander werden zu lassen. Das würde dem europäischen Projekt neues Leben einhauchen. Es gibt keine bessere Zeit als jetzt, um damit anzufangen.

Dennis J. Snower, 64, Amerikaner, ist seit 2004 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.

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