Sammelklagen in der EU:Gemeinsam stärker

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Der Diesel-Skandal betrifft Millionen Autos in ganz Europa. (Foto: Jan Woitas / dpa)

Die EU-Kommission will Standards für Sammelklagen in allen Mitgliedstaaten. Aber hilft das gegen schummelnde Konzerne?

Von Thomas Kirchner und Kristiana Ludwig, Brüssel/Berlin

Die Abgas-Schummeleien von Volkswagen haben Grenzen überschritten. In Europa waren davon schätzungsweise acht Millionen Fahrzeuge betroffen. Eine Möglichkeit für deren Besitzer, sich gegen den deutschen Konzern zur Wehr zu setzen, gibt es aber nicht in der EU. In den USA können in solchen Fällen ohne Weiteres Schadenersatzbeträge in Milliardenhöhe erstritten werden. Das Instrument ist einfach und wirksam: die Sammelklage. Mit ihr können die Ansprüche einer ganzen Gruppe von Betroffenen durchgesetzt werden. Sie bündelt die Kräfte Einzelner, die alleine machtlos wären. Verbraucherverbände fordern seit Jahren ein solches Rechtsmittel für die EU.

Wie weit entfernt die Union davon noch ist, zeigte erst kürzlich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Klage von Max Schrems gegen Facebook. Die Richter untersagten dem Österreicher, die ihm abgetretenen Ansprüche von 25 000 weiteren Facebook-Benutzern gerichtlich durchzusetzen. Damit folgten sie der Ansicht des Generalanwalts, wonach es nicht Aufgabe der Gerichte sei, "mit einem Federstrich eine Sammelklage für Verbraucherangelegenheiten zu schaffen". Schrems sprach von einer "verpassten Chance", und Monique Goyens von der europäischen Verbraucherschutzorganisation Beuc rief wieder einmal nach einem "echten europäischen Kollektivklage-Instrument", das "die Machtbalance wieder zu Gunsten der Verbraucher korrigieren" würde.

Der EU fehlt die Kompetenz, um den Ländern juristische Vorgaben machen zu können

Die EU-Kommission werde sich kümmern, hat deren Präsident Jean-Claude Juncker versprochen und angedeutet, gegenüber der Industrie robuster auftreten zu wollen. Im April will Justizkommissarin Věra Jourová nun eine neue Gesetzgebung zu Kollektivklagen vorschlagen, als Teil eines Pakets zum Schutz von Verbrauchern. Der ganz große Wurf wird das nicht, was schon die Tatsache zeigt, dass nur die bestehende Richtlinie zu Unterlassungsklagen erweitert werden soll. Und klar ist auch: Ein "europäisches", also der Rechtsprechung des EuGH unterliegendes Klagerecht, das viele herbeisehnen, wird es nicht geben. Obwohl das angebracht wäre, schließlich agieren die Unternehmen in einem EU-weiten Binnenmarkt, ohne dass die Konsumenten ihnen entsprechend kraftvoll gegenüber treten können. Doch zu einem solchen Schritt fehlt der EU schlicht die Kompetenz. Denn auch wenn bald die Europäische Staatsanwaltschaft kommen wird, die sich in den teilnehmenden Staaten um finanzielle Schäden zu Lasten der EU kümmert, ist die Justiz noch immer weitgehend in nationaler Obhut.

Die Kommission wird daher nur eine Art Modell für Sammelklagen von Verbrauchern vorlegen, mit Standards, die die Mitgliedstaaten dann entsprechend ihren Rechtssystemen umsetzen müssten. Schon 2013 hatte die Behörde Empfehlungen veröffentlicht, denen die Staaten aber nur in geringem Maße folgten. Einem Kommissionsbericht zufolge führten Belgien und Lettland seither erstmals Kollektivklagerechte ein, Frankreich und Großbritannien reformierten ihr System. Italien, Belgien, Spanien oder Portugal haben ein sehr weitgehendes Recht, doch unterscheiden sich die Bedingungen erheblich, was etwa Klageberechtigte, Reichweite oder mögliche Schadenersatzsummen betrifft. Vielerorts sei die Sache so kompliziert und riskant, dass der Verbraucher nichts davon habe. In neun EU-Staaten existiert keinerlei entsprechendes Rechtsinstrument.

Im Detail stehen die neuen Vorschläge noch nicht, sie lassen sich nur in Umrissen erkennen. "Wir wollen ein System wie in den USA, aber ohne die dortigen Probleme", heißt es ehrgeizig in der Kommission. Soll heißen: keine " punitive damages", also überhöhte Schadenersatzsummen, die Firmen von vornherein in die Knie zwingen. Keine "Klage-Industrie", die vor allem Anwaltsfirmen glücklich machen würde. Die Honorare sollen keinen zusätzlichen Anreiz für Klagen schaffen. Klageberechtigt wären auch zugelassene Verbraucherschutzverbände. Allerdings müssten sich Einzelne einer Klage bewusst anschließen ("opt-in"), während etwa Beuc für ein Opt-out-Modell plädiert, das Gruppen von Anspruchsberechtigten automatisch umfasst. Organisationen aus dem EU-Ausland sollen bei entsprechender Betroffenheit anderswo klagen oder sich nationalen Klagen anschließen können.

Ermöglicht das nun eine effektive Sammelklage zum Beispiel gegen einen schummelnden Autokonzern? Darauf erhält man keine verbindliche Antwort von der Kommission. Offen ist auch, was das EU-Parlament und der Rat, also die Staatenvertretung, aus dem Vorschlag machen werden.

Deutschland zählt übrigens nicht zu den neun erwähnten Ländern ohne jeglichen kollektiven Rechtsschutz. Den gibt es nach Ansicht der Kommission ja immerhin für Anleger, die in Musterverfahren gegen falsche oder irreführende Kapitalmarktinformationen vorgehen können. Allein hierzulande wurde ein solcher Mechanismus jedoch nicht auf die Verbraucher erweitert. Das müsse sich ändern, sagt Hartmut Bäumer, Vizechef von Transparency International Deutschland. Dass Waffengleichheit herrsche zwischen Konsumenten und Herstellern, sei eine "Fiktion".

Und es soll sich ändern, wenn eine große Regierungskoalition zustande kommt. In den Verhandlungen haben sich Union und SPD auf eine "Musterfeststellungsklage" geeinigt, bei der Verbände im Namen von betrogenen Kunden gegen Unternehmen vor Gericht ziehen können. Voraussetzung wäre, dass sich mindestens zehn Betroffene am Verfahren beteiligen und sich weitere 50 Kunden in ein Klageregister eintragen. Das Urteil wäre dann für sie alle bindend. In einem Entwurf des Koalitionsvertrages planen Union und SPD, die Musterklage noch bis November einzuführen. Denn viele Klagen, die VW betreffen, könnten schon Ende dieses Jahres verjähren, sagt Jutta Gurkmann vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Bislang hatte die Union die Musterklage im Kabinett blockiert. Gegen einen Vorschlag von Justizminister Heiko Maas hatten auch Anwaltsverbänden und die Industrie Bedenken geäußert.

Die Pläne der EU-Kommission hält Gurkmann dagegen noch für vage. Eine reformierte Unterlassungsklage könne, je nach Ausgestaltung des Gesetzes, entweder geprellten Kunden zu einem Schadenersatz verhelfen - oder aber bei schwerwiegenden Vorfällen wie dem VW-Dieselskandal wirkungslos bleiben.

© SZ vom 07.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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