Rumänien vor dem geplanten EU-Beitritt:Das kleine China Europas

Die Wirtschaft in dem südosteuropäischen Land boomt, die niedrigen Löhne ziehen viele Firmen an - doch die Investoren ärgern sich über Korruption und Bürokratie.

Björn Finke

Wenn Violeta Reiter wissen will, wie es Rumänien geht, blättert sie nicht in der Zeitung, um Arbeitslosenzahlen oder Konjunkturdaten zu studieren. Wenn sie wissen will, wie es Rumänien geht, tritt die 33-Jährige mittags an die Tür ihres kleinen Restaurants und schaut heraus in den Biergarten, eine betonierte Fläche von der Größe eines Tennisplatzes, eingezwängt zwischen dem Haus und einer lärmenden Straße, auf der Laster Pferdekutschen waghalsig überholen. In der Mitte des Betongartens brutzeln auf einem Grill Variationen vom Lamm und Rind, auf den Holzbänken drumherum brutzeln Arbeiter in der Sonne. Mit viel Fleisch und viel Bier stärken sie sich für die zweite Tageshälfte.

Bukarest

Armut und Aufschwung liegen in Rumänien, wie hier in Bukarest, dicht beieinander.

(Foto: Foto: AP)

Heute geht es vorwärts in Rumänien, die Bänke sind voll; und da Erdtöne die beherrschenden Farben sind bei den Flecken auf Jogginganzügen und Latzhosen, arbeiten die meisten Besucher wohl auf dem Bau. Reiters Gaststätte liegt im Bukarester Vorort Pipera, zwischen einem Gewerbegebiet und einem schicken Wohnviertel, wo die Gewinner des rumänischen Wirtschaftswunders ihre Profite in Beton anlegen. In beiden Quartieren werden gerade zahlreiche Gebäude hochgezogen. Gut für die Gastronomin. "Die Bauarbeiter sind meine Stammkunden", sagt sie und lächelt.

In Rumänien weist nicht nur der Violeta-Reiter-Biergarten-Index nach oben - international stärker beachtete Daten zeigen ebenfalls, dass die Wirtschaft in dem südosteuropäischen Staat mit seinen 22 Millionen Einwohnern boomt. Das Bruttoinlandsprodukt, der Wert der hergestellten Güter und erbrachten Dienstleistungen, legt seit 2001 jährlich um mehr als fünf Prozent zu. In diesem Jahr erwartet die Bank Austria Creditanstalt ein Plus von 5,6 Prozent. 2005 betrug die Wirtschaftsleistung pro Kopf allerdings gerade mal 3660 Euro. Bei dem Wachstumstempo wären Jahrzehnte nötig, bis der Schwarzmeerstaat zum Durchschnitt der EU aufgeschlossen hat.

Diplomaten rechnen mit EU-Zusage

Dennoch herrscht Goldgräberstimmung in dem Land, zu dem so übel beleumundete Regionen wie die Walachei und Transsylvanien gehören. Befeuert wird die Euphorie auch vom EU-Beitritt zum Jahreswechsel. Die Union entscheidet im Oktober, ob der Staat reif für die Gemeinschaft ist oder ob die Erweiterung auf 2008 verschoben wird. Diplomaten rechnen aber mit einer Zusage. Und wie das so ist bei Goldräuschen, drängen Glückssucher aus der Fremde in die Gegend, um frühzeitig ihre Claims abzustecken: die Investoren aus dem Ausland. Doch nicht jeder Sucher findet sein Glück - Bürokratenwillkür und Korruption lassen manchen Rausch im Kater enden.

Trotzdem ist die Liste der Wagemutigen lang. Darauf stehen Unternehmen wie der österreichische Öl- und Gaskonzern OMV, der 2004 die staatliche Ölgesellschaft Petrom übernahm. Rumänien hat inzwischen nahezu alle seine ehemals volkseigenen Betriebe privatisiert. Oder Handelsfirmen wie die deutsche Metro, die schon 1996 in dem Land Großmärkte eröffnet hat. Oder Industrieunternehmen wie der Automobilzulieferer Kromberg & Schubert, der Möbelhersteller Baur Wohnfaszination und der Chiphersteller Infineon, die dort produzieren oder forschen lassen - was deutsche Arbeitnehmer mit Sorge beobachten. Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner Ifo-Instituts, befürchtet, dass der EU-Beitritt zu einer neuen Verlagerungswelle hiesiger Jobs führen wird. Im vergangenen Jahr investierten Ausländer laut Bank Austria Creditanstalt 5,2 Milliarden Euro netto in Rumänien; der Wert hat sich innerhalb von drei Jahren mehr als vervierfacht. Deutsche Firmen gehören zu den wichtigsten Kapitalgebern.

Das kleine China Europas

Auch Restaurant-Besitzerin Violeta Reiter zählt zu den deutschen Investoren. Die 33-jährige gebürtige Rumänin kehrte 2005 aus dem beschaulichen Tauberbischofsheim im Norden Baden-Württembergs nach Bukarest zurück, um teilzuhaben am Aufschwung. Und das, nachdem sie zwölf Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte, zwischenzeitlich verheiratet war und mittlerweile deutsche Staatsbürgerin ist. Doch die gelernte Chemielaborantin zieht das Leben in Rumänien mit all den Chancen und Risiken der wohlgeordneten Existenz im dauerdeprimierten Hartz-IV-Deutschland vor. "Meine Rückkehr hat niemand verstanden", sagt die zierliche Frau mit den dunkelbraunen Haaren und den blonden Strähnen. "Aber in Deutschland hätte ich nie so einfach als Selbstständige Erfolg haben können." In Bukarest herrsche dagegen Aufbruchstimmung.

Reiter hatte in Tauberbischofsheim zuletzt vertretungsweise eine Gaststätte geleitet. In Bukarest übernahm sie das Restaurant ihrer Eltern, zu dem ein kleiner Lebensmittel-Laden gehört. Insgesamt beschäftigt sie zwölf Mitarbeiter; der Betrieb laufe gut, erzählt die Chefin, sie genieße das Dasein als Unternehmerin. "Ich verdiene mehr als in Deutschland und kann mir die Zeit frei einteilen", sagt Reiter. Das Geschäft dehnt sie langsam aus. Im Winter, wenn die Bauarbeiter als Kunden wegfallen, lässt die Gastronomin den Firmen in den wuchernden Gewerbegebieten ringsherum das Mittagessen vorbeibringen.

Für die Heimkehr hat sie sich eine gute Zeit ausgesucht. Und die neunziger Jahre in Deutschland zu verbringen, war ebenfalls geschickt, denn dieses Jahrzehnt war für Rumänien ein verlorenes. Nach der Wende 1989 schrumpfte die Wirtschaft über Jahre, Regierungen verschleppten die nötigen Reformen. Erst seit dem Jahrtausendwechsel werden Verwaltung und Gesetze ernsthaft modernisiert und das Land an die EU herangeführt. Heimkehrer wie Reiter sind jedoch selten. Zwei Millionen Rumänen verdingen sich weiterhin als Gastarbeiter im Ausland, vor allem in Südeuropa.

Korrupt wie die Dominikanische Republik

Trotz mancher Fortschritte müssen Unternehmer in Rumänien immer noch hohe Hürden überwinden. Zum Beispiel die Bürokratie in Form schwer durchschaubarer Vorschriften und wenig hilfsbereiter Beamter. "Einige in der Verwaltung haben wohl das Gefühl, dass sie Gott sind", sagt Reiter. Nicht nur sie beklagt sich - in einer Umfrage der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer unter deutschen Investoren wurde die Verwaltung zum größten Standortnachteil gekürt. Ähnlich unzufrieden äußern sich die Chefs zum Thema Korruption. In der Weltrangliste der Organisation Transparency International nimmt der Staat am Schwarzen Meer nur Platz 84 ein und gilt damit als genauso korrupt wie die Dominikanische Republik. Immerhin: 2004 belegte Rumänien noch Rang 87. Auf Druck der EU werden Durchstechereien jetzt ernsthafter bekämpft; selbst gegen hochrangige Politiker wie den Ex-Premierminister Adrian Nastase laufen Ermittlungen.

Doch die Alltagskorruption bleibt ein Problem. Viele schlecht bezahlte Amtsträger spekulieren auf ein kleines Zubrot. Ab und an gebe es seltsame Häufungen von Kontrollen im Betrieb, etwa durch das Gesundheitsamt, klagt Violeta Reiter. Könnte schon sein, dass die Prüfer auf ein kostenloses Essen hofften, sagt sie. Aber dank des EU-Beitritts werde das Problem angegangen: "Die Lage hat sich spürbar verbessert." Eine weitere Schwierigkeit sei es inzwischen, gutes Personal zu finden, erzählt die Chefin. Sie hat zwei Monate gebraucht, um einen Koch einzustellen, der nun für 350 Euro im Monat am Herd steht.

Billig-Industrie schon weitergezogen

"In manchen Boomregionen werden Beschäftigte mit bestimmten Qualifikationen schon knapp", bestätigt Dirk Rütze, Generaldirektor der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer in Bukarest. Der Staat müsse die Ausbildung verbessern, denn simple Fließbandarbeit habe keine Zukunft: "Die Billig-Textilindustrie ist bereits weitergezogen in Länder mit niedrigeren Löhnen wie die Ukraine." In Euro umgerechnet seien die Gehälter in einem Jahr um ein Viertel gestiegen. Rumäniens Durchschnittslohn liegt aber laut Statistikamt immer noch bei kargen 315 Euro.

Damit bleibe der Staat ein attraktiver Produktionsstandort, etwa für Elektrotechnik-Firmen oder Automobilzulieferer, sagt der 54-Jährige. "Es gibt genug junge ehrgeizige Leute mit vergleichsweise guter Qualifikation. Das ist ein kleines China in Europa." Ein Ingenieur in der Hauptstadt bringe monatlich 500 bis 1000 Euro nach Hause und sei damit billiger als sein Kollege in Schanghai. Zudem führe der EU-Beitritt zu mehr Rechtssicherheit und weniger Zöllen. Auch als Absatzmarkt werde das Land reizvoller. Allerdings sollte man sich den Vertriebspartner gut aussuchen, rät Rütze: "Blauäugige Mittelständler haben mit unseriösen Partnern schon böse Überraschungen erlebt." Ganz wie im echten China.

Mit den billigen Ingenieuren hat der Münchner Halbleiter-Hersteller Infineon gute Erfahrungen gemacht. Im vergangenen September eröffnete der Konzern in Bukarest ein Entwicklungszentrum mit heute 100 Mitarbeitern, unweit von Reiters Restaurant. In einem klimatisierten Großraumbüro sitzen junge, meist männliche Ingenieure vor großen Computer-Monitoren und grübeln über neue elektronische Bauteile für die Automobilindustrie. "Das sind zusätzliche Forschungsstellen; es wurde nichts verlagert", beeilt sich Thomas Simonis zu versichern. Der deutsche Ingenieur leitet das Büro, zuvor hatte er ein Entwicklungszentrum im indischen Bangalore aufgebaut. "Wir haben uns in ganz Osteuropa umgeschaut", sagt er. "Rumänien war der beste Standort."

In Deutschland komme eine solche Einrichtung auf drei- bis viermal höhere Kosten, erläutert der Manager mit dem kurz gestutzten Vollbart. Auch die Steuertarife nennt er "durchaus interessant". Rumänien hat eine so genannte flat tax eingeführt, einen einheitlichen Einkommen- und Körperschaftsteuersatz von nur 16 Prozent. Allerdings sei es bei der Entscheidung für Rumänien nicht ums Sparen gegangen, sagt Simonis. Es gebe sehr wenige Ingenieure der gesuchten Fachrichtung in Deutschland, der Balkanstaat biete dem Konzern ein neues Reservoir an jungen Fachkräften.

Für die Chancen nimmt der Chef einige Mühen in Kauf - genau wie Gastronomin Reiter. "Mit der Bürokratie braucht man schon viel Geduld", bestätigt er. Und Mitarbeiter des Zolls ließen manchmal durchblicken, dass Waren schneller freigegeben würden, läge den komplizierten Formularen ein Geldschein bei. "Aber wir schmieren nicht", betont der Manager. Mit den ersten Monaten ist er zufrieden. In den nächsten drei Jahren will er die Zahl der Angestellten verdoppeln. Das freut nicht nur Bukarests Ingenieurnachwuchs, sondern auch Violeta Reiter. Immerhin wären das hundert weitere Kunden, denen sie das Mittagessen vorbeibringen kann.

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