Rote-Punkt-Aktion in Hannover:Solidarischer Schienenersatzverkehr

1969 beteiligten sich Zehntausende Hannoveraner an der Rote-Punkt-Aktion. Aus Protest gegen eine Preiserhöhung im ÖPNV organisierten sie ihren eigenen Nahverkehr. Das klappte hervorragend.

Von Lars Langenau

Steffen Stahr, 65, ist noch immer ganz aus dem Häuschen, wenn er an die Rote-Punkt-Aktion im Juni 1969 denkt. Der gebürtige Hannoveraner war nach dem Abitur in den bewegten Zeiten der außerparlamentarischen Opposition beim Bundesgrenzschutz gelandet - und erlebte damals, dass in seiner Heimatstadt über den Zeitraum von zehn Tagen keine Busse und keine Straßenbahnen mehr fuhren. Alles lahmgelegt. Und doch funktionierte alles reibungslos. An den verwaisten Haltestellen von Straßenbahnen und Bussen standen winkende Menschen, Privatautos mit einem roten Punkt in der Windschutzscheibe hielten und nahmen jeden mit.

"Das war keine singuläre Aktion von Linken", sagt Stahr, "das war eine solidarische Aktion, die von der breiten Bevölkerung getragen wurde." In Hannover ist die Rote-Punkt-Aktion eine urbane Legende: Bürger legen aus Protest gegen eine drastische Fahrpreiserhöhung den öffentlichen Nahverkehr lahm und organisieren selbst eine Alternative.

Von freiwilligen Helfern wohlgeordnet fuhren Menschen mit ihren privaten Pkws an die Haltestellen und nahmen bis zu fünf Personen mit in die Richtung, in die sie selbst fuhren. "Einer nach Linden", "zwei zur Messe", "drei nach Burgdorf", so funktionierte die Mitnahme von wildfremden Mitbürgern bis in die Stadtrandgebiete.

Fröhliches Happening

Selbst heute noch schwärmen viele Hannoveraner von diesem Akt der Solidarität. Zeitweise soll an jedem zweiten Auto ein roter Punkt geprangt haben. Zu Zeiten der Schüsse auf den Hannoveraner Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke war es ein fröhliches Happening, das abgesehen von ein paar zubetonierten Straßenbahnschienen ohne Aggressivität ablief.

Die Symbolwirkung der Aktion zwischen dem 7. und 18. Juni 1969 reichte weiter über Niedersachsens Hauptstadt hinaus, 1971 wurde etwa in Dortmund Ähnliches versucht.

Wer die Aktion erfunden hat, darüber gibt es mehrere Aussagen. Der im vergangenen Jahr verstorbene Kabarettist Dietrich Kittner beanspruchte die Idee ebenso für sich wie der Allgemeine Studentenausschuss (AStA). Es einte sie der Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung für die Sammelkarte von 50 auf 67 Pfennig - also um 33 Prozent. Zunächst behinderten 300 Demonstranten den Straßenbahnverkehr, dann 1000, und wenig später blockierten schon 5000 Menschen die Schienen.

Der AStA druckte Flugblätter mit dem roten Punkt auf weißem Papier, Tageszeitungen legten nach. Am 12. Juni stellte die Üstra den Verkehrsbetrieb komplett ein. Doch das Chaos blieb aus. Am 18. Juni 1969 wurde die Aktion beendet, da der Stadtrat einen preiswerten Einheitstarif von 50 Pfennig pro Fahrt einführte und den bis dahin privaten Verkehrsvertrieb Üstra kommunalisierte.

Heute gebe es ja so was nicht mehr, sagt Steffen Stahr. "Damals wurde ja auch noch getrampt, macht doch heute auch keiner mehr." Alles sei kommerziell. Nicht ganz: Seit der Streikdrohung nutzen Menschen Twitter: #twitfahrzentrale. Nur, dass das Happening dann im Auto stattfindet.

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