Report:Wende-Manöver

Wie das volkseigene Automobilwerk Eisenach zur Filiale von GM wurde. Der einstige Werksleiter Wolfram Liedtke und der Betriebsrat Harald Lieske erinnern sich an die Zeit im wilden Osten.

Von Thomas Fromm, Eisenach

Lieske und Liedtke, lange nicht gesehen, und ausgerechnet hier vor der Treppe unter dem Automuseum trifft man sich wieder. Da, wo es reingeht zu den alten Wartburg Motorwagen von 1899, zu Dixi R9 und BMW 321. Und Liedtke sagt: "Im Grunde wollten Lieske und ich immer das Gleiche." Lieske lächelt. Gut zu wissen, nach all den Jahren.

Harald Lieske war hier in Eisenach mal Betriebsrat, damals in den wilden Zeiten. Und Wolfram Liedtke, der andere, hat das Werk damals geleitet. Als hier noch Wartburgs gebaut wurden und auch noch, als alles abgewickelt wurde und Autos aus Eisenach dann Opel hießen. Lieske und Liedtke waren zur gleichen Zeit am gleichen Ort, wenn auch in unterschiedlichen Rollen.

Die erste Frage deshalb, klar: Wurden die beiden eigentlich oft verwechselt? Nur beim Namen, sagt Harald Lieske. Sonst eigentlich nicht.

Sonst kann man sie ja auch nicht verwechseln. Harald Lieske ist ein kleiner Mann mit wenigen Haaren und Schnurrbart und er trägt heute blaue Schuhe, diese glänzenden, ausgefallenen mit den großen Nähten. Wolfram Liedtke ist ein großer, hagerer Mann mit Brille und schwarzen Sommermokassins.

Natürlich lagen Betriebsrat und Chef auch mal über Kreuz, aber es ging in diesen Jahren ja nicht um Klassenkämpfe. Sondern um die Frage, was aus einem alten Autowerk und seinen 10 000 Arbeitern wird, dem Automobilwerk Eisenach, kurz AWE. Wie viel AWE man noch hinüberretten kann in die neue Zeit?

Der Arbeitnehmervertreter Harald Lieske wollte Arbeitsplätze retten. Und Liedtke die "traditionsreiche Automobilproduktion am Standort Eisenach erhalten", wie er heute sagt. Also suchte er nach Investoren, die mitmachten bei diesem Zukunftsding. Aus AWE wurden in anderthalb Jahren 32 Unternehmen mit fast 8000 Mitarbeitern - eines davon Opel. "Ich denke, das war außerordentlich bemerkenswert", sagt Liedtke heute.

Ein sozialistischer Autohersteller wird nicht jeden Tag abgewickelt, und dann ausgerechnet das: Aus Wartburg wird die Tochter eines amerikanischen Konzernkolosses. Ein Anhängsel von General Motors, tief im Osten. Und Männer wie Lieske und Liedtke waren Teil dieses sehr seltsamen Experiments. Aber was hätte man auch machen sollen. Die Mauer war offen und Eisenach nur ein paar Kilometer vom Westen entfernt. Der volkseigene Betrieb war teuer und produktionstechnisch nicht gerade auf dem neuesten Stand. Als Ost und West vor 25 Jahren zusammengingen, da war er sogar vollkommen aus der Zeit gefallen.

Viele Jahre später stehen Autos und Geschichte im Museum. Lieske und Liedtke stehen staunend vor den alten Wagen. War ja auch irgendwie ihre Zeit, was hier herumsteht. Liedtke wusste schon früh, wie das alles enden würde. 1987 war das, da stellte Liedtke, der junge Ingenieur, einem Mann namens Günter Mittag einen neuen Wartburg vor. Mittag war damals Mitglied des SED-Politbüros und für Wirtschaftsfragen zuständig. Und dieser Mittag sagte: "Neuer Wartburg? Wir haben kein Geld für so was. Was soll das?"

Montageband mit Wartburg Limousinen im VEB Automobilwerk Eisenach DDR Eisenach_511996

Autos aus Eisenach: Der DDR-Autohersteller baute seine viertürige Limousine Wartburg von 1956 bis zum 14. April 1991.

(Foto: Harald Lange/imago)

So war es also als Werksleiter in einem Autobetrieb zu arbeiten, wenn Planwirtschaftler und Apparatschiks alles bezahlten und dafür auch alles entscheiden durften. Autos aber leider für eine ziemlich dekadente und überflüssige Sache hielten und ihr Geld viel lieber in andere Dinge steckten. Chemie-Kombinate etwa.

Warten auf irgendwas: "Ich habe nie so viel gelesen wie als Schlosser in der DDR."

So einen Wartburg zu bauen, kostete an die 30 000 Mark. Der Verkauf brachte, wenn es hoch kam, 20 000 Mark ein. Das thüringische Vor-Wende-Autogeschäft war also eine Lizenz zum Geldverlieren und wer wissen will, was eine richtige Autokrise ist, der sollte sich mal die Bilanzen aus der Spätphase des real existierenden Auto-Sozialismus anschauen. 10 000 Mark Verlust pro Fahrzeug, das ist große Kunst. "Ich habe nie so viel gelesen wie in meiner Zeit als Schlosser in der DDR", sagt Lieske, der frühere Betriebsrat. Weil er auf Teile wartete. Auf Arbeit. Auf irgendwas.

Als dann die Autos aus dem Westen nach Osten rollten, kauften die Menschen Autos aus dem Westen, was denn sonst. Doch noch zu Beginn des Jahres 1990 glaubten die Eisenacher, sie könnten es aufnehmen mit den Opels und Volkswagen von drüben. Im Eisenacher Wartburg-Museum steht er, der von Günther Irmscher geliftete Wartburg 1.3. Ein tiefgelegter Wagen mit Spoilern am Heck und viel Design. Die Mischung aus neuem West-Schick und Kombinats-Reminiszenzen konnte nicht funktionieren, zumindest nicht gleich nach der Wende.

Was also tun mit so einem alten Autowerk? Erst mal mit denen sprechen, die schon mal hier waren: Die Bayerischen Motoren Werke BMW kamen Ende der Zwanzigerjahre zum Autobauen nach Thüringen. "Wir hätten damals auch mit BMW zusammengearbeitet, allein schon wegen der alten Verbindungen mit den Bayern - bis 1945 war AWE Eisenach ja BMW-Besitz. Aber die wollten nicht", erzählt Liedtke.

Mitsubishi schaute vorbei, dann begannen die Gespräche mit Leuten von Volkswagen. "Ich erinnere mich noch gut, wie die verliefen: Theoretisch wurde da schon alles in Thüringen gebaut: der Jetta, Golf, Passat. Praktisch aber war nichts dabei herausgekommen."

Es gab Menschen, die glaubten damals: Wenn VW nach Eisenach kommt, dann ist es vorbei mit der Autoproduktion dort. Ein Komponentenwerk vielleicht, aber kein Autowerk mehr. Unter Betriebsräten kursierten sogar Warnungen: "Verlasst euch ja nicht auf VW, die wollen euch verarschen." Der Trick wäre ja auch nicht ganz so neu gewesen: Man schnappt sich etwas, nicht weil man es braucht, und schon gar nicht, weil man Spaß daran hätte. Sondern nur, damit es kein anderer bekommt. Man schnappt es einfach nur weg vom Markt.

Workers are pictured next to an Opel Adam car during the start of the car production in Eisenach

Heute produziert die Adam Opel AG in Eisenach die Kleinwagen Corsa und Adam.

(Foto: Lisi Niesner/Reuters)

Deshalb am Ende also Opel.

Die Opelisierung von Eisenach kam schleichend. Im Frühjahr 1990 kamen Rüsselsheimer Emissäre in die Stadt, die Menschen vom Autowerk Eisenach (AWE) und Opel lernten sich kennen.

Wandel durch Annäherung.

Morgen kommt Kanzler Kohl: "Überlegt Euch schon mal vorher gut, was ihr da sagt."

Am 5. Oktober 1990 wurde eine gemeinsame Montagelinie für den Vectra eröffnet. Bundeskanzler Helmut Kohl kommt vorbei, klar: Denn wann sonst konnte man denn blühenden Landschaften so wunderbar beim Blühen zusehen wie in diesen Monaten in Eisenach? Am Abend vor der Kohl-Sause werden die Arbeiter zusammengerufen, die am nächsten Morgen kurz mit dem Kanzler plaudern dürfen. "Überlegt euch schon mal vorher gut, was ihr da sagt", hieß es. So ein spontaner Plausch an der Produktionslinie muss gut vorbereitet sein.

Liedtke sprach damals mit Treuhand-Chef Detlev Rohwedder. "Ich wollte die Produktion gerne weiterlaufen lassen, um die gut ausgebildete Belegschaft im Raum Eisenach dann bei einem Engagement von Opel übernehmen zu können."

Im Dezember 1990 unterschreiben Rohwedder und der damalige Opel-Chef Louis Hughes gemeinsam mit Vertretern aus Eisenach einen Grundstückskaufvertrag, ein paar Wochen später entscheidet die Treuhandanstalt: Schluss mit AWE. Am 9. September 1991 dann ist Richtfest für das neue Opel-Werk. Preis: eine Milliarde Mark. Das alte Eisenacher Werk wird abgewickelt, der Wartburg 1.3 als der letzte seiner Art gleich mit. Im September 1992 dann geht es los mit Astra und Corsa.

Jetzt ist Thüringen Opel-Land.

23 Jahre danach stehen die alten Vectras und Astras neben Wartburgs im Museum und wahrscheinlich hätte es auch keinen Unterschied gemacht, wenn man damals einfach weiter Wartburgs gebaut hätte. Man muss es heute leider so sagen: So sehr viel schlechter sahen die auch nicht aus.

Ein Automuseum ist überhaupt ein guter Ort, um zu sehen, wie sich die Kraftfahrzeuge über die Jahrzehnte entwickeln, während draußen Kaiserreich, Weimarer Republik, Weltkriege, Kalter Krieg und dann die Wiedervereinigung vorbeiziehen. Wie aus den Dixis zuerst BMWs werden und dann Wartburgs und schließlich Opel.

Vor langer Zeit, es war Ende des 19. Jahrhundert, da wirkte hier ein gewisser Heinrich Ehrhardt, ein gemütlich aussehender Mann mit einem dicken schwarzen, später weißen Vollbart, der den Glockenkorkenzieher mit Gewindespindel erfand, sich aber auch für Kanonenrohre, Geschützfahrzeuge und Munition aller Art interessierte und den späteren Konzern Rheinmetall mitgründete. Dieser Ehrhardt war am Ende vielleicht gar nicht so gemütlich, wie er aussah, denn es ging bei seinen Innovationen schließlich um Gerätschaften, die sich junge Deutsche und Franzosen ein paar Jahre später bis in die Schützengräben hinterherwarfen und sich dabei gegenseitig die Leiber zerfetzten. Aber es war ja nicht immer Krieg, und deshalb musste man sehen, dass man auch noch andere Dinge zustande brachte als Kriegsartikel. Autos zum Beispiel.

Report: Luis Hughes, damals Manager von General Motors und der frühere Betriebsleiter Wolfram Liedtke unterzeichnen 1990 den Vertrag für das Werk Eisenach.

Luis Hughes, damals Manager von General Motors und der frühere Betriebsleiter Wolfram Liedtke unterzeichnen 1990 den Vertrag für das Werk Eisenach.

So gründete Heinrich Ehrhardt im Jahr 1896 unterhalb der Wartburg eine Fahrzeugfabrik.

Fast hundert Jahre nachdem der Ingenieur Ehrhardt pflichtbewusst seine Großaufträge für Kriegsplaner abgearbeitet hatte und er sich zeitgleich immer mehr auch für Autos interessierte, wird Eisenach Anfang der Neunzigerjahre Schauplatz modernster Einstellungsprüfungen. So genannter "Idiotentests" für Bewerber, um die Idioten rechtzeitig zu identifizieren, weil ein Vorzeigewerk wie Opel Eisenach keine Idioten gebrauchen kann.

Diese Tests bestehen aus drei Stufen. Zuerst müssen die Probanden einen Turm aus Pappe bauen, dann gibt es eine Gruppendiskussion, dann schließlich Einzelgespräche über das Turmbauen und über die Gruppendiskussion. Opel und GM wollen wissen, ob die Bewerber teamfähig sind oder eher dominieren wollen.

Harald Lieske erinnert sich, dass Ostdeutsche und Westdeutsche beim Idiotentest noch längst nicht wiedervereinigt waren. "Rein westdeutsche Probanden-Gruppen haben erst mal sehr lange diskutiert. Die Ossis dagegen haben ein bisschen geredet, während einer von ihnen schon mal mit dem Turmbauen angefangen hat."

So mancher Manager, der Manager geworden ist, gerade weil er gerne andere dominiert, wäre hier wahrscheinlich schon aussortiert worden, lange bevor er Vorstand wurde. Aber wahrscheinlich haben viele dominante Topmanager niemals Papp-Türme in Eisenach bauen und hinterher darüber diskutieren müssen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Weil Eisenach das Vorzeigewerk von Opel in Europa wurde, sollten alle graue Hosen und weiße Hemden tragen, egal ob sie nun Angestellte oder Arbeiter waren. Wer täglich ein frisches weißes Hemd anhat, so die Idee, macht seinen Job besser als im Blaumann, achtet auf Qualität und macht sich auch nicht zwangsläufig dreckig. Die Angestellten, die immer besser angezogen waren als die Arbeiter, waren jetzt Teil dieser neuen schicken Einheitskluft. Ein "Kulturschock für die Büroleute" sei das gewesen, sagt Lieske.

Als dann alle gut angezogen waren, fing Opel an, den Toyota zu machen. Management-Grundsätze aus Japan waren damals sehr en vogue: Just-in-Time-Produktion, Null-Fehler-Produktion, die ständige Verbesserung von allem und jedem. "Kaizen" heißt diese seltsame japanische Mischung aus Industrie-Kapitalismus und Effizienz-Esoterik. "Auf einmal hatten wir mit all diesen japanischen Management-Begriffen zu tun", erinnert sich Lieske. Neu? Großer Kulturschock? Ach was. "Irgendwie kam uns das meiste bekannt vor: Kaizen, das Prinzip der ständigen Verbesserung, gab es doch bei uns auch schon, nur dass es da "Neuererwesen" hieß. Und Teamarbeit kannten wir auch schon, das war das Kollektiv." Im Grunde war Japan auch nicht so viel anders als Thüringen.

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In Bochum oder Rüsselsheim hätte man den Leuten mit japanischer Betriebswirtschaftslehre vielleicht gar nicht erst zu kommen brauchen, aber in Eisenach war ja, automobiltechnisch gesehen, wieder mal Stunde null. Ein ehemaliges Autowerk aus der ehemaligen DDR als Spielwiese für einen amerikanischen Konzern, der dort in weiß und grau gekleidete Arbeiter japanische Produktionsphilosophie einüben lässt. Darauf muss man kommen.

"Die Menschen am Band gleichen einer Ballettgruppe, die niemals identisch, aber immer im Takt und nach unsichtbarer Regie ihre Bewegungen ausführt", dichtete die FAZ damals und glaubte da ein "ästhetisches Gesamtkunstwerk" zu erkennen. Natürlich wurde das Fließband auch diesmal nicht abgeschafft, aber zumindest gab es jetzt - Kaizen! - ein kleines, produktionssteigerndes Tänzchen ums Band.

Wolfram Liedtke, der Chef, hatte schon vieles erlebt. Er musste mit Günter Mittag über Sinn und Unsinn von neuen Autos diskutieren und traf den Bundeskanzler beim Festakt. Jetzt kam der damalige Opel-Chef Louis Hughes bei ihm vorbei und frage: "Wie lange werden die Löhne hier im Osten eigentlich noch so niedrig bleiben?" Mr. Hughes hatte erkannt, dass es "ein politisches Signal mit langfristig wirtschaftlichen Vorteilen war", sagt Liedtke. Womit eines geklärt wäre: Aus reiner Menschenfreundlichkeit setzt keiner ein Autowerk in die Landschaft.

Werksschließung in Eisenach? "Das hätte weniger gekostet als an anderen Standorten."

Die Geschichte ging natürlich weiter. Opel schloss 2010 sein Werk in Antwerpen; in diesen Wochen wird das Bochumer Werk abgerissen - Relikte aus einer Zeit, in der der Konzern mehr Autos verkaufte. "Das waren natürlich schwierige Zeiten für uns, denn wir wussten ja, dass die Schließungskosten in Eisenach wegen der geringeren Betriebsdauer niedriger ausgefallen wären als in anderen Standorten", sagt Lieske. Aber Eisenach war moderner als andere Werke, das rettete die Region - wieder einmal. Heute werden hier der Adam und der Corsa gebaut, eine dritte Schicht wurde eingeführt. "Es gibt absolut keine Sorgen mehr in Eisenach", sagt Lieske. Okay, er ist jetzt 62 Jahre alt und in Rente.

Liedtke, der Werkschef von damals in Eisenach, ist jetzt 70 Jahre alt. Im August 1991 wechselte er nach Rüsselsheim und machte später bei General Motors und Jaguar/Land Rover Karriere. Auch Liedtke ist schon in Rente, aber im Moment ist er damit beschäftigt, die Londoner Taxi-Flotte von Benzinern auf Elektroautos umzustellen. Noch mal ganz was anderes.

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