Report:Stadt aus Stahl

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Pittsburgh war die Metropole der Schwerindustrie. Die Stadt hat sich erfolgreich neu erfunden - als das Zentrum der Erfinder. Ein Ortsbesuch bei 3D-Druckern, Drohnen und Robotern.

Von Kathrin Werner, Pittsburgh

Tug ist ein höflicher Roboter. Er sagt bitte und danke und erklärt stets, was er macht. "Warte auf die Weiterfahrt", sagt seine Computerstimme, wenn ihm jemand im Weg steht. "Bitte legen Sie ihren Finger auf das Lesegerät", sagt er, wenn jemand seine Schubladen öffnen möchte. Das graue Gerät surrt freundlich, wenn es im Schritttempo durch die Gänge rollt. Tug ist ein Roboter, der in Krankenhäusern Medikamente, Essen oder Wäsche von einem Stockwerk zum anderen oder vom Lager in die Schwesternzimmer transportiert.

Das Unternehmen Aethon aus Pittsburgh hat ihn erfunden - aus Pittsburgh, der einstigen Stadt des Stahls und der schmutzigen Schwerindustrie im Südwesten des Bundesstaates Pennsylvania. Bei Aethon gibt es keinen Stahl und keinen Schmutz, alles ist Hightech.

An der Wand hängen Monitore, die Updates von den Tugs aus der ganzen Welt liefern, einer surrt durch ein Spital in Deutschland. Tug braust blinkend durch die Kantine, Aldo Zini, der Chef des Mittelständlers, muss testen, welche Gegenstände den Roboter ausbremsen. Die beigefarbenen Linoleumflure sind blitzblank, junge Leute arbeiten an großen Computern. "Wir haben Mitarbeiter, die Angebote aus Boston und dem Silicon Valley bekommen, aber trotzdem bleiben", sagt Zini. "Pittsburgh ist nicht mehr wie sein Ruf. Hier gibt es Toptalente, Pittsburgh ist die Roboter-Hauptstadt der Welt."

Wirklich? Pittsburgh?

Mehr als ein Jahrhundert lang war die Stadt der Inbegriff für Aufstieg und Fall der amerikanischen Schwerindustrie. Pittsburgh war nicht Hightech, Pittsburgh war Lowtech: Hochöfen, speiende Schornsteine, Staublungen und Blicke aus hohlwangigen, rußverschmierten Gesichtern. Rust Belt nennen die Amerikaner die Region mit Pittsburgh im traurigen Zentrum.

Der Rostgürtel ist das Ruhrgebiet Amerikas, in dem einst das große Geld verdient wurde mit harter Arbeit, im Bergbau und in den Stahlschmieden. Sogar die Farben sind identisch: das Football-Team Pittsburgh Steelers spielt in Schwarz-Gelb wie Borussia Dortmund. Aus dem amerikanischen Ruhrgebiet kam der Stahl, mit dem der Bürgerkrieg und zwei Weltkriege gewonnen wurden und der Amerika zur größten Volkswirtschaft der Welt machte. Doch Pittsburgh erlebte einen beispiellosen Niedergang, als die Stahlindustrie zusammenbrach. Die Stadt verlor binnen weniger Jahre die Hälfte ihrer Einwohner. Die Arbeitslosigkeit lag 1983 bei mehr als 18 Prozent.

Aus der Stahlstadt wurde die Roststadt.

Wer heute nach Pittsburgh fährt, merkt davon nichts mehr. Jetzt ist die Luft über der Stadt mit den 446 Brücken frisch. Keine Schlote, kein Ruß, kein Rost in Sicht. Die Universitäten zählen zu den besten in den USA. Pittsburghs Wirtschaftsleistung ist in den Jahren 2001 bis 2014 von 89 Milliarden auf 124 Milliarden Dollar gestiegen, die Arbeitslosigkeit auf den nationalen Durchschnitt gesunken. Disney, Apple, Intel, Google, Microsoft und Uber haben hier Büros angesiedelt, meist mit Forschungsabteilung. Internationale Unternehmen eröffnen ihre US-Niederlassungen in Pittsburgh - auch 125 aus Deutschland.

Wie haben die das nur gemacht?

"Das sind gute Leute hier, bodenständig und sie bleiben einem Unternehmen treu."

"Es gibt sehr viele Parallelen zwischen dem Ruhrgebiet und der Region hier, Bochum und Pittsburgh haben viele Gemeinsamkeiten, zum Beispiel eine starke Arbeitsmoral", sagt Joe Peilert, der Nordamerika-Chef von Veka, dem Weltmarktführer für Kunststoff-Fensterrahmen aus Senden-horst in Nordrhein-Westfalen. "Das sind gute Leute hier, sie sind bodenständig und bleiben einem Unternehmen treu." Das Familienunternehmen ist seit 1983 hier in Pittsburgh, es hat gerade expandiert - auch wegen der Steuervorteile und staatlicher Zuschüsse.

Peilert verfolgt Pittsburghs Aufstieg seit Jahrzehnten. Sein Studienort Bochum hat sich nicht so schnell verändert. "Es gibt einen großen Mut zum Strukturwandel hier in Pittsburgh, die Stadt war in der Krise konsequenter als das Ruhrgebiet", sagt er. Als die Stahlindustrie starb, als die Arbeiter ihre Jobs verloren, hat niemand versucht, das Sterben zu verlangsamen. Bergbau-Subventionen wie in Deutschland gab es nicht. Es tat weh, aber es funktionierte. "Was man von Pittsburgh lernen kann, ist der Wille zu Veränderung und Strukturwandel", sagt Joe Peilert.

Nick Thompson, 54, hätte sich nicht träumen lassen, dass seine Stadt - und er selbst - mal zum Vorbild würden. Er schiebt Holzplatten in eine schwere, stählerne Bindemaschine. Es rumst, ein weißer Faden schnellt hervor, die fünf Sperrholzplatten sind aneinander geschnürt. Er riecht leicht angekokelt, Thompson hat das Holz gerade aus dem Laser-Schneider geholt. Die Hightech-Maschinen gehören nicht ihm, er arbeitet im Techshop, einer Werkstatt mitten in Pittsburgh, die für jeden offensteht, der einen Monatsbeitrag zahlt. "Das ist super für Gründer, man muss sich die teuren Geräte nicht selbst kaufen", sagt Thompson.

Techshop ist rund um die Uhr geöffnet, selbst noch nach Mitternacht tüfteln hier Startups und Heimwerker an ihren Ideen. "Build your Dreams here" steht in großen Lettern an der Wand. Es gibt 3D-Drucker, Nähmaschinen, Schweißgeräte, Computer mit neuester Designsoftware und eine Wasserstrahlschneidemaschine, die so stark ist, dass sie jedes Material durchtrennt. Auf dem Boden liegen Sägespäne, auf den Werkbänken stapeln sich Metallreste. Ein Jungunternehmer bastelt an einer kunstblutverschmierten Halloween-Maske.

Dick Zhang hat hier eine Drohne mit acht Rotorblättern entworfen, die er an Baufirmen vermietet. Sie liefert in Echtzeit Bilder von Baustellen und kann automatisch ihre Batterien wechseln. Den Prototyp hat Zhang im Techshop gebaut. "Das hätten wir sonst nie so schnell hinbekommen", sagt er. "Wir inspirieren uns hier gegenseitig, man kommt auf neue Ideen, wenn man andere Leute arbeiten sieht."

Techshop ist in das Gelände einer alten Industrie-Großbäckerei eingezogen, die 1998 dichtgemacht hat. "Sie hätten mal sehen sollen, wie das hier vor zehn Jahren aussah", sagt Thompson. "Nichts als eingeschlagene Fenster und Müll." Ein Finanzinvestor hat das Gelände nach Jahren des Verfalls aufgekauft, für 135 Millionen Dollar komplett renoviert und neu vermietet. Google hat das Pittsburgh-Büro in die schicken Hallen verlegt, eine alte Teigmischmaschine ist als Andenken geblieben.

"Die Stadt ist kaum wiederzuerkennen, so viele neue Gebäude und neue Leute wie es hier gibt", sagt Thompson. Er hat aus einer Geschenkidee für seinen Schwiegervater ein kleines Unternehmen aufgebaut, es heißt Puzzle Pax und baut hölzerne Tragekästchen für sechs Bierflaschen. Binnen eines Jahres hat er schon 6000 Stück verkauft - alle handgemacht im Techshop. Die Bindemaschine, die mit einem Knall einen Faden schlingt, hat Thompson in der alten Bäckerei gefunden, sie hat früher Tortenpakete verschnürt.

"Wir in Pittsburgh wissen, wie man alte Dinge nicht aufgibt sondern neu erfindet", sagt Thompson. Wer verstehen will, wie es Pittsburgh von der Roststadt zur Startup- und Hightech-Metropole geschafft hat, der muss mit Bill Flanagan sprechen. Er ist bei der gemeinnützigen Allegheny Conference on Community Development dafür zuständig, bei den Mitgliedsfirmen für gute Stimmung zu sorgen und neue Mitglieder anzuwerben.

"Es war furchtbar, die Selbstmordrate schnellte hoch, überall häusliche Gewalt."

Flanagan kam im Jahr 1982 als Radiojournalist nach Pittsburgh - gerade als der Niedergang begann - und er wurde zu einer Art Krisenreporter. Heute nennt man ihn "Mister Pittsburgh", weil er alles über die Stadt weiß und jeden kennt. Die Allegheny Conference, benannt nach einem der Flüsse, ist einer der Strippenzieher hinter Pittsburghs Neuerfindung.

"Es war furchtbar, die Selbstmordrate schnellte hoch, überall häusliche Gewalt, ein Haus nach dem anderen wurde zwangsversteigert", sagt Bill Flanagan über seine ersten Jahre in Pittsburgh. Zwischen 1980 und 1983 fielen fast 250 000 Jobs im Stahl und in verwandten Industrien weg. "Und statt etwas zu tun, haben alle gehofft, dass sich die Branche irgendwann erholt", erzählt er. "Erst als die Konzerne die Fabriken auseinandergebaut und als Altmetall verkauft haben, wurde allen klar, dass wir etwas tun müssen. Das war der Weckruf."

Die ersten Hightech-Initiativen des damaligen Bürgermeisters stießen auf Gegenwehr. Die Stahlarbeiter wollten Jobs, keine hochsubventionierten neuen Branchen, in denen für sie kein Platz war. "Und es stimmte, der Strukturwandel hat manche Leute leer ausgehen lassen", sagt Flanagan. "Wir haben noch immer eine große Ungleichheit zwischen Arm und Reich und gerade die afroamerikanische Bevölkerung hat vom Aufschwung kaum profitiert." Das zu ändern ist das neue Ziel der Allegheny Conference, der Vereinigung der Chefs der größten Unternehmen der Stadt.

Die Geschichte der Conference beginnt in den 40er-Jahren, damals hat sie ein Projekt für bessere Luft gestartet und Filter in Schornsteine einbauen lassen. In den 80er- und 90er-Jahren ging es um den Strukturwandel, die Konzernchefs schlossen sich mit Universitätspräsidenten, den Stiftungen der reichen Industriebarone, dem Bürgermeister und Politikern aus den Vororten und Pennsylvanias Regierung zusammen. "Der Schlüssel zu Pittsburghs Wiederbelebung war schlaue Politik", findet Matthew Stepp von der Information Technology and Innovation Foundation. "Ein starker politischer Schub war nötig, um alles zusammenzubringen und aus dem wirtschaftlichen Loch zu klettern."

Sie haben gemeinsam Geld für die Renovierung der Innenstadt und den Umbau der Fabriken aufgetrieben und Umschulungen finanziert. Sie haben Förderprogramme für junge Unternehmen ins Leben gerufen und ihnen Mentoren zur Seite gestellt. Größter Erfolg: bessere Zuschüsse für die Universitäten, vor allem für die zwei größten Unis Carnegie Mellon und University of Pittsburgh. "In den 90er-Jahren habe ich zum ersten Mal gedacht: wow, hier passiert jetzt richtig etwas", sagt Flanagan.

Die Universitäten gründeten erste Unternehmen aus, Carnegie Mellon konzentrierte sich auf Hightech, zum Beispiel auf Roboter, U Pitt war Spezialist für Pharma und Medizintechnik - hier wurde einst der Polio-Impfstoff erfunden. Die Experten der Unis gründeten oft Unternehmen, zogen Firmen an, die in ihrer Nähe sein wollten. Uber, die Fahrdienst-App aus San Francisco, hat gerade ein großes Büro in Pittsburgh eröffnet und der Carnegie Mellon Roboterabteilung wichtige Mitarbeiter abgeworben, darunter den Chef. Sie sollen selbstfahrende Autos entwickeln.

Pittsburgh hat sich neu erfunden als Stadt der Erfinder.

Das Startup Sole Power entwickelt eine Schuhsohle, welche die Energie der Schritte einsammelt und damit eine Handybatterie auflädt. Windstax verkauft turmförmige Windenergieanlagen für Gebiete, die zwar Wind bekommen aber nicht genug Platz haben für ein riesiges Windrad. 4Moms ist mit selbstentfaltenden Kinderwagen inzwischen so erfolgreich, dass das Unternehmen an einen Börsengang denkt. ALung baut eine Maschine, die das Blut von Lungenkranken vom CO₂ reinigt. Und dann ist da natürlich noch Tug, der höfliche Roboter für das Krankenhaus.

"Wir haben eine sehr aktive Gründer-Gemeinschaft", sagt Rich Lunak, der Chef der Startup-Schmiede Innovation Works, die mit Staatsgeldern gegründet wurde. Jeden Abend gibt es Events, bei denen die Leute sich treffen, Mentoren oder Investoren kennenlernen, sich um Frauenförderung oder die Vernetzung indisch-stämmiger Gründer kümmern. "Pittsburgh ist ein guter Ort für Entrepreneure, auch wenn es ums Geld geht", sagt Lunak. Manche Familienstiftungen steuern etwas bei für gute Ideen. Und inzwischen hat Pittsburgh auch bei Wagniskapitalgebern aus New York oder dem Silicon Valley einen guten Ruf: Sie haben im vergangenen Jahr 333 Millionen Dollar in junge Unternehmen gesteckt - damit zählt Pittsburgh zu den erfolgreichsten Städten.

"Für uns ist es eine große Leistung, dass wir jetzt Durchschnitt sind."

Die Menschen hier verdienen ihr Geld heute in den zahllosen Start-ups, in Krankenhäusern, bei Roboterbauern, Banken, Versicherungen und Internetfirmen. Zwei der 15 größten internationalen Anwaltskanzleien haben ihren Sitz in Pittsburgh. Aus der alten Zeit gibt es noch Spezial-Stahlhersteller und die Forschungsabteilung von US Steel in der Stadt, dem einstigen Weltmarktführer. Viele Mittelständler, darunter Veka aus Deutschland, haben die guten alten Industriearbeitskräfte angeheuert. "Pittsburgh ist keine Boomstadt, es ist ein schlechter Ort, wenn man schnell reich werden will", sagt Flanagan. "Wir sind solide, wir wachsen langsam und beständig. Für uns ist es eine große Leistung, dass wir jetzt Durchschnitt sind."

Wenn die Menschen am Mount Washington auf der anderen Flussseite von Downtown damals, in den Hochzeiten der Stahlindustrie, ihre Wäsche auf die Leine hängten, war sie nach ein paar Stunden schwarz vor Ruß. Heute siedeln sich am Mount Washington die schicksten Restaurants an. Die Häuser, die sich an den Berg schmiegen, zählen zu den teuersten der Stadt, und das Magazin USA Weekend hat den nächtlichen Blick auf die beleuchtete Stadt zum zweitschönsten Ort Amerikas gewählt - nach der roten Steinwüste in Arizona. Die Einwohnerzahl von Allegheny County, Pittsburghs Metropolregion, die von einem Höchststand von 1,6 Millionen im Jahr 1970 auf 1,2 Millionen im Jahr 2008 gefallen war, steigt wieder leicht.

Man sieht das Wachstum inzwischen auch an der Skyline. Die PNC Bank, fünftgrößtes Geldhaus der USA, hat sich gerade für 400 Millionen Dollar ein neues Hauptquartier in die Mitte von Downtown gesetzt. Das gläserne Hochhaus sei das grünste der Welt, sagt PNC-Immobilienchef Gary Saulson. "Architekten kommen von überall her, um es sich anzuschauen." Es hat eine eigene Öko-Kläranlage, energieeffiziente Wände und Fenster, die das Klima in den Büros automatisch regeln und schicke Fußböden aus recycelten Flaschen.

Vom Dach aus sieht man die Überbleibsel des alten Pittsburghs: Schornsteine, aus denen seit Langem kein Rauch mehr kommt, rotgeklinkerte Fabriken, nun zu hippen Büros hochsaniert. Und da hinten steht das alte Werk von Heinz, wo seit Jahren kein Ketchup mehr gemacht wird. Stattdessen gibt es kaum anderswo mehr energieeffiziente Gebäude. "Ist es nicht interessant", sagt Gary Saulson, "dass die grünsten Gebäude der Welt jetzt in der einst schmutzigsten Stadt des Landes stehen?"

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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