Report:Nichts ist gut

In der muslimischen Provinz Xinjiang gibt es praktisch keine Industrie, dafür gewaltige ethnische Konflikte. VW hat hier ein Werk gebaut, das ökonomischer Unsinn ist, aber von der Regierung gewünscht.

Von ChristoPH GIESEN, Ürümqi

Da steht er nun im Scheinwerferlicht und neben ihm eine Truppe von Musikstudenten: Till Brönner, der beste Trompeter der Welt. Der Schlagzeuger zählt ein, sie spielen "Basque in the Sun". 300 Leute sind es vielleicht im Publikum. Studenten und Professoren der Kunsthochschule, ein paar Volkswagen-Mitarbeiter und sehr wahrscheinlich auch einige Geheimdienstoffiziere. Karten für das Konzert gab es nicht zu kaufen, Werbung wurde auch keine gemacht. Und dennoch rangen sie bis kurz vor Schluss darum, ob die Aufführung überhaupt standfinden darf. Ein bisschen Jazz auf der Bühne einer Universitätsaula, hier in Ürümqi ist selbst das ein Politikum.

Bevor das Konzert losgeht, tritt ein Manager von Volkswagen ans Mikrofon. Gemeinsam mit dem Shanghaier Symphonieorchester organisiert der Konzern eine Konzertreihe in China. Den Auftakt machen sie in Ürümqi. Till Brönner ist für zwei Tage in der Stadt und gibt einen Workshop für die Big Band der Hochschule.

"Musik steht auch für Integration und Brückenbauen zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen", sagt der Volkswagen-Mann. "Menschen verschiedener Ethnien finden sich in einer großen Familie von Freunden wieder, so wie es auch in der Bevölkerung von Xinjiang, in dieser Schule und im hiesigen VW-Werk vorgelebt wird." Es ist die ganze Schizophrenie dieses Abends verpackt in nur einem einzigen Satz.

Nichts ist gut in Xinjiang.

Ürümqi oder Wulumuqi, wie die Chinesen die Stadt nennen, ist der Verwaltungssitz der Autonomen Region Xinjiang, tief im Westen des Landes. Kabul ist näher als Peking. Und so wie in der afghanischen Hauptstadt ist auch hier die Sicherheitslage enorm angespannt. Überall Polizisten, Kameras und Misstrauen.

Xinjiang ist die Heimat der Uiguren, eines muslimischen Turkvolks, dessen Sprache dem Türkischen sehr ähnlich ist. Auf dem Papier sind sie aber Chinesen. Im unerbittlichen Wettstreit um Geld und Arbeitsplätze haben sie oft das Nachsehen. Viele von ihnen sprechen nur schlecht Chinesisch. Und selbst wenn sie die Sprache können, stellt sie kaum jemand ein im Rest des Landes, ihre Bewerbungen werden meist aussortiert. Ahmed, Hassan oder Mustafa, so heißen keine Chinesen.

China high-speed railway construction

Anschluss von Xinjiang an die Volksrepublik: Hochgeschwindigkeitszüge verbinden Ürümqi, die Hauptstadt der Provinz der Uiguren, mit Lanzhou im Landesinneren am Gelben Fluss.

(Foto: Xinhua/Polaris/Studio X)

Der Unmut unter den neun Millionen Uiguren ist groß. Durch den Zuzug vieler Han-Chinesen sind sie nicht mehr in der Mehrheit in Xinjiang. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen. Im Juli 2009 starben bei Unruhen beinahe zweihundert Menschen, mehr als tausend wurden verletzt, etliche bei Messerattacken. In den Jahren danach kam es immer wieder zu Anschlägen an Bahnhöfen und in Regierungsgebäuden, einige wenige Uiguren sollen sich dem IS in Syrien angeschlossen haben.

Für die Regierung in Peking ist die Sache klar: Die Angriffe sind ausschließlich politisch motiviert und haben keinen sozialen Hintergrund. Terrorzellen aus dem Ausland seien die Drahtzieher. Die Konsequenz ist ein Polizeistaat, eine Überwachungsprovinz, wie man sie sonst nirgendwo auf der Welt findet.

Seit Ende August 2016 hat Xinjiang einen neuen Parteichef, Chen Quanguo, ein Law-and-Order-Mann, der zuvor in Tibet gedient hat. "Seitdem Chen das Sagen in Xinjiang hat, heuert der Staat wie verrückt neue Polizisten an", sagt Adrian Zenz. Er ist Dozent an der Akademie für Weltmission, einer christlichen Einrichtung in Korntal bei Stuttgart. Zenz hat Ethnologie in Cambridge studiert und für seine Doktorarbeit Feldforschung in der Provinz Qinghai betrieben. Damals ging es um die Lebensbedingungen von Tibetern, heute um Uiguren. Seine Recherchen macht er vorwiegend im Internet.

Zenz wertet Stellenausschreibungen aus, die auf staatlichen Websites veröffentlicht werden. 30 000 neue Polizeistellen alleine in den ersten vier Monaten von Chens Amtszeit hat Zenz entdeckt. Der Vorgänger hatte in den ersten acht Monaten etwa 900 Sicherheitskräfte gesucht.

Für 2017 hat Zenz weitere 70 000 Jobs ausgemacht. Dazu kommen noch Zehntausende private Sicherheitsleute, die Läden in der Stadt müssen nun Türsteher einstellen. Sie tragen rote Armbinden und Schlagstöcke. Die Wachleute sitzen bei McDonald's, genauso wie vor Supermärkten. Vor den Bars in Ürümqi stehen meist mehr Sicherheitskräfte, als sich drinnen Besucher einfinden. Fast alle fünfhundert Meter sind auf den Hauptverkehrsstraßen zudem Polizeistationen errichtet worden. Containerbauten, zwei-, manchmal gar dreistöckig. Uiguren, die nicht aus Ürümqi stammen, werden von den Behörden in ihre Heimatorte zurückgeschickt. Wer Freunde und Verwandte in der Stadt besucht, muss sich bei den Behörden anmelden.

Report: Gestern – ein Eselskarren rollt durch die Straßen von Ürümqi, das gehört noch immer zum Bild der Stadt.

Gestern – ein Eselskarren rollt durch die Straßen von Ürümqi, das gehört noch immer zum Bild der Stadt.

(Foto: Adler)

An acht Standorten fertigt Volkswagen in China. Die Volksrepublik ist der wichtigste Markt für das größte deutsche Unternehmen. Vier von zehn Autos setzt der Konzern in China ab, bei der Kernmarke VW ist es sogar jedes zweite. Seit 2013 betreibt Volkswagen auch in Ürümqi eine Fabrik. Entschieden wurde über das Werk zu einem Zeitpunkt, als die Lage in Xinjiang noch deutlich entspannter war.

"VW wurde vor die Wahl gestellt: Wollt ihr die Genehmigung für die anderen geplanten Werke, ja oder nein?", sagt Jochen Siebert von der Branchenberatung JSC Automotive in Shanghai. "Wenn ja, dann baut auch eines in Ürümqi."

Ein wenig außerhalb der Stadt liegt die Fabrik inmitten der kargen Landschaften. Auf dem Werksgelände wehen die deutsche und die chinesische Fahne. Am Tor stehen vier Wachleute, Fotos von außen haben sie nicht gerne. "Verschwinde!", ruft einer von ihnen herüber. Unweit der Fabrik hat die Staatssicherheit ein Büro.

Auf dem Basar für die Basare riecht es nach Männerschweiß

Wirtschaftlich notwendig ist das Werk wohl eher nicht. 50 000 Fahrzeuge rollen hier jährlich vom Band - nur ein Modell bauen sie hier, den neuen Santana, eine rein für den chinesischen Markt konzipierte Limousine. Der Export, etwa nach Zentralasien, ist nicht vorgesehen. In der Volksrepublik muss Volkswagen mit lokalen Herstellern zusammenarbeiten, das ist gesetzlich so vorgeschrieben. Der Umsatz wird dementsprechend geteilt. Zentralasien oder Pakistan beliefert Volkswagen daher lieber aus Werken, die dem Konzern vollständig gehören.

In den meisten VW-Fabriken in China werden mindestens sechsmal so viele Autos wie in Ürümqi hergestellt. Jedes Teil, jede Schraube wird extra aus Shanghai angeliefert. CKD-Sätze nennen sie das in der Autobranche. Wie ein Möbelstück von Ikea werden die Fahrzeuge zusammengefügt. Nur das Lackieren ist echte Wertschöpfung vor Ort.

CKD-Werke werden normalerweise errichtet, um Einfuhrzölle zu umgehen oder aber, wenn sich in einem Land noch keine nennenswerte Zulieferindustrie angesiedelt hat. Zollhemmnisse gibt es innerhalb Chinas nicht. Kein einziger namhafter ausländischer Zulieferer ist bisher mit nach Xinjiang gezogen.

CHINA VOLKSWAGEN VW

Heute – das Automodell Santana läuft vom Fließband im Volkswagen-Werk in Ürümqi.

(Foto: AP)

Für den Konzern ist das ein gewaltiger Spagat. Man will nicht die chinesische Regierung verprellen und dennoch im Kleinen Gutes tun. Das örtliche Management gibt sich dabei redlich Mühe. Ab und an reisen Fußballmannschaften auf Einladung aus Deutschland an und spielen gegen uigurische Teams. Umweltschutzseminare finden statt. Und nun ist ja auch Till Brönner da. Im Werk hat der Konzern zudem eine Minderheitenquote eingeführt. Von 670 Mitarbeitern sind 25 Prozent keine Han-Chinesen. Das entspricht der Zusammensetzung der Bevölkerung in Ürümqi. Im besten Fall haben also knapp 170 Uiguren einen festen Job.

"Nenn mich einfach Ali", sagt der junge Mann. Er ist vielleicht 25, sein richtiger Name, sagt er, tue nichts zur Sache. Er hat ein Bündel Dollar in der Hand und hält Ausschau nach Ausländern - seinen Kunden.

Ürümqi ist ein wichtiger Umschlagplatz für die Basare in ganz Zentralasien.

Händler aus Kirgisistan, Turkmenistan, Afghanistan, Kasachstan oder Usbekistan kaufen hier ein. Sie alle kommen in das weitläufige Areal, unweit der Kunsthochschule. Am Eingang prüfen Polizisten in Kampfmontur die Ausweise, alle Taschen werden geröntgt. Auf dem Hof stehen Lastwagen, gebückt vom Gewicht. Gabelstapler surren vorbei.

Kilometerlange Gänge durchziehen die kasernenartigen Gebäude. In nummerierten Verschlägen sitzen die Händler, die Käufer laufen von Türrahmen zu Türrahmen und verhandeln. Im Erdgeschoss sind die Schuhhändler. High Heels, Turnschuhe, Winterstiefel haben sie im Angebot, auch große Größen. Wer ein einzelnes Paar sucht, ist hier falsch. Mindestens ein-, zweihundert Schuhe sollte man schon mitnehmen. Im zweiten Stock wird mit Spielzeug und Babymode gehandelt. Auch ein Hotel gehört zu dem Komplex. Manche der Zimmer sind zu Büros umfunktioniert. Neben den Betten stehen Waagen für das Gepäck. Es riecht nach Männerschweiß. Man hört das Abreißen von Klebeband und osteuropäischen Techno.

A Uighur mother in her home. Remote Xinjiang

Vorgestern – das klassische Rollenmodell lebt: Die Frau hütet das Haus, der Mann geht zur Arbeit.

(Foto: Aurora/laif)

Ali hat sich selbst Russisch beigebracht, erzählt er. Usbekisch versteht er sowieso, das ist dem Uigurischen sehr nahe. Gerne würde er selbst in den Handel einsteigen, doch das sei schwierig, alles fest in chinesischer Hand. Und das Reisen, selbst Kontakte knüpfen? Ali winkt ab. Nur sehr wenige Uiguren haben überhaupt einen Reisepass. Und inzwischen nicht einmal mehr das, die Regierung hat alle Pässe einsammeln lassen. Stattdessen haben sie alle einen chinesischen Personalausweis, kreditkartengroß, weiß und aus Plastik. Ständig muss man ihn mitführen, ständig kann man kontrolliert werden. Wer ins Ausland fahren will, muss einen Antrag stellen. Wird der bewilligt, muss man nach der Rückkehr bei den Behörden haarklein Bericht erstatten, erzählt Ali. Wen hat man getroffen? Was wurde besprochen? Einfach alles. Was bleibt, ist das Übersetzen und ein wenig Geldtauschen.

"Aufgrund von Polizeiinformationen werden wir Ihr Handy deaktivieren."

Auf dem Papier wächst die Wirtschaft in Xinjiang, und das knapp zweistellig. In Wahrheit sei die Industrie in den vergangenen Jahren größtenteils aber geschrumpft, sagt Forscher Adrian Zenz. Volkswagen ist niemand gefolgt. Die Ölkonzerne, die in Xinjiang fördern, leiden unter den niedrigen Preisen am Weltmarkt, genauso die Rohstoffunternehmen, die Erze oder Kohle abbauen. Und die strengen Sicherheitsvorkehrungen schrecken potenzielle Investoren ab. In den vergangenen Jahren haben sich etwa die Reisezeiten in Xinjiang verdoppelt. Wer mit dem Überlandbus fährt, muss fast stündlich Checkpoints passieren. Das Wachstum wird von Staatsausgaben getrieben. 2011 lagen die Anlageinvestitionen in Xinjiang bei 463 Milliarden Yuan (etwa 60 Milliarden Euro). 2017 werden es rund 1,5 Billionen Yuan sein. Ein hochsubventioniertes Wachstum.

Seit einigen Jahren wird so in Xinjiang eine gewaltige Textilindustrie aufgebaut. Der Staat hat bereits festgelegt, wie viele Bauern in den kommenden Jahren in der Industrie unterkommen sollen. Der Plan bis 2019 sieht allein in den Präfekturen Kashgar und Hotan 100 000 neue Jobs vor.

Vor allem für die Bevölkerung im Süden bedeutet das, dass sie umgesiedelt werden müssen. In den Norden und Osten der Provinz. Eine echte Nachfrage gibt es für viele der Produkte in China nicht. Und für den Weltmarkt produzieren? Ungünstiger kann ein Standort kaum liegen. Keine Stadt der Welt ist so weit vom Meer entfernt wie Ürümqi. Egal in welche Himmelsrichtung man sich wendet, man muss einige Tausend Kilometer zurücklegen, um eine Küste zu erreichen.

Attraktiv ist Xinjiang derzeit vor allem für Firmen, die Sicherheitstechnik anbieten. Im Vergleich zu 2013 werden sich in diesem Jahr die Ausgaben für Software und Computer verfünffachen. Die Provinzregierung ist ein dankbarer Abnehmer. Mehrere Unternehmen aus Shanghai und Peking haben in den vergangenen drei Jahren Forschungs- und Entwicklungszentren in der Provinz angesiedelt. "Sie nutzen Xinjiang als Labor für Datenexperimente", sagt Adrian Zenz. Alles was technisch machbar ist, wird hier an Menschen ausprobiert. Überwachungsdrohnen, Gesichtserkennung, Spyware.

VW-Werk in China

Morgen – mit seinem Werk dringt VW vor auf schwieriges Terrain, wirtschaftlich und politisch.

(Foto: Stephan Scheuer/picture alliance/dpa)

An manchen Tankstellen bekommt man nur noch Benzin, wenn man vorher sein Gesicht hat einlesen lassen. Die chinesischen Ausweise sind allesamt biometrisch. Bei Straßenkontrollen überprüft die Polizei immer häufiger das Smartphone, die Daten werden gespeichert und eine App installiert, die automatisch feststellt, ob man verbotene Videos angesehen hat.

Wer einen verschlüsselten Messenger-dienst wie etwa Whatsapp auf sein Smartphone geladen hat oder per VPN-Tunnel versucht, die chinesische Firewall zu umgehen, der bekommt unter Umständen von seinem Anbieter in Xinjiang diese SMS geschickt: "Aufgrund von Polizeiinformationen werden wir Ihre Mobilfunknummer in den nächsten zwei Stunden deaktivieren." Entsperren kann das dann nur noch die Polizei. Undenkbar überall sonst in China.

Am Tag nach dem Konzert fliegt Till Brönner nach Peking. Die Trompete im Handgepäck. Sehr beeindruckt habe ihn diese Reise, sagt er. Für einen Museumsbesuch und eine Stadtrundfahrt hat die Zeit gereicht. "Wo früher eine Karawanserei war, ist jetzt Aufbruch und Moderne zu sehen. Irgendwo ist das verheerend", sagt er. Die Vorkenntnisse der Studenten seien nicht besonders groß gewesen. Aber das Interesse sei da.

"Es muss in die Köpfe investiert werden", sagt Till Brönner. Doch von wem? Während seines Workshops für die Big Band der Hochschule saßen die ganze Zeit staatliche Beobachter im Publikum. "Die sind aber recht schnell eingeschlafen."

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