Report:Im Sog des Wohlstands

Weil sie zu Hause kaum noch Jobs finden, arbeiten immer mehr Italiener jenseits der Grenze im Tessin. Die regierenden Rechtspopulisten dort versuchen, die Pendler zu bremsen.

Von Charlotte Theile, Chiasso

Um fünf Uhr morgens ist die Welt am südlichsten Punkt der Schweiz noch in Ordnung. Die Schlange der Autos, die von Italien in den Norden fahren, wird immer länger, kleine, knatternde Fiats schieben sich an den beiden Grenzwächtern in blauer Uniform vorbei. Jeder Fahrer wird aufmerksam gemustert. Fällt den Beamten etwas auf, ein neues Gesicht auf der Rückbank, ein Kennzeichen, das sie noch nie gesehen haben, heißt es: anhalten, Papiere vorlegen. Während die Namen durch die Datenbank laufen, werden SMS verschickt. "Mit dem neuen Wagen unterwegs, direkt angehalten worden. Sind in 10 Minuten da." Falls es länger dauere, habe man ein Formular für die Arbeitgeber, sagt Davide Bassi, Sprecher der Tessiner Grenzwache. "Wenn jemand zum Beispiel 45 Minuten hier warten muss, weil wir sein ganzes Auto kontrollieren, braucht er das."

Ein Grenzübergang mitten in Europa, 13 000 Fahrzeuge im täglichen Durchschnitt, allein in Chiasso, einem ruhigen Städtchen ganz im Süden der Schweiz. An diesem Montag im September sind es noch einmal deutlich mehr. Montags, sagt Bassi, kommen auch all jene, die werktags in der Schweiz wohnen und erst am Freitag zurückkehren.

Und während die Grenzen in der Umgebung offen sind, beschäftigen die restriktiven Kontrollen der Schweizer Grenzwache inzwischen auch die Europäische Union (EU). Immer wieder wurde der Schweiz vorgeworfen, sich nicht an das Schengen-Abkommen zu halten und die Grenzen zu scharf zu bewachen.

Er verdiene in der Schweiz dreimal so viel wie in Italien, erzählt ein Motorradfahrer

300 000 Grenzgänger arbeiteten im zweiten Quartal 2015 in der Schweiz, 70 000 von ihnen sind Italiener. Vor drei Jahren waren es noch 61 000. Jeder vierte Erwerbstätige im Kanton Tessin kommt aus dem südlichen Nachbarland, wo die Arbeitslosigkeit bei gut 12 Prozent liegt. Im Tessin betrug die Quote im August 3,4 Prozent. Seit Jahrzehnten sind die Grenzgänger das bestimmende Thema in dem kleinen Kanton, auch jetzt, vor den Nationalratswahlen im Oktober, wird mit ihnen Politik gemacht.

Die rechtspopulistische Lega dei Ticinesi ist mit 28 Prozent Wähleranteil stärkste Kraft in der Kantonsregierung. Die Grenze zu Italien ist ihr wichtigstes Thema.

Deutsche, Franzosen und Italiener kommen vor allem aus einem Grund zum Arbeiten in die Schweiz: "Ich verdiene hier dreimal so viel wie in Italien", sagt ein etwa 40-jähriger Motorradfahrer, während ein Beamter seine Personalien mit der Datenbank abgleicht. Für die 35 Kilometer, die er täglich bis zu seiner Fabrik in Bedano zurücklegt, einem kleinen Örtchen im Tessin, braucht er ungefähr eine Stunde. Das sei es wert. Er hat eine kleine Tochter und eine Frau, auch sie sucht inzwischen nach einer Stelle in der Schweiz. Der Motorradfahrer hat studiert, Ingenieurwesen. Er spricht englisch, französisch, italienisch, ein paar Worte deutsch. So bald wie möglich möchte er mit Frau und Kind ins Tessin ziehen. Nicht nur das Gehalt, auch die beruflichen Chancen seiner Tochter seien dort besser.

"Schauen Sie mal auf die Uhr", sagt Grenzwächter Davide Bassi. Kurz vor halb sieben. "Ganz früh am Morgen kommen diejenigen, die auf dem Bau arbeiten. Da sieht man kleine Autos, einige Fahrgemeinschaften. Jetzt ist das schon ganz anders." Bassi deutet auf die Fahrzeuge. Statt rostigen Kleinwagen rollen mittelgroße Kombis mit bunten Bildern an den Scheiben vorbei. Sponge Bob Schwammkopf, Mickey Mouse, die Simpsons, Kindersitze. "Da hat sich viel verändert in den letzten zwanzig Jahren", sagt Bassi. Früher seien die Italiener fast nur in einfachen Berufen beschäftigt gewesen, meistens auf Baustellen. "Sie haben diesen Kanton aufgebaut. Straßen, Gebäude, Brücken und so weiter." Dass sie nun auch in Banken, Versicherungen und Ingenieursbüros arbeiten, ist für Bassi eine normale Entwicklung.

Mit gerade 350 000 Einwohnern ist das Tessin eine Insel - der kleine italienischsprachige Kanton der Schweiz, der immer wieder vergessen wird. Hier gelten andere Regeln als im Rest der Schweiz. Erst im Juni hat eine Initiative das wieder gezeigt: 55 Prozent der Tessiner votierten für den von den Grünen vorgeschlagenen Mindestlohn - auf Bundesebene war ein ähnlicher Vorschlag 2014 gescheitert.

Die Jugendarbeitslosigkeit im Tessin ist verglichen mit Italien auf einem traumhaften Niveau

Auch an einer anderen Gesetzes-Änderung sind die Tessiner maßgeblich beteiligt. Als die Schweizer im Februar 2014 über die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative abstimmten, fiel das Ergebnis knapp aus: 50, 3 Prozent der Schweizer Bürger stimmten für eine Steuerung der Einwanderung mittels Kontingenten. Das Tessin, wo fast 70 Prozent "Ja" ankreuzten, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Seither verhandelt der Schweizer Bundesrat mit Brüssel, wie es das Votum seiner Bürger mit den bilateralen Verträgen in Einklang bringen könnte. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

SWITZERLAND BORDER CROSSING POINTS

Ein Beamter der Grenzwache kontrolliert am Grenzübergang zu Italien in Ponte Tresa, Kanton Tessin, Autofahrer, die in die Schweiz einreisen.

(Foto: Martin Ruetschi/dpa)

Die Angst, den Arbeitsplatz an junge, gut ausgebildete und günstige Ausländer zu verlieren, ist nicht auf das Tessin beschränkt. In der Schweiz gilt Kündigungsfreiheit, Arbeitnehmer können ohne Angabe von Gründen gekündigt werden. Gerade ältere Arbeitskräfte mit hohen Lohnansprüchen leiden darunter, auch in der Deutschschweiz und im französischsprachigen Westen des Landes.

Dennoch ist die Situation im Tessin eine andere: Zwischen der Schweiz und Italien ist das Lohngefälle besonders groß - und die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt umso deutlicher. Sowohl bei der Jugendarbeitslosigkeit, als auch bei der Zahl der sogenannten "working poor", die trotz Arbeit als arm gelten, gehört der Kanton Tessin im Landesvergleich zur Spitzengruppe - das verfügbare Einkommen eines Haushalts liegt deutlich unter dem schweizerischen Durchschnitt.

Hierfür die Grenzgänger verantwortlich zu machen, die im Durchschnitt etwa 1000 Franken im Monat weniger verdienen als ein einheimischer Arbeiter und noch immer einen Großteil der wenig attraktiven Arbeiten erledigen, ist einfach. "Unsere Wirtschaft braucht die Grenzgänger", sagt Davide Bassi. Ohne die Arbeitskräfte aus Italien müsste man Fabriken schließen und im Ausland produzieren. Das sagen viele Tessiner Firmenchefs ganz offen.

Auch Norman Gobbi, Tessiner Regierungspräsident und Mitglied der Lega dei Ticinesi, sagt, der Kanton brauche die Grenzgänger. Allerdings deutlich weniger als bisher: Die Zahl müsse "unter 40 000 sinken", findet der Politiker.

Am liebsten sieht Gobbi die Italiener offenbar in jenen Berufen, die sie seit Jahrzehnten im Tessin verrichten - als Bauarbeiter, Kellner, Putzkräfte. Ihm missfällt die "unfaire Konkurrenz", die Italiener den Schweizern in anderen Sektoren machten. "Heute arbeiten Italiener in Banken und Anwaltsbüros, sie kommen als Informatiker, Ingenieure und Treuhänder hierher", sagt Gobbi. Für die Tessiner, die "traditionell in diesen Berufen arbeiten" sei das eine unzumutbare Situation. "Unsere Jungen finden keine Arbeit mehr, unsere Älteren werden aussortiert", klagt Gobbi.

Außerdem machten die billigen Arbeitskräfte Druck auf die Löhne. Norman Gobbi sagt: "Wer an der ETH Zürich zum Ingenieur ausgebildet wurde, kann mit 6000 Franken Einstiegslohn rechnen. Wer dagegen in Mailand Ingenieurswissenschaft studiert hat, geht vielleicht mit 1200 Euro nach Hause."

Von so großen Unterschieden sprechen sonst nur wenige. Doch dass Italiener in der Schweiz zu Niedriglöhnen angestellt werden, dafür gibt es genug Beispiele.

Sie illustrieren auch, wie groß die Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz sind: Neun Franken (etwa 8,30 Euro) Stundenlohn für Hilfsarbeiter, 2000 Franken (etwa 1800 Euro) Monatslohn für Informatiker. Solche Schlagzeilen sorgen im Tessin für größte Aufregung. Denn klar ist auch: Wer so wenig verdient, kann kaum in der Schweiz leben.

Die rechtspopulistische Lega glaubt, der Tessiner Arbeitsmarkt brauche mehr Schutz, einheimische Arbeitskräfte müssten gegenüber Ausländern bevorzugt werden. Das ist rechtlich nicht so einfach, wie dem Regierungspräsidenten klar sein dürfte: Seit April verlangt der Kanton von Grenzgängern, die im Italienischen Frontalieri genannt werden, einen Strafregisterauszug - und hat damit eine diplomatische Krise ausgelöst.

Die "aus Sicherheitsgründen" getroffene Maßnahme sei nichts anderes als eine weitere Demütigung der italienischen Arbeiter, offene Diskriminierung und ein Verstoß gegen das zwischen der EU und der Schweiz vereinbarte Personenfreizügigkeitsabkommen, befand man im Außenministerium in Rom. Der Schweizer Botschafter wurde einbestellt.

Auch in Bern war man von der Tessiner Spezial-Maßnahme alles andere als begeistert - sie sei ein großes Hindernis in den Steuerverhandlungen mit Italien, hieß es aus dem Finanzministerium. Außerdem sei es ein Fakt, dass damit gegen internationale Verträge verstoßen werde. Doch obwohl die Regierung in Bern die Position Italiens zu stützen schien, stieß sie im Tessin nicht auf Gehör. Regierungspräsident Norman Gobbi erklärte, man werde an dem Strafregisterauszug festhalten. Erst nach monatelangen Verhandlungen gestand er kürzlich ein, die Praxis müsse möglicherweise anders gestaltet werden.

Die Auseinandersetzung zwischen Bern und Bellinzona sorgte für Schlagzeilen, an die sich die Schweizer inzwischen gewöhnt haben: "Südlichen Unmut besänftigen", "Tessin reagiert auf Druck", "Immer wieder Ärger mit dem Tessin."

Grenzwächter kontrollieren jeden Zug aus Italien nach Menschen ohne Papiere

Am Grenzübergang in Chiasso zeigt die Uhr fast halb acht. Firmenwagen, Limousinen, überdimensionierte SUVs rollen an dem Schild mit der Aufschrift "Frontalieri" vorbei, dazu Fahrradfahrer und Fußgänger auf dem Weg zum nahegelegenen Bahnhof.

Report: Gerade auf dem Bau sind Arbeitskräfte aus dem Ausland gefragt.

Gerade auf dem Bau sind Arbeitskräfte aus dem Ausland gefragt.

(Foto: imago)

"Segretario", Sekretärin, antworten fast alle Frauen, die zu Fuß die Grenze überqueren, auch Krankenschwestern und Buchhalterinnen sind darunter. Kaum eine ist älter als 35, alle haben es eilig. Der Weg zur Arbeit ist umständlich. Mit dem Bus zur Grenze, dann zu Fuß in die Schweiz, zum Bahnhof, zwanzig Minuten Zugfahrt, dann wieder ein Fußmarsch. Jeder, der die Grenze an diesem Tag überquert, scheint zwischen 25 und 40 Jahre alt zu sein. Nicht wenige sprechen akzentfrei englisch, jeder Dritte nutzt den Weg zum Bahnhof, um Telefonate zu erledigen.

"Natürlich sind es meistens die Jungen, die zu uns kommen", sagt Grenzwächter Bassi. Zum einen seien sie mobil und flexibel genug, um sich im Ausland zu bewerben und zu pendeln, zum anderen sei die Situation in Italien katastrophal. "Die Jugendarbeitslosigkeit dort beträgt mehr als 40 Prozent."

Im Tessin liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei knapp sechs Prozent. Im Schweizer Vergleich ein hoher Wert. Im Vergleich mit Italien: paradiesisch.

Dass die Tessiner sich lieber mit der Deutschschweiz vergleichen, ist klar. Man sei "diszipliniert und stur wie alle Schweizer", sagte Norman Gobbi Anfang der Woche in der Basler Zeitung.

Diese gestand den Tessinern in dem Artikel zwar zu, "in der Sache genauso pingelig und korrekt wie die Deutschschweizer" zu sein, allerdings erinnere dann doch einiges an Italien, fand das Blatt: Das Wasser im Büro von Norman Gobbi sei im Plastikbecher serviert worden, auf den Tischen habe sich "eine feine Staubschicht" befunden. Trotzdem: Die Basler Zeitung, an der Rechtspopulist Christoph Blocher aus Herrliberg bei Zürich beteiligt ist, sieht das Tessin als Vorbild für die Schweiz. "Selbst ist der Tessiner" schreiben die Basler mit Bewunderung. Gobbi und seine Mitstreiter wüssten sich wenigstens noch zu wehren, gegen die ständige Einmischung aus Brüssel und Bern.

Wer auf das Tessin blickt, sieht wie unter dem Brennglas, vor welchen Herausforderungen die Schweiz im Verhältnis zu Europa steht: Obwohl sich Sprache und Kultur auf den ersten Blick nicht wesentlich unterscheiden, bringen Währung, Preise und Lohn-Niveaus die Menschen auf beiden Seiten der Grenze auseinander. Die Schweiz wird immer mehr zur Insel der Wohlhabenden - und übt als solche gewaltige Sogwirkung aus. Gleichzeitig braucht das Land die ausländischen Arbeitskräfte - jung, gut ausgebildet, moderate Gehaltsvorstellungen - dringend. Abschottung ist keine Lösung, weder für das Tessin noch für den Rest der Schweiz. Und: Schon geringfügige Veränderungen haben in der kleinen Schweiz große Wirkung.

Am Grenzübergang zwischen der italienischen Stadt Como und Chiasso gibt es an diesem Morgen auch einige, die versuchen möglichst ungesehen über die Grenze zu kommen. Immer wieder halten die Grenzwächter weiße Lieferwagen mit abgedunkelten Scheiben an. Schmuggler, Dealer und Menschenhändler herauszufischen, ist das Ziel der Grenzbeamten. "Dadurch, dass die Grenzwächter jeden Morgen hier stehen, kennen sie die Gesichter und Fahrzeuge der Pendler sehr gut - falls etwas anders ist, fällt ihnen das auf", sagt Davide Bassi.

Wenn ein Wagen angehalten wird, hält er sich möglichst fern: "Falls sie tatsächlich etwas zu verbergen haben, sind diese Leute nervös und unberechenbar. Deshalb sollte man ihnen nicht zu nah kommen."

An diesem Morgen sind es nicht wenige Autos mit Kennzeichen vom Balkan, die angehalten werden. Obwohl die Schweiz für 2015 nur mit etwa 30 000 Asylbewerbern rechnet, sind es auch hier mehr geworden, jeden Monat sollen etwa 1800 Flüchtlinge über Italien in die Schweiz kommen. "Personen ohne Papiere oder mit gefälschten Dokumenten greifen wir jeden Tag auf", sagt Bassi, die meisten davon am Bahnhof. Wer von Italien in Richtung Norden fährt, sollte in Chiasso einige Minuten Wartezeit einplanen: Die Grenzwächter kontrollieren jeden Zug nach Reisenden ohne Papiere. Gruppen von Eritreern und Somaliern warten an diesem Morgen auf dem Bahnsteig. Auch bei diesem Thema wird das Tessin von Rechtspopulisten als Paradebeispiel verwendet.

Es ist halb neun, die Sonne scheint. In Chiasso passiert etwas Ungewöhnliches. Ein Fiat Panda mit Tessiner Kennzeichen fährt langsam davon, in Richtung Italien.

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