Report:FKK und FDGB

Zu DDR-Zeiten werden verdiente Werktätige in Ferienheime verschickt. Heute hat sich einiges verändert.

Von Michael Kuntz, Seebad Heringsdorf/Großräschen

Es gibt sie noch, die Soljanka. Kommen Schtschi, also Kraut und saure Sahne, und Rassolnik, also Salzgurken und Gurkenbrühe, zusammen, entsteht diese säuerlich-scharfe Suppe der osteuropäischen Küche, die den Duft der DDR fast so sehr ausmachte wie das berühmte Wofasept, das intensive Desinfektionsmittel aus dem Chemiekombinat Bitterfeld. Hier, im Restaurant auf der Seebrücke Ahlbeck im Ostsee-Bad Heringsdorf riecht es zwar nicht mehr nach Wofasept, die Soljanka aber steht im Sommer 2015 noch auf der Speisekarte, der Teller kostet 5,50 Euro.

Ein Stück Ostalgie an der Ostsee lebt noch 25 Jahre nach der Wirtschafts- und Währungsunion.

Die Seebrücke Ahlbeck im Nordosten der Insel Usedom steht für eine neue touristische Welt voller Gegensätze zwischen Fertigem und Unfertigem. Wer den 280 Meter langen Steg zurück zur Strandpromenade schlendert, der läuft genau zu auf den Bauzaun einer Immobilie, an der sich schon diverse Investoren versucht haben. Ein Makel in der Häuserfront aus lauter mehr oder weniger liebevoll historisierten Gebäuden, die daran erinnern, wie prachtvoll es früher einmal hier ausgesehen haben mag: Wo einst Kaiser Wilhelm II. badete, wo später DDR-Bürger sich vom Arbeiteralltag erholten, wo dann keiner mehr hinwollte und nun eine Mischung aus Aufbruchstimmung und Ostalgie herrscht.

Nur ein paar Schritte entfernt von der Seebrücke hat in einem der hergerichteten Häuser ein Mann sein Büro, der den Tourismus der Insel prägt und den die Jury der führenden Fachzeitschrift zum Hotelier des Jahres 2015 gewählt hat. Rolf Seelige-Steinhoff, 51, skizziert im Ostseehotel auf einem Notizblock seine Seetel-Gruppe. Zu der gehören 16 Hotels, Appartement-Häuser, Villen und Restaurants. Ein Hotel liegt auf Mallorca. Alle anderen Objekte stehen auf Usedom. Hier ist die Seetel-Gruppe mit 415 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber. Bald sollen 200 Angestellte hinzukommen. Seetel ist ein Familienunternehmen: Die Mutter von Rolf Seelige-Steinhoff, immerhin 81, kümmert sich um die Mitarbeiter, seine Frau um die Zahlen. 120 Millionen Euro sind investiert, weitere 70 Millionen Euro sollen folgen.

Seelige-Steinhoff malt auf dem Block ein Diagramm mit dem Alter seiner Gäste auf der einen Achse und ihren Ausgaben auf der zweiten.

Links unten markiert er die Ferienanlage "Waldhof" in Trassenheide, ein Drei-Sterne-Hotel für Familien, ein Kinderhotel. "Kinder dürfen ihre Eltern mitbringen", sagt er. Rechts oben zeichnet er sein Flaggschiff ein, den "Ahlbecker Hof", die Adresse für ein gut situiertes älteres Publikum. Dazwischen die anderen Objekte, auch den Neubau "Kaiserstrand Beachhotel". Touristische Angebote für alle Einkommensgruppen und jedes Lebensalter, daran arbeitet der Hotelier mit der Gründlichkeit von jemandem, der Elektrotechnik und anschließend Betriebswirtschaft studiert hat. Sein neues Beachhotel Kaiserstrand soll eine jüngere Zielgruppe ansprechen, die keinen Wert legt auf alte Pracht, sondern sich in aufs Notwendige reduzierten Designhotels wohlfühlt.

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(Foto: Jörg Buschmann)

Der gebürtige Westfale lebt seit 1992 an der Ostsee. Es waren andere Zeiten für die Insel, und das hatte seine Gründe vor allem in der Vorwendezeit. Denn der Thüringer Wald, die Sächsische Schweiz, Rügen und eben Usedom - diese Ziele kannten die Bewohner der neuen Bundesländer hinlänglich. Es waren die beliebtesten Ziele des Reisedienstes im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund FDGB gewesen, dem größten Ferienanbieter nach betrieblichen Erholungseinrichtungen und staatlichen Campingplätzen. Urlaub ließ sich in der DDR nicht wie heute einfach buchen. Stattdessen wurden mit Ferienschecks Verdienste um den Staat und die Sozialistische Einheitspartei belohnt. Das Unternehmensziel des FDGB-Feriendienstes war es, "allen Gewerkschaftsmitgliedern eine zweckvolle Durchführung ihrer Ferien zu ermöglichen". Man blieb in der Republik, erst 1954 gab es "Touristenaustausche".

Reisen durften DDR-Bürger fortan ins befreundete sozialistische Ausland nach Polen und in die Tschechoslowakei. Nach Erteilung einer Reisegenehmigung ging es nach Ungarn oder Rumänien, Bulgarien oder in die Sowjetunion. Die 1946 gebaute MS Völkerfreundschaft mit Platz für 560 Passagiere war als eines von drei DDR-Urlauberschiffen bei Reisen ins westliche Ausland oft Schauplatz gelegentlich spektakulärer Fluchtversuche. Wenige durften nach Kuba.

"Die Leute waren 17 Tage unterwegs und die Reise kostete unter 500 DM."

Umso größer war die Reiselust nach der Wende. Der Mauerfall steht auch für bald 26 Jahre Reisefreiheit. "Am Anfang war der Neugiertourismus", sagt Rolf Seelige-Steinhoff. "Die Einheimischen gingen auf die große Reise, dorthin, wo sie vorher nicht hindurften." Klaus Laepple, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Reiseverbandes DRV, erinnert sich: "Ich hatte das Vergnügen, eine Leserreise für 130 Teilnehmer aus Suhl zu organisieren. Ich hatte den Flug damals für 30 DM sehr günstig eingekauft. Die Leute waren 17 Tage unterwegs und die Reise kostete unter 500 DM." Nix wie weg, lautete die Devise zunächst.

Manche Reiseunternehmer im Westen witterten ein Geschäft. Der Münchner Dietmar Gunz, 56, beispielsweise arbeitete nach dem Mauerfall mit der österreichischen Monorama Touristik zusammen, einem Veranstalter von Seniorenreisen in Ostdeutschland. Das Modell der geführten Gruppenreise überlebte sich, die zunächst verbreitete Busreise wurde von Flugurlauben abgelöst. "Senioren wollten nicht länger Senioren sein", stellt Gunz fest. Die traditionellen Reiseziele in der untergegangenen Republik - sie schienen von der touristischen Landkarte getilgt zu sein.

Report: Im Sommer 2015 stoßen die Urlauber auf viel Neues, aber noch auf Spuren der Vergangenheit: Waschbecken aus DDR-Zeiten.

Im Sommer 2015 stoßen die Urlauber auf viel Neues, aber noch auf Spuren der Vergangenheit: Waschbecken aus DDR-Zeiten.

(Foto: Jörg Buschmann)

Rolf Seelige-Steinhoff weiß noch gut, wie es 1991 auf Rügen war. Sein Vater Burghardt Seelige-Steinhoff hatte eine Schuhfabrik rechtzeitig vor dem Untergang der Branche in Deutschland verkauft und war danach für den Reisekonzern Tui als eine Art Scout unterwegs. Seine Konzepte für Robinson Clubs in Kenia und Ägypten wurden erfolgreich umgesetzt. Rügen reizte ihn. Bei einer Versammlung versprach er die Wiedereröffnung eines FDGB-Ferienheimes in nur drei Wochen - andere Interessenten konnten da nicht mithalten und der Sohn avancierte quasi über Nacht zum Hoteldirektor, mit 27 Jahren, als Student.

Dabei waren Vater und Sohn ihrer Zeit etwas zu sehr voraus. Seelige-Steinhoff konnte sich eine Klubanlage auf dem Gelände des Monumentalbaus der Nationalsozialisten vorstellen, dem viereinhalb Kilometer langen Gebäudekomplex Prora. Die während der NS-Zeit begonnene Ferienanlage für 20 000 Urlauber plus 2000 Mitarbeiter ist nie fertiggestellt worden. Während der DDR-Zeit war Prora eine Kaserne und erlangte als Militärschule für als Bausoldaten eingezogene Kriegsdienstverweigerer neuen, zweifelhaften Ruhm. Erst heute lockt der Ort nicht nur Tausende Touristen an, sondern auch Investoren. Sie lassen gerade in die entkernten nördlichen Trakte Ferienwohnungen einbauen und locken Käufer mit der Aussicht auf hohe Steuervorteile. Prora ist unterwegs auf dem Weg zum touristischen Urlaubsort. Doch zumindest in den frühen Nachwendejahren war die Zeit noch nicht reif für Neues. Aus dem Ferienklub wurde nichts. Vater und Sohn Seelige-Steinhoff wechselten auf die Nachbarinsel Usedom - und zeigten damit den richtigen Riecher.

Denn heute bleiben die Touristen der neuen Bundesländer wieder öfter im Gebiet der alten DDR. Als hätten sie genug Abstand gehabt und wollten, aus Nostalgie und echter Begeisterung, die Gegend neu für sich entdecken. Reisen aus den neuen Bundesländern gehen oft nach Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Rügen gilt als das neue Sylt des Ostens.

Wie zeitgemäßer Massentourismus dort heute aussieht, lässt sich kaum irgendwo so gut beobachten wie sechzig Kilometer südlich von Berlin. Bei der Gemeinde Krausnick überragt die weltgrößte freitragende Halle des Tropical Island den Unterspreewald. Die 360 Meter lange, 210 Meter breite und 107 Meter hohe Halle ist der stählerne Beweis für die Theorie der Touristikwissenschaftler, dass man, wo nichts ist, Attraktionen inszenieren muss. Dabei ist die Halle auf dem ehemaligen sowjetischen Flugplatz Brand eigentlich ein Kollateralschaden des wirtschaftlichen Aufbruches in der Nachwendezeit.

2002 wurde sie errichtet als Produktionshalle für das Lasten-Luftschiff Cargolifter, ein Pleiteprojekt, das zwei Jahre später von der malaysischen Tanjong-Gruppe als tropisches Freizeitbad eröffnet wurde. Die auf Konsum und Rendite getrimmte Kunstwelt setzt neue Maßstäbe im früheren Land des kollektiven Urlaubs. Ein dreistündiger Besuch kostet einschließlich Sauna 44 Euro, denn am späten Vormittag werden nur Tageskarten verkauft. Die Nummer 8390 auf dem Schlüssel zum Garderobenschrank führt in die Irre, in der Halle dürfen sich nur 6000 Gäste gleichzeitig aufhalten. Gefühlt sind die alle anwesend an diesem Sommertag mit 34,5 Grad.

Report: 25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion Eine SZ-Serie, Teil 20 und Schluss

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"In der Wellness-Landschaft können, nein: sollen Sie sogar die Hüllen fallen lassen."

Verbotsschilder und Drehkreuze vor aufpreispflichtigen Angeboten halten alle im Zaum - der Urlaub im Spreewald wird zwar nicht mehr vom Staat zugeteilt, gründlich geregelt ist in der marktwirtschaftlichen Traumwelt aber ebenfalls alles. Auch das Thema FKK. "Nacktbaden ist im Tropical Islands zwar nicht möglich, doch in der tropischen Wellness-Landschaft können, nein: sollen Sie sogar die Hüllen fallen lassen." Das macht kaum ein Mensch, obwohl doch der FKK-Urlaub zwar nicht in der DDR erfunden wurde, dort aber verbreitet war.

Mit den Jahren gleichen sich so auch die Reisegewohnheiten an: Während in der Nachkriegsgeneration wildes Campen an der Ostsee und Nacktbaden als subtile Form des Widerstandes gegen das Regime galt, scheint es heute auf Rügen ähnlich wie auf Sylt zu sein: Die FKK-Strände werden weniger, die Hunde-Strände mehr. Die speziellen Charterflüge für Nudisten an die Ostsee gibt es nicht mehr. Die Freikörperkultur lebt vor allem in den Erinnerungen älterer DDR-Bürger. An der Ostsee dürfte der Anteil der textilfrei Badenden unter zehn Prozent liegen.

Und doch: Noch lässt die große touristische Welle über alle neuen Bundesländer auf sich warten. Das hat seine Gründe: Die Wege zu den touristischen Zielen führen auch 25 Jahre nach der Wirtschafts- und Währungsunion immer wieder durch Gegenden voller Plattenbauten, leerer Fabriken und verfallener Großställe ehemaliger Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften, den LPG's. Oder durch schöne endlose Alleen und Wälder, hinter denen kaum noch etwas kommen kann.

Seine abgeschiedene Lage ist auch das Problem des Parkhotels Schloss Schlemmin im Hinterland bei Stralsund. "Haben Sie mich wiedererkannt", fragt an der Rezeption Sandra Micheel, die bei der Fernsehserie "Mein himmlisches Hotel" mitgewirkt hat: "Wir wollten die Gegend etwas bekannter machen." Einige Gäste sind im Rolls-Royce vorgefahren, doch im Winter ist wenig los. Vielleicht liegt es nicht nur an der Lage. Im Schloss spukt der Geist von früher: Die Rezeption macht auf um acht Uhr, die Bar schließt um zehn, die Küche ist rustikal und nicht preiswert.

Report: Ein alter Wohnwagen erinnert an die Jahrzehnte des sehr beliebten Urlaubs auf Campingplätzen.

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(Foto: Jörg Buschmann)

Das Seehotel ohne See: Wer an den Strand will, ist hier "noch nicht so gut aufgehoben"

Schlichtes Essen mit Sättigungsbeilage lockt niemanden mehr, das weiß Gerold Schellstede, 76. Er kam als Möbelhändler ins frühere Braunkohlegebiet und baute das Seehotel Großräschen. Dessen Chefkoch hat er in einem Berliner Hotel abgeworben. Der kocht nun raffinierte Sachen für ein verwöhntes Publikum. Denn im Hotel wohnen viele Gäste, die auf dem Lausitzring in schnellen und teuren Autos ihre Runden drehen. "Davon leben wir zur Zeit", sagt Schellstede. Man müsse ehrlich sagen: "Der Tourist, der sich an den Strand legen möchte, der ist hier noch nicht so gut aufgehoben." Der Grund: Das 2007 eröffnete Seehotel ist bis heute ein Hotel ohne See.

Der Großräschener See ist in der ehemaligen Braunkohlegrube zwar mittlerweile erkennbar, doch der Hafen an der Uferstraße vor dem Seehotel wird wohl erst Ende nächsten Jahres mit Wasser gefüllt sein. Von 120 Liegeplätzen sind 80 schon vergeben. "Wir warten auf den allgemeinen Touristen", sagt Schellstede. "Er wird kommen" - und gut bekocht.

Auf Spitzenküche setzt auch Rolf Seelige-Steinhoff. Er beschäftigt den ersten Sternekoch auf Usedom und macht beim "Grand Schlemm" mit. Bei der fünf Kilometer langen kulinarischen Strandwanderung gibt es alle 500 Meter einen Gang und ein Gläschen Wein. Die Karten zu 189 Euro sind schnell vergriffen.

Der "Grand Schlemm" ist nur einer von vielen Kunstgriffen, mit denen neue Touristen an alte Orte gelockt werden sollen.

An der Seebrücke in Ahlbeck vorbei führt Europas längste Strandpromenade zwölf Kilometer von Bansin und Heringsdorf nach Swinemünde in Polen, das dort Swinoujscie heißt. Die bestehende Kaiserpromenade wurde 2011 um 3,6 Kilometer verlängert. Dieser Rad- und Fußweg ist nicht nur bei Urlaubern beliebt. Auch in Polen wohnende Mitarbeiter von Hotels und Gastronomie in den alten Kaiserbädern nutzen ihn für ihren Weg zur Arbeit. An der früheren Grenze erinnert eine 400 Quadratmeter große Begegnungsplattform an die Zeit der Trennung.

Doch kaum keimt der Erfolg, kommt auch Konkurrenz. Denn nicht nur die Strandpromenade bringt die Feriengebiete in Deutschland und Polen zusammen. Nach dem Aufbau Ost in Mecklenburg-Vorpommern fließt öffentliches Fördergeld nun nach Polen und lässt an der Ostseeküste eine neue Ferienhotellerie entstehen. In Verbindung mit den niedrigen Löhnen dort könnte eine ernsthafte Konkurrenz heranwachsen, befürchten nicht wenige auf Usedom.

Der Hotelier des Jahres 2015 will jedenfalls nicht nur weitere Häuser eröffnen, sondern in den kommenden zwei Jahren auch alle seine bereits vorhandenen Ferien-Unterkünfte gründlich renovieren. Rolf Seelige-Steinhoff: "Unser großer Vorteil ist, man kann hier noch etwas entwickeln."

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