Motorsport:Fährt die Formel 1 zum letzten Mal in Hockenheim?

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Ein veraltetes Motodrom, superreiche Konkurrenz in Bahrain und China und alles zu teuer: Wenn nicht noch ein Wunder passiert, ist der 36. Grand-Prix von Hockenheim an diesem Wochenende der Letzte.

Reportage von Stefan Mayr, Hockenheim

Von draußen dröhnt Höllenlärm ins Büro. Aber Georg Seiler macht keine Anstalten, das Fenster zu schließen. Vor allem, damit sein Zigarillorauch raus kann. Aber wohl auch, damit Geräusche und Geruch der rasenden Verbrennermotoren rein können. Es ist zwar nur eine Nachwuchsklasse, die auf der Zielgeraden des Hockenheimrings vorbeifaucht, doch ihr Lärm genügt, um das Gespräch immer wieder abrupt zu unterbrechen. Seiler ist es egal. Gerade so, als würde der 65-Jährige jedes einzelne Auto genießen, das noch an seinem Chefbüro vorüberzischt.

Seit 27 Jahren ist Seiler Geschäftsführer der Hockenheimring GmbH, und er kämpft um das Überleben seines Unternehmens. Am 22. Juli findet der 22. Formel-1-Grand-Prix unter seiner Verantwortung statt, und es könnte der letzte in Deutschland sein für viele Jahre. Oder gar für immer. 2019 wird die Formel 1 einen großen Bogen um Hockenheim fahren, das steht schon fest. Und ob sie 2020 in das alte Motodrom in der Kurpfalz zurückkehren wird, ist offen. Die ersten Verhandlungen mit dem neuen Formel-1-Eigentümer Liberty Media sind schon mal gescheitert - am Geld. Die Ring-Betreiber müssen an das US-Unternehmen eine saftige Antrittsgage zahlen, um einen Grand Prix ausrichten zu dürfen. Diese Millionensumme konnte Seiler zuletzt nicht mehr erwirtschaften. Deshalb lautet Seilers Ansage Richtung Liberty: "Wir werden keinen Vertrag mehr abschließen, mit dem wir ein finanzielles Risiko eingehen."

Er sitzt an seinem Schreibtisch, zieht an seinem Zigarillo und redet sich in Rage. Er fuchtelt mit dem Arm, Asche fällt auf sein weißes Hemd mit dem blau aufgestickten Strecken-Logo. Es geht um die Zukunft des Rings, um die Zukunft der Stadt, und um sein eigenes Vermächtnis: Denn 2019 wird er 66 und in Rente gehen. Wird er derjenige sein, der den Hockenheimring nicht mehr fit bekommen hat für den Formel- 1-Zirkus? Das wäre nicht schön für den gebürtigen Hockenheimer, der einst als Parkeinweiser angefangen hat. Entsprechend emotional wird Seiler bei dem Thema. Aber er schimpft nicht auf den US-Konzern Liberty oder dessen Vorgänger Bernie Ecclestone, sondern auf die Politiker und Unternehmer aus seinem Bundesland. "Wir bringen der Region pro Rennen zwölf Millionen Umsatz und dem Land acht Millionen Steuern, und trotzdem werden wir von allen vernachlässigt, das kann's nicht sein", zetert er. "Wenn jetzt niemand aufwacht und sagt, wir müssen die Formel 1 in Deutschland retten..." - er beendet den Satz nicht. Sondern zieht nur seine Schultern hoch, schnauft schwer und klopft wieder seinen Zigarillo ab.

Die Gefahr ist groß, dass er als eine Art Totengräber der Formel 1 in Deutschland abtreten wird. Doch dieses Etikett wäre unfair, denn Seiler kämpft einen ungleichen Kampf. Seine Konkurrenten heißen Bahrain, China, Aserbaidschan. Autoritär geführte Regime, für die Geld keine Rolle spielt. Sie zahlen Riesensummen, um den Zirkus mit den schnellen Autos anzulocken und sich in dessen Glanz zu sonnen. Dass sich die eigenen Untertanen das Ticket für die Sause gar nicht leisten können, interessiert die Herrschenden kaum. "Wir sind die einzige Formel-1-Strecke, die keine Subvention bekommt", sagt Seiler.

In einem Atemzug mit Barcelona und Melbourne

Hinter ihm steckt kein Autokrat und auch kein Milliardär, sondern der Oberbürgermeister eines 22 000-Einwohner-Städtchens. Die Kommune ist Hauptgesellschafterin der Hockenheimring GmbH, die restlichen sechs Prozent gehören dem örtlichen Badischen Motorsportclub (BMC). Der Weg zum Büro des Oberbürgermeisters führt vorbei an Gemälden von Rennautos und Motorrädern. "Natürlich hat die Formel 1 für die Stadt eine große Bedeutung als Wirtschafts- und Identifikationsfaktor", sagt OB Dieter Gummer von der SPD. Er würde den Verlust "schon sehr bedauern", aber noch wichtiger sei: "Wir können das Geld, das zur Finanzierung eines Defizits erforderlich wäre, anders verwenden." Begeisterung für die Formel 1 klingt anders. So ein Rennen bringe zwar viel Geld in die Region, "aber unser Stadtsäckel hat nichts davon". Auch, weil sich das Verhalten der Besucher geändert habe; "Früher haben sie ihren Jahresurlaub gebucht und auf dem Campingplatz am Ring verbracht." Heute blieben viele Leute nicht mehr über Nacht. "Sogar jene, die zwei Tage zuschauen, schlafen zuhause."

Hockenheim, erstmals 769 urkundlich erwähnt, ist im deutschsprachigen Raum Synonym für Motorsport. Die Anfänge der Strecke reichen bis 1932 zurück. Bis in die 1960er fuhren die Rennautos noch in die Stadt hinein. Die schnellste Stelle: am Friedhof. Erst als die neue Autobahn A6 den Weg in die Stadt versperrte, nahm das Motodrom seine heutige Form an. Die Hockenheimer sind schon stolz, in einem Atemzug genannt zu werden mit Melbourne, Barcelona, Monaco, Montreal, Budapest oder São Paulo. Das beschauliche Stadtzentrum mit seinen zwei Kirchtürmen und kniehohen Blumenkästen am Straßenrand hat mit der Turbowelt der Boxengassen zwar wenig gemeinsam, doch die Einwohner stehen zu ihrem 4,574-Kilometer-Rundkurs. Das Schild am Ortseingang heißt die Gäste "herzlich willkommen in der Rennstadt" und sogar das städtische Schwimmbad klingt nach Motorsport: Aquadrom.

Dass an Rennwochenenden die Motoren bis ins Stadtzentrum dröhnen, stört hier höchstens Neuzugezogene. Vor dem Cafe Lato in der Einkaufsstraße stehen Zehntklässler. Alle drei fänden es "schon schade", wenn die Formel 1 nie mehr wiederkäme. Gesehen haben sie ein Rennen allerdings noch nie. Es gibt sogar bekennende Motorsport-Fans, die der Formel 1 keine Träne nachweinen würden. Peter Müller zum Beispiel. Er ist Mitglied im Badischen Motorsportclub, seit 20 Jahren hilft er ehrenamtlich an der Strecke mit. Kartenabreißer, Parkplatzanweiser, Shuttlefahrer, solche Sachen. Und trotzdem sagt er: "Ich bin froh, wenn es hier keine Formel 1 mehr gibt." Warum das? "Wir stellen hier die Spielwiese, machen und tun, schreiben rote Zahlen - und andere verdienen sich eine goldene Nase." Der Turbo-Zirkus zieht weiter, und das Schulhaus kann nicht saniert werden? Die Frage des Benzinboys klingt berechtigt, dennoch will er seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen.

Auch Christopher Sass, Hockenheimer und Betreiber eines Motorsport-Blogs, kritisiert die Formel -1-Macher: "Früher war das ein Volkssport, jetzt ist es nur noch für einen elitären Kreis." Die Fahrer seien extrem abgeschirmt und weit weg vom Fan. Bei anderen Rennserien sei das ganz anders. "Da kommt man mit seiner Karte auch ins Fahrerlager und die Fahrer sind für die Fans erreichbar."

Da scheint sich etwas mächtig auseinandergelebt zu haben im Laufe der Jahre. Hier die Motorsport-Enthusiasten, dort die Motorsport-Geschäftemacher. Ist das vielleicht eine unaufhaltbare Entwicklung? Passen sie nicht mehr zusammen, die Große Kreisstadt und der Große Preis? Peter Müller nickt und erinnert an die ersten Rennen von Hockenheim: "Früher haben die Fahrer im Wohnzimmer von Hockenheimern gewohnt." Wie es früher war, ist in einer grauen Leichtbauhalle hinter der Haupttribüne zu sehen. Das Motor-Sport-Museum zeigt viele Motorräder und Rennautos auf einer hallenhohen Liste alle Formel-1-Sieger von Hockenheim. 1970 war sie erstmals hier. 140 000 Zuschauer waren da, 13 Mal wechselte die Führung, am Ende gewann der Österreicher Jochen Rindt. 1995, als Michael Schumacher vor 120 000 Zuschauern als erster Deutscher in Hockenheim siegte, wurden am selben Tag noch 40 000 Tickets gekauft. Für das darauffolgende Jahr. Lang, lang ist's her. Schumi ist weg, die Euphorie auch. 2016 kamen nur noch 57 000 Menschen - weniger als die Hälfte von 1995. Und Georg Seiler musste dennoch zufrieden sein. Denn 2014 hatte er noch weniger Besucher und zwei Millionen Euro Verlust.

Was ist da los? "Man hat sich an deutsche Siege gewöhnt", sagt Peter Müller. "Die Regeln sind viel zu kompliziert, das verstehen die Leute nicht mehr", findet Christopher Sass. Schon erstaunlich: Sogar in der Motorsport-Hochburg entlockt die Königsklasse nur noch ein mattes Gähnen. Für den Grand Prix kommenden Sonntag hat Seiler immerhin schon 66 000 Karten verkauft. "Damit bin ich zufrieden", sagt er, "weil es eine schwarze Null geben wird oder ein bisschen mehr." Die billigsten Tickets sind für 119 Euro zu haben, die teuersten für 519. Dann gibt es noch VIP-Karten für den Paddocks-Club direkt über den Boxen. Mit allem Drum und Dran und Schampus. Kostenpunkt für drei Tage: 4300 Euro. Wie viele dieser Tickets verkauft sind? Seiler weiß es nicht, im VIP-Zelt hat Liberty Media die Hand drauf.

Alle machen Reibach, nur die Rennstrecken-Betreiber zahlt drauf

Seiler und Oberbürgermeister Gummer verlieren trotz des jahrelangen Ringens ums Geld kein schlechtes Wort über Liberty. Auch nicht über den vormaligen Formel-1-Boss Bernie Ecclestone. Dem Briten werden Wildwest-Methoden nachgesagt, er soll nur dorthin gekommen sein, wo am meisten Geld für ihn heraussprang, heißt es. Stimmt nicht, betonen Seiler und Gummer. "Er hat uns geholfen, wo immer es ging", sagt Seiler. Er habe ein "gutes, vertrauensvolles, ehrliches Verhältnis" zu Ecclestone gehabt. 2009 waren Seiler und Gummer sechsmal nach London geflogen. "Wir haben ihm gesagt, wir wollen raus aus dem Vertrag", erzählt der OB, "weil wir den Bürgern nicht mehr zumuten könnten, für ein Rennen 30 Jahre abzuzahlen." Bernie habe geantwortet: "Und ich will fahren." Ecclestone sei ihnen ein großes Stück entgegen gekommen.

Wie viel Geld genau eine Rennstrecke auf den Tisch legen muss, damit die Formel 1 Station macht, verraten die Herren nicht. Die Rede ist von 12 bis 20 Millionen Euro. Womöglich haben die Hockenheimer ihren Freund Ecclestone auf einen einstelligen Millionenbetrag heruntergehandelt. Doch nun läuft der Zehnjahresvertrag aus, und die neuen Eigentümer Liberty Media müssen selbst schauen, wie sie die Milliarden wieder hereinbekommen, die sie für die Verwertungsrechte gezahlt haben. Da nimmt man das Angebot eines Autokraten gerne an und lässt die Tradition von Hockenheim beiseite. Es ist wie das Wettrennen eines Tretrollers gegen einen Porsche Carrera. Seiler wüsste einen Ausweg, aber die entscheidenden Leute gehen diesen nicht mit. "Baden-Württemberg ist das Land der Autobauer", knurrt er, "aber keiner will uns unterstützen." Viele andere Rennstrecken hätten laut Seiler üppige Förderungen bekommen: Lausitzring, Sachsenring, Oschersleben. Der Nürburgring erhielt 500 Millionen, um ihn zu einem Erlebnispark auszubauen. Dann ging er pleite. "Das muss man sich mal vorstellen", sagt Seiler, "eine halbe Milliarde." All diese Zuschüsse liefen unter dem Motto Standort-Förderung für strukturschwache Regionen. "Nur wir bekommen nichts", sagt Seiler, "unser Problem ist, dass die Region zu reich ist." Und zu geizig. Die Hoteliers im Umland verlangen am Grand-Prix-Wochenende mitunter den dreifachen Preis fürs Zimmer - bei einer Mindestbelegung von drei oder vier Tagen. "An einem Wochenende machen manche fünf Prozent ihres Jahresumsatzes und zehn Prozent ihres Gewinns", erzählt ein Hotelier. Für Georg Seiler ist es zum Verrücktwerden: Alle machen Reibach, nur er zahlt drauf.

Auch die Rennställe haben kein Interesse an Sonderlösungen für Hockenheim

Spielraum für dringend nötige Investitionen hat er nicht. Das sieht man dem Motodrom an. "Wir sind eine erlebbare Traditionsrennstrecke", sagt Seiler. Das ist diplomatisch für: Nach 86 Jahren ist der Ring arg in die Jahre gekommen. Seiler: "Wir müssten dringend investieren." Ein neues Pressezentrum wäre schön, das Hotel Motodrom mit 50 Zimmern sei viel zu klein, er hätte gerne neue Boxen, Toiletten, Kioske. Er könnte weiter aufzählen, unterbricht aber. "Alles ist noch brauchbar", betont er.

Fast jeden Wochentag um 11 Uhr gibt es eine Besucher-Führung über den Ring. Diesmal sind drei Motorrad-Ausflügler aus Schweden und eine vierköpfige Familie aus Süddeutschland da. Sie dürfen auf der Ziellinie Erinnerungsfotos schießen. Der Weg dorthin führt über die Haupttribüne aus den 1960er-Jahren. Innen wirkt sie wie eine Bezirks-Sportanlage. Jeden Moment könnte ein Turnlehrer mit Pfeife um den Hals erscheinen. Von den schicken neuen Renn-Palästen der Wüsten-Potentaten ist das ganz weit weg hier. Im Block G hat Plastik-Sitz 11 einen tiefen Riss, der ungemütlich bis gefährlich aussieht. Und das ist nicht der einzige Stuhl, der dringend ausgetauscht gehört.

Ob die Formel 1 jemals wieder hierherkommt? Dass klappt wohl nur, wenn Liberty Media beide Augen zudrückt, und das ist sehr unwahrscheinlich. Oder wenn Hockenheim doch noch einen Geldgeber aus Politik oder Wirtschaft findet. Vom Silberpfeil-Hersteller Mercedes ist keine große Hilfe zu erwarten, obwohl der dann keinen Heim-Grand-Prix mehr hätte. "Natürlich ist es wichtig für uns, einen Großen Preis von Deutschland zu haben", sagt Mercedes-Teamchef Toto Wolff. Deutschland sei Kernmarkt von Daimler, und die silberfarbene Mercedes-Benz-Tribüne ist noch eines der modernsten Gebäude im Motodrom. Aber Wolffs Interesse an einem Preisnachlass für Hockenheim hält sich in Grenzen. Auch, weil die Rennställe an den Gagen der Strecken beteiligt werden.

Der Sieger des Rennens ist den Fans beinahe egal

Am Rande des anstehenden Hockenheim-Grand-Prix werden Seiler und Gummer noch mal die Manager von Liberty Media treffen. Die neuen Eigentümer haben zwar Entgegenkommen signalisiert, aber eine Einigung ist noch weit weg. Formel-1-Marketingchef Sean Bratches bezeichnet es als "frustrierend", dass in einem Land mit solch einer Rennsport-Tradition "offenbar niemand bereit ist", den Ring zu unterstützen. Für 2020 wollen auch Städte wie Miami, Kopenhagen, Hanoi oder Buenos Aires in den Kalender.

Ob der 36. Grand Prix von Hockenheim der letzte sein wird? "Ich bin eher zurückhaltend", sagt Gummer, "im Moment sieht es so aus, als wäre es das letzte Rennen." Wenn aber gesichert sei, dass kein Defizit entsteht, "dann hat die Formel 1 bei uns eine Zukunft". Für viele deutsche Fans ist das wichtigste am kommenden Sonntag nicht, ob Sebastian Vettel als erster die Zielflagge sieht. Sondern, ob Seiler und Gummer ein Verhandlungserfolg gelingt.

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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