Report:Das Tor zu Afrika

Wie Marokkos König Mohammed VI. sein Land wirtschaftlich öffnet - für seine Untertanen und sogar für 18 000 Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten.

Von Michael Kuntz, Tanger/Casablanca

Von der Küste im Norden Marokkos aus ist Europa gut zu sehen. Am Horizont leuchten die Lichter der spanischen Stadt Tarifa, wirken die andalusischen Berge ganz nah. Das stimmt auch, denn die Straße von Gibraltar ist an diesem Ort eine halbe Autostunde östlich von Tanger nur 14 Kilometer breit. Das entspricht der Fährstrecke von List auf Sylt nach Rømø, der südlichsten dänischen Nordseeinsel. Es ist aber auch ein absurder Vergleich.

Denn die Meerenge von Gibraltar ist anders als das Wattenmeer keine Spaßzone zwischen Ferieninseln. Die Berge auf der anderen Seite dieser engen Stelle des Mittelmeeres sind von Afrika aus gesehen so nah und doch so fern. Bei ruhiger See mal rasch per Schnellfähre in 30 Minuten, bei starkem Wind auch mal in einer Stunde hinüberfahren nach Tarifa, das darf nur, wer in der Europäischen Union willkommen ist und ein Visum besitzt. Das darf nur, wer dort keinen Antrag auf Asyl stellen wird.

Marokko verschließt seine Küstenlinie nach Norden für Flüchtlinge, die aus Afrika nach Europa wollen. Gleichzeitig aber öffnet sich das Königreich. Marokko will wirtschaftlich das Tor zu Afrika sein, den Weg fortsetzen vom Entwicklungsland zur aufstrebenden Industrienation.

Es ist ein Spagat, der oft nicht gelingt, wie sich in anderen nordafrikanischen Staaten zeigt, spätestens seit dem Arabischen Frühling im Jahr 2011. Marokko steht vergleichsweise gut da. Das liegt nicht zuletzt am derzeit amtierenden Oberhaupt: König Mohammed VI, 51 Jahre alt, ist der Spross des ältesten (seit Mitte des 17. Jahrhunderts) regierenden Herrscherhauses der Welt. Er hat seinem aufbegehrenden Volk einige Zugeständnisse gemacht und so die Hoffnung auf eine bessere Zukunft geweckt. Für viele Lebensbereiche gibt es seitdem staatliche Pläne mit Zielen, die im Jahr 2030 erreicht sein sollen.

Nirgendwo sonst lässt sich Marokkos Weg in die Zukunft so gut besichtigen wie an der Küste des Mittelmeeres, fünfzig Kilometer östlich von Tanger im Tiefseehafen Tanger Med. Der Hafen erstreckt sich auf neun Kilometern an der Küste entlang.

Najlaa Diouri, 58, fährt im grauen Audi mit Chauffeur vor am Informationszentrum mit dem Dach als Aussichtsterrasse. Nach Tätigkeiten in der Energiewirtschaft ist sie seit drei Jahren die Generaldirektorin des Hafens Tanger Med. Der kann von Schiffen mit 18 Metern Tiefgang befahren werden. Er ist damit geeignet für die größten Containerschiffe der Welt. Zudem liegt er ideal: Von hier sind es nur drei Tage auf See bis Rotterdam, zehn Tage bis in die USA, zwanzig Tage nach China. Die Straße von Gibraltar ist eine der am meisten befahrenen Routen weltweit. Es kommen jedes Jahr 100 000 Schiffe vorbei.

"Dieser Hafen hier ist eines der größten Wirtschaftsprojekte in der Geschichte von Marokko", stellt Najlaa Diouri fest. 350 Hektar Hafenbecken und 350 Hektar Lagerflächen. Das sind sieben Quadratkilometer, die in etwa der Fläche von Gibraltar entsprechen. Oder: Tanger Med ist doppelt so groß wie der New Yorker Central Park. Die zierliche Topmanagerin Diouri im braunen Leinenanzug und weißem Blouson fügt gleich dazu, warum das alles stattfindet: "Wir wollen Arbeitsplätze schaffen." Im Hafen Tanger Med selbst sind bisher 6000 Arbeitsplätze entstanden und außerhalb in der Region sind es weitere 50 000 Jobs.

Dabei machen die meisten Riesenschiffe mit bis zu 19 500 Containern hier bisher nur fest, um etwas von ihrer Ladung auszutauschen. Gut neunzig Prozent der Container werden von einem Frachter auf einen anderen umgeladen, zum Beispiel Güter, die unterwegs sind zwischen den Golfstaaten und Nordamerika. Bisher gehen nur neun Prozent der Container nach Marokko hinein. Das könnten noch mehr werden, meint nicht nur die Hafenmanagerin Najlaa Diouri.

Die Zukunft beginnt 2007: Nach fünf Jahren Bauzeit und zwei Milliarden Euro Investitionen eröffnet König Mohammed VI. das erste Containerterminal. Seitdem schaut der Monarch häufiger mal vorbei. Einer seiner Sommerpaläste liegt ganz in der Nähe, und er sorgte persönlich dafür, dass die lokalen Fischer, die dem Großprojekt hatten weichen müssen, ein neues Hafenbecken bekamen. Am Hang des Berges neben dem kilometerlangen Geländes prangt in großen weißen Lettern das offizielle Motto: "Gott, Vaterland und König".

Marokko ist Durchgangsland für viele Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten. König Mohammed VI. hat in diesem Frühjahr 18 000 von ihnen in Marokko aufgenommen und ihnen die Bürgerrechte der eigenen Landsleute gegeben. Anträge auf Einbürgerung gab es von 28 000 Menschen, die auf dem Weg nach Europa im Norden Afrikas gestrandet waren.

Szenen wie am Grenzzaun der spanischen Exklave Ceuta wurden aus Tanger Med bisher nicht berichtet. Dort hatten Hunderte Flüchtlinge mit Enterhaken die Grenzzäune gestürmt und sich spektakuläre Szenen mit den Bewachern des EU-Außenpostens in Afrika geliefert. Nicht so in Tanger Med: Ein Freihafen ist eben ein Freihafen. Er erleichtert den Transport von Gütern, öffnet das Land für den Welthandel. Umgekehrt ist dieser Hafen alles andere als frei für Menschen, die ihn illegal passieren wollen, um nach Europa zu gelangen.

Der erste hohe Zaun beginnt 2,8 Kilometer vor dem eigentlichen Hafenterminal. Es ist nicht die einzige Absperrung, die an der Meerenge den Weg nach Europa blockiert. Solche zollfreien Zonen wirken wie riesige Käfige. Das ist so auch in den anderen Freihäfen der Welt. Eines ist aber anders als woanders, und das ist sicher kein Zufall: Die Personenzüge halten keineswegs neben den Passagierschiffen, ein Fußmarsch ist nötig. Wer in die Freiheit rennen will, fällt unweigerlich auf. Polizei und Militär haben eigene Unterkünfte im stetig wachsenden Gelände von Tanger Med.

Inzwischen gibt es einen Bahnhof, acht Liegeplätze für die Fähren nach Tarifa, für Kreuzfahrtschiffe, und ein zweites Containerterminal wird bald fertig sein. Tanger Med soll der größte Tiefseehafen in Afrika werden, so ist der königliche Plan. Schon jetzt hat er die legendäre Küstenstadt gemessen an der Zahl der Schiffsverbindungen von Platz 82 auf die 13. Stelle der Weltrangliste katapultiert. Das ist schlecht für die Konkurrenz in Südeuropa, den spanischen Hafen von Algeciras zum Beispiel. Selbst in Marseille ist der neue Wettbewerber zu spüren. Tanger Med ist ein wichtiger strategischer Baustein für Marokko, um das Tor nach Afrika zu werden. Wahrscheinlich ist er sogar der wichtigste.

Einige große Unternehmen haben sich schon wegen des Hafens angesiedelt. Raffinerien zum Beispiel sind bereits da, der kanadische Flugzeughersteller Bombardier kommt in Kürze. Allen voran baute Renault ein Werk für seine erfolgreiche rumänische Billigmarke Dacia. Optimisten sprechen vom "Detroit de Gibraltar".

Rund um ein solches Autowerk entsteht eine komplexe Infrastruktur aus Zulieferern und Dienstleistern. Bei Dacia bringt auch die deutsche Spedition Dachser Teile direkt ans Fließband. "Unsere Kunden profitieren von 30 Jahren Logistikerfahrung in Marokko", sagt Dachser-Chef Bernhard Simon, der das Familienunternehmen aus dem Allgäu in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten durch den Zukauf von Speditionen in Frankreich und Spanien international gestärkt hat - nicht zuletzt rund um das Mittelmeer.

"Da sind etliche Bereiche, wo es noch vieles gibt, was wir nicht wissen."

Für König Mohammed VI. ist Tanger Med zwar das größte, aber nur eines von mehreren Projekten, die aus Marokko eine logistische Drehscheibe zwischen Europa und Afrika machen sollen. Er siedelte beim Transportministerium in der Hauptstadt Rabat eine Regierungsagentur für Logistik an, die aus dem Transportwesen einen Sektor machen soll, der wesentlich stärker beiträgt zur Wirtschaftsleistung des Landes als heute. Es ist so ähnlich wie in der Landwirtschaft: Auch dort gibt es einige große Firmen, die nationale und internationale Märkte beliefern. Ebenso existieren aber weiter typische kleinteilige Agrarstrukturen, die vielen Menschen Arbeit bietet.

Nur tausend der 300 000 Milchbauern besitzen mehr als 20 Kühe. Fast jeder zweite Marokkaner arbeitet noch immer im Agrarbereich.

Auch der Transportsektor zerfällt in zwei solche Welten. Derzeit transportiert die Industrie des Landes etwa 50 Prozent der Güter selbst oder bedient sich dabei des sogenannten informellen Transportsektors. Zu ihm gehören Kleinstunternehmen, die nun an europäische Regelwerke gewöhnt werden sollen. Mehr als drei Viertel aller Waren werden mit Lastwagen transportiert. Geplant sind ein Gesetz für den Straßentransport, Höchstarbeitszeiten, strengere Sicherheitsvorschriften. Die Ausgangslage beschreibt ein Mitarbeiter der Regierungsagentur in Rabat so: "Da sind etliche Bereiche, wo es noch vieles gibt, was wir nicht wissen."

Was die Vorschriften angeht, hinkt die Regierung der dynamischen Entwicklung noch hinterher, die sie selbst fördert. So gibt es derzeit 1500 Kilometer Autobahnen, tausend Kilometer sind seit 2002 gebaut worden, und bis 2030 sollen weitere tausend Kilometer dazukommen.

Nicht nur leistungsfähige Straßen entstehen, auch eine Bahnstrecke wird frei für den Gütertransport. Denn auf einer neuen Trasse soll der aus dem früheren Kolonialland Frankreich gelieferte Hochgeschwindigkeitszug TGV bis zum Jahr 2018 die Reisezeit halbieren zwischen der Küstenstadt Tanger im Norden am Mittelmeer und dem Wirtschaftszentrum Casablanca 330 Kilometer südlich am Atlantik. Hier leben im Großraum vier Millionen Menschen.

Einer von ihnen ist Abderrazak Bouazizy, 38. Er fährt an diesem Vormittag durch die nach dem Großvater des Königs benannte Vorstadt Mohammedia in seinem weißen Renault-Lastwagen von einem Lagerhaus zu einem anderen. Auf der Ladefläche stehen ein paar Paletten mit Kabeltrommeln. Sie sind ein Vorprodukt. Aus vielen solchen mit Kunststoff ummantelten Drähten werden in einer Fabrik die sogenannten Kabelbäume passend geschnitten und gebündelt, also jene Teile, ohne die ein Auto ebenso wenig funktioniert wie ohne Motor.

Report: Unterwegs in die Zukunft - der marokkanische Lkw-Fahrer Abderrazak Bouazizy.

Unterwegs in die Zukunft - der marokkanische Lkw-Fahrer Abderrazak Bouazizy.

(Foto: Michael Kuntz)

Es ist noch viel Verkehr um zehn Uhr, deshalb dauert die Fahrt eine halbe Stunde. An einer Polizeikontrolle winken die Uniformierten den Renault mit den Paletten durch. Die Fahrt durch das belebte Gewerbegebiet erinnert an ähnliche Gegenden in Europa, wenn man sich die Eselskarren und die exotischen Verkaufsstände wegdenkt. Ansonsten vertraute Fassaden von bekannten Firmen: Ein MAN-Truck- und Buscenter, ein Händler für BMW und Mini, immer wieder das Firmen-Logo von Bosch, sogar eine Ferrari-Werkstatt.

Abderrazak Bouazizy ist seit zwölf Jahren für Dachser unterwegs. Im Moment ist er in Mohammedia, er hat aber auch schon in den Niederlassungen Tanger und Casablanca gearbeitet. Sein Vater war Arbeiter in einer Kartonfabrik. Nicht nur er selbst, auch drei seiner Brüder gehen für Dachser auf Tour.

Privat fährt er seit fünf Jahren einen uralten Golf 2, schwarzmetallic. Sein Schwager ist Automechaniker und sorgt dafür, dass der Volkswagen immer läuft. Er braucht ihn für die Fahrt in sein neu gebautes Haus am Stadtrand von Casablanca und für den Urlaub bei Verwandten am Strand von Agadir. Er hat 18 Urlaubstage pro Jahr.

Sein Sohn Anass wird sechs Jahre alt und fährt gerne mit im weißen Lastwagen. Ob daraus mal sein Beruf wird? "Das sehen wir alles mal, wenn er größer ist."

Abderrazak Bouazizy ist in Casablanca zu Hause und nicht auf der Durchreise. Die Perspektiven für ihn sind nicht schlecht in seinem Heimatland, wo es selbst dann noch dynamisch weitergeht, wenn nicht alle ehrgeizigen Vorhaben klappen. Das spektakuläre Projekt Desertec zur Erzeugung von Ökostrom für Europa in der afrikanischen Wüste versandete zwar im internen Gerangel deutscher Weltkonzerne. Der Rückversicherer Munich Re, die Energiekonzerne RWE und Eon, die Deutsche Bank und ABB - sie bildeten eine Allianz der großen Sprüche, denen vor allem Frust folgte. Dabei mögen auch die hohen Kosten für die Energiewende in Deutschland selbst die Verwirklichung dieser Vision verhindert haben.

Doch der wirtschaftliche Aufstieg in Marokko geht weiter, dafür sorgt schon der König. Er lässt mit saudischer Hilfe riesige Solar-Kraftwerke bauen. Das ist gut für Abderrazak Bouazizy, denn Dachser ist bei der Logistik dabei.

Der deutsche Spediteur bekommt Aufträge zunehmend von einheimischen Firmen: "Marokkanische Unternehmen entdecken derzeit, wie wichtig es ist, Logistik auszulagern, um an Effektivität und Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen", beschreibt Dachser-Manager Frederic Seillier die Entwicklung zur Industrienation. Das Land hat in jüngster Zeit Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, den USA und der Türkei unterzeichnet.

"Diese Öffnung bringt zahlreiche Herausforderungen für die einheimischen Unternehmen mit sich", sagt Seillier. Sie müssen nun ihre Produktivität steigern, um sich durchzusetzen und exportieren zu können. Der Vorteil: Freihandel bringt wachsende Warenströme und Arbeit für Menschen wie Abderrazak Bouazizy.

Im Rick's Café pflegen sie den Mythos von Casablanca,sehr zeitgemäß und perfekt

Zur Welt des Lastwagen-Fahrers Abderrazak Bouazizy gehört jedoch nicht ein Ort, der untrennbar mit Casablanca verbunden ist: Der Wandel von Marokko spiegelt sich auch wider in der Geschichte von Rick's Café, dem berühmten Lokal aus dem Kinofilm "Casablanca". Das hat es so nie gegeben, es wurde für die Dreharbeiten in einem Hollywood-Studio gebaut. Weil der Film ein Welterfolg geworden ist, wetteiferten in der Stadt Casablanca dann gleich mehrere Rick's Cafés um den Ruhm als Location. Erst die einstige amerikanische Diplomatin Kathy Kriger klärte die für Touristen etwas unübersichtliche Situation durch den Bau ihres ultimativen Rick's Cafés. Das ist zehn Jahre her. Heute huscht sie von Tisch zu Tisch und wünscht ein angenehmes Abendessen. Rick's Café ist ein gediegenes Restaurant, fast wie das Renommierlokal im Film, auch mit Klavierspieler, aber klimatisiert und einer Speisenfolge, die vor allem verwöhnte Gäste zufriedenstellt, die sich diesen Luxus leisten können. Kathy Kriger pflegt in ihrem Rick's Café den Mythos sehr zeitgemäß und perfekt. Unten klimpert der Klavierspieler, in einer Ecke oben im ersten Stockwerk läuft der Film.

Abderrazak Bouazizy hat "Casablanca" nie gesehen. Für ihn ist der Film aus dem Jahr 1942 ein Stück Geschichte, weit weg. Der Lkw-Fahrer aus der Stadt Casablanca erzählt jedoch von den Dreharbeiten für den fünften Mission-Impossible-Film. Für den Blockbuster von heute wurde sogar zwei Wochen lang die neue Autobahn in den Süden gesperrt.

Abderrazak Bouazizy hat sich die Filme mit Tom Cruise als Agent Ethan Hunt begeistert angeschaut. Sie haben ihm gut gefallen. Die Hauptdarsteller Ingrid Bergman und Humphrey Bogart aus dem legendären "Casablanca" sind lange tot. Es läuft längst ein neuer Film - auf der Leinwand und im Leben. Die Hauptrollen im realen Casablanca spielen heute andere. Aber noch immer geht es in der Hafenstadt am Atlantik - mit der ungefähren Größe von Berlin - um das Kommen und das Gehen und das Bleiben. In Casablanca in Rick's Café spielt der Pianist Issam Chaaba "As Time Goes By" - immer und immer wieder.

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