Report:Bleibt bei uns!

Willkommen im hessischen Landkreis Werra-Meißner, einer Region, die ums Überleben kämpft. Abwanderung, niedrige Löhne und leere Kassen prägen das Bild - und mutige Menschen, die sich selbständig machen.

Von Susanne Höll

Auf den allerersten Blick ist Großalmerode ein hübsches Städtchen. Einige alte Großbürgervillen säumen die Hauptstraße hin zum Marktplatz, ein properes Rathaus, windschiefe Fachwerkhäuser in bunten Farben. Wer sich umschaut hinter den hübschen Fassaden, erschrickt: Viele Gebäude sind leer, verfallen und verwahrlosen. Gleich hinter dem Marktplatz liegt ein gigantischer Schutthaufen. Eine Immobilie wurde aus Sicherheitsgründen abgerissen, das Nachbarhaus ist ungepflegt, die Fensterscheiben sind blind. Willkommen im nordhessischen Landkreis Werra-Meißner, einer Region mitten in Deutschland, die sich aufbäumen muss im Kampf ums Überleben.

Stefan Reuß empfängt im Schloss in der Kreisstadt Eschwege. Beeindruckender Bau, direkt an der Werra, muss aber dringend saniert werden. Früher residierten hier Landgrafen, nun ist es Sitz der Kreisverwaltung. Reuß ist Fußballfan, Sozialdemokrat und Landrat. Kein Job, um den man ihn beneiden würde. Abwanderung, niedrige Löhne, leere Gemeindekassen, Überalterung, Ärztemangel, die jungen Leute suchen ihr Glück anderswo, zurückbleiben Alte, deren Renten manchmal nicht zum Leben reichen.

Und was sagt Reuß? Landschaftlich gesehen sei eigentlich alles wunderbar: "Viel Natur, viel Wald, viel Wasser, viele kleine Dörfer, alte Kulturlandschaft." Stimmt. Es ist sehr schön, vom rauen Klima einmal abgesehen. Hessisch-Sibirien nennt man die Gegend auch. Hier waren die Menschen nie reich, man arbeitete hart, unter Tage, in der Landwirtschaft, in mittelständischen Betrieben oder Verwaltungen. Bis 1989 endete an der Werra die westliche Welt. Keine zehn Kilometer weg vom Schreibtisch des Landrats verlief damals die deutsch-deutsche Grenze. Ein Leben im Schatten des Todesstreifens. Staatliche Subventionen aus der Zonenrandförderung erhielten die Gegend einigermaßen am Leben. Viele suchten ihr Glück schon damals anderswo.

Ein baufälliges Fachwerkhaus gibt es schon für 25 000 Euro, Grundstück inklusive

Mit der deutschen Einheit ist es entgegen aller Hoffnung nicht besser geworden. Der Werra-Meißner-Kreis werde schnell aussterben, hieß es noch vor ein paar Jahren. Wird er nicht, sagte Landrat Reuß, ein Kind der Region. Er ist einer, der sich aufbäumt. Mit Mühe sorgte er dafür, dass zwei Kreiskrankenhäuser erhalten blieben, kämpft um bessere Straßen, damit die Pendler in das VW-Werk nach Baunatal oder sonst wohin kommen können. Er tingelt durch die Republik und sucht Neubürger. "Wir müssen die Infrastruktur für Ältere ausbauen, junge Familien halten und neue gewinnen", sagt er. Er ließ schon Werbe-Postkarten drucken, in Form eines Wackelbildes. Auf dem einen Foto hockt ein Baby mit rosa Mützchen auf einem schmalen Grünstreifen vor einem grauen Wohnblock, ein Auto rast vorbei. Auf dem anderen sitzt das Kind im prächtigen Garten eines renovierten Fachwerkhauses. Darunter die Frage: "Wo fühlen sich Ihre Kinder wohl?"

So ein Fachwerkhaus gibt es, in baufälligem Zustand, schon für 25 000 Euro, Grundstück inklusive. Andernorts bekommt man für diesen Preis nicht einmal eine Garage. Die Reklame, so sagt Reuß, wirkte. Von Masseneinwanderung kann aber keine Rede sein. Es fehlen attraktive Arbeitsplätze, auf Großansiedelungen hofft hier kein Mensch mehr, stattdessen auf Kleinunternehmer, die Schwung und Leben in den Kreis bringen.

Im offenen Glasportal des Capitol-Kinos in Witzenhausen sitzt einer jener ersehnten Selbständigen. Ralf Schuhmacher ist ein Zuwanderer. Und Witzenhausen, nordwestlich von Eschwege, ist bekannt durch seine Kirschbäume und die Mini-Uni, einen Ableger der Hochschule in Kassel. Ökologische Landwirtschaft studiert man hier. Deshalb kam auch Schuhmacher aus Freiburg in die Stadt, 1989 schon, wollte damals in den Entwicklungsdienst, "die Welt beglücken mit Öko-Landbau". Jetzt ist er 56 Jahre alt und lacht. Aus der Entwicklungshelfer-Karriere wurde nichts. Er verträgt die Hitze schlecht.

Film-Fan war er schon immer. Und ging an seinem ersten Abend in der Stadt ins Capitol-Kino. Es lief ein James-Bond-Film. 1994, nach manchen Irrungen und Wirrungen, kaufte er das traditionsreiche Lichtspieltheater mit zwei Sälen. Im kleineren wurden einstmals Schulmädchen-Reports gezeigt. Rund 250 000 Euro Schulden hatte Schuhmacher damals auf dem Buckel. Die sind inzwischen beglichen, mehr noch. Aus dem Ein-Mann-Betrieb ist eine kleine Firma geworden, vier Leute sind inzwischen angestellt, ein paar Aushilfskräfte ebenfalls. Das Geschäft läuft. Schuhmacher ist heute ein rundum zufriedener Mensch, er kommt gut aus, hat sich gerade das erste fabrikneue Auto seines Lebens gekauft. Und er macht genau das, was er will: "Unterhaltung mit Anspruch. Lieber mache ich schlechte Geschäfte mit guten Filmen als mit schlechten."

Mehrere Preise hat er mittlerweile gewonnen mit seinem Capitol, das weit mehr ist als ein Kino. Er zeigt natürlich populäre Streifen, oft schon zu deren Deutschlandstart. In der Provinz ist das keineswegs selbstverständlich. Aber er hat auch Dokumentarfilme im Angebot, es gibt Kinderprogramme, Diskussionen mit Filmemachern, Sondervorstellungen. Wer will, kann im großen Saal Theater spielen oder auch Musik.

Jeden ersten Dienstag im Monat ist Seniorentag. Die Älteren können und mögen nicht mehr nach Eschwege, Kassel oder Göttingen fahren für einen Film. Dann läuft "Honig im Kopf" oder "The Lady in the Van", die Verfilmung eines Buches von Alan Bennett mit der grandiosen Maggie Smith in der Hauptrolle. Die Pensionisten haben Geschmack am Kino gefunden. "Früher gingen 60-Jährige nicht mehr ins Kino. Heute kommen Leute, die 80 und 90 sind, und nicht nur zum Seniorenabend." Ins Capitol kann man auch im Rollstuhl fahren. Kino als Kultur- und Identitätsraum. Ein Glücksfall für eine vergreisende Region.

"Hier kann man klein anfangen und trotzdem was werden."

Schuhmacher selbst altert mit Würde und stört sich nicht daran, dass die Zahl der Senioren wächst. Ist für ihn schließlich ein wichtiges Publikum. Die Abwanderung der jungen Leute bekümmert ihn natürlich. Was aber tun? Mit Cineastentum kann im Kreis kein Zweiter mehr sein Leben fristen. "Weiter so", rät Schuhmacher. Er lobt den Landrat und die Kreisverwaltung, die es geschafft haben, mit Fantasie und Ausdauer in den Landkreis-Rankings langsam nach oben zu klettern. Behutsamer Ausbau des Tourismus, das wär doch was, findet er.

Der Herr des Capitols ist, man kann es nicht anders sagen, verliebt in seine zweite Heimat. Schuhmacher ist eine Institution im Städtchen, die Leute kommen jenseits der Öffnungszeiten an die offene Glastür auf ein Schwätzchen. Das ist nicht selbstverständlich. Der Nordhesse, insbesondere der aus ländlichen Gebieten, ist, vorsichtig gesagt, ein äußerst zurückhaltender Mensch. Sein Charme ist von der herberen Art. Den Badener stört das nicht, im Gegenteil. Das seien aufrechte Menschen, die ihm, dem Zugezogenen, den Erfolg gönnten. "Hier kann man klein anfangen und trotzdem was werden", preist er die Einheimischen. Ein Aufbäumer der stillen Art.

Sven von Drach blickt, trotz aller Heimatliebe, kritischer auf die Dinge. Er darf das, er ist hier geboren und einer der Jungen, die geblieben sind. Der 34-Jährige ist selbständig, gelernter Forstwirtschaftler, inzwischen Informatiker und Gesellschafter in der florierenden Firma seines Vaters. Viele Menschen im Kreis, so sein Urteil, seien immer noch im Dämmerschlaf: "Wir werden immer weniger. Der Bewusstseinswandel kommt langsam. Vielleicht ist der Leidensdruck noch nicht hoch genug", sagt er.

Drach hat sein Büro in Großalmerode, ein paar Steinwürfe entfernt von dem riesigen Trümmerhaufen des geschleiften Gebäudes im Ortskern. Wäre es nach ihm gegangen, stünde er selbst heute irgendwo im Kaufunger Wald und sorgte für Ordnung im Forst. Er hätte gern in der Natur gearbeitet, nach der Lehre gab es aber keinen Job. Also hat er Informatik gebüffelt, Umstieg, ungeplant. Er ist viel unterwegs in ganz Deutschland, er sitzt in der deutschen Mitte, kommt flugs in alle Himmelsrichtungen, richtet für große, mittelständische Autounternehmen Warenwirtschaftssysteme ein. Nebenbei kümmert er sich um defekte Internetanschlüsse der Nachbarn.

Die meisten seiner Jugendfreunde sind längst weggezogen, nach der Schule schon. Etliche haben anderswo Karriere gemacht, kommen nur noch alle fünf Jahre zurück, zum Heimatfest. Dann denkt man an alte Zeiten. In denen der Bergbau florierte, die Wirtshäuser voll waren, wenn am Freitag die Feierabendsirene läutete, und Großalmerode noch mehrere Bahnhöfe hatte. Es später einen Jugendklub gab und die Gemeinde noch Geld hatte. Tempi passati. Rund 4000 Euro öffentliche Schulden trägt statistisch jeder der gut 100 000 Bürger im Werra-Meißner-Kreis. Vielerorts werden die Grundsteuern erhöht, man spart beim Adventsschmuck, fürchtet um den Fortbestand der Schwimmbäder. So wie in Großalmerode. Das Freibad liegt sehr schön, auf den Höhen, wunderbarer Blick. Aber es muss für viel Geld renoviert werden. So wie das Schloss in Eschwege.

"Wie soll ich, bitte schön, einer jungen Familie das Leben bei uns schmackhaft machen, wenn das Bad zumacht?", fragt Drach. Die Schule im Ort vielleicht? Ja, die hat sich herausgemacht. Aber sonst? Kein attraktives Wirtshaus mehr, kein anständiges Breitband, das Geschäftsleuten jenseits der Ortskerne Arbeit tatsächlich möglich machte.

Ein kleiner Kunde von Drach ist ein Eierhändler aus dem Kreis. Der kann seinen Geschäftspartnern nur schwer eine Rechnung per E-Mail mit Anhang schicken, so lahm ist das Netz. Sven von Drach wundert sich, dass bei dem Mann überhaupt ein Signal ankommt. Er selbst hat einen Glasfaseranschluss, zahlt dafür mehr, als manch ein Großalmeröder im Monat verdient. Ohne einen schnellen Breitbandausbau habe der Kreis keine Zukunft, sagt er. Die Verantwortlichen sagen, es werde daran gearbeitet. Man kann zum Wohl der Menschen nur hoffen, dass es zügig vorangeht.

Was hält einen wie Drach zu Hause? Heimatliebe? Die Landschaft? Günstige Immobilienpreise? Die Gemeinde Wanfried bei Eschwege, stolze 1200 Jahre alt, ganz nahe an der thüringischen Grenze, hat sich mithilfe eines Bürgervereins und des umtriebigen Bürgermeisters Wilhelm Gebhard eine Stück Zukunft erkauft. Die Kommune konnte Niederländer als Käufer für ebenso pittoreske wie renovierungsbedürftige Häuser gewinnen. Das sorgte für überregionale Aufmerksamkeit. Plötzlich interessierten sich auch solvente Deutsche für Wanfried, von dessen Existenz sie vorher nichts gewusst hatten. Ein Ehepaar aus Wiesbaden etwa, der Mann ist beruflich anderswo engagiert, die Ehefrau arbeitet nun von daheim. Das Paar hat Geld; für ein Fachwerkhaus im Preis eines Mittelklassewagens muss man das Mehrfache für Renovierungen ausgeben. Wohnen im Werra-Meißner-Kreis ist nicht preiswert, jedenfalls dann, wenn es im alten Fachwerk stattfindet. Ein solches Haus ist eine Auf- und Ausgabe fürs Leben. Etliche Neubürger, so sagt der Bürgermeister, hätten in Wanfried ihren ersten Wohnsitz, würden Mitglied in Vereinen. Mehr Leben in der Bude.

Die Vereine sind wichtig für die strukturschwachen Dörfer und Städtchen. Wo sollen sich die Leute ansonsten treffen? Die Kirchen haben an Bindekraft verloren, inzwischen gehen auch die Geistlichen. Der katholische Pfarrer von Großalmerode, ein äußerst beliebter Mann, ging unlängst mit weit mehr als 70 Jahren in den Ruhestand. Er wird keinen Nachfolger bekommen. Einer seiner evangelischen Kollegen zog nach Kassel, der Kinder wegen. Er wird erst einmal nicht ersetzt. Das soziale Leben findet also in den Vereinen statt. Mehr als 60 gibt es allein in Großalmerode und den zugehörigen Ortsteilen.

Ein Abend auf dem heimischen Balkon, mit Blick auf unberührte Natur, ist einfach unbezahlbar

Sven von Drach ist in etlichen aktiv. Aber die wenigsten sorgten sich ums Wohl des Ortes, sagt er. Wenn im Advent die Weihnachtsmarktbuden aufgebaut werden müssten oder man Streckenwärter für ein Mountain-Bike-Rennen suche, meldeten sich immer dieselben zwei Dutzend Leute. "Die, die sich im Dorfleben engagieren, werden immer weniger", sagt er. Neubürger gibt es auch in Großalmerode, für einigermaßen anständige Häuser klettern langsam die Preise, wer kann, kauft bei den niedrigen Zinsen ein Haus, in und um das nahe gelegene Kassel können sich Normalverdiener ein Eigenheim nur noch schwer leisten. Der alte Getränkemarkt gegenüber vom Schutthaufen ist verkauft, ein Unternehmer saniert, es könnte ein schönes Ensemble werden. Drach sucht auch ein Haus, zusammen mit seiner Partnerin und dem Nachwuchs. Er hat überlegt, ob er wegziehen soll. Aber ein Abend auf dem heimischen Balkon, mit Blick auf unberührte Natur, sei einfach unbezahlbar. Dafür nimmt er die Fahrten in Kauf, auch die manchmal seltsamen und stoffeligen Leute im Ort. "Das sind schon komische Vögel", sagt er. "Aber ich mag es hier. Vielleicht bin ich auch komisch und merk's nur nicht."

Es gibt etliche Aufbäumer im Kreis. Aber der Kampf ist hart. 2015 wurden in Hessen so viele Kinder geboren wie seit 15 Jahren nicht. Ausnahme: der Werra-Meißner-Kreis. Der ist mit 658 Neugeborenen das Schlusslicht im Land.

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