Rentenreform in Frankreich:Zwei Länder, zwei Systeme, ein Problem

Generalstreik in Frankreich

Szene vom Generalstreik in Lille, Frankreich: ein Eisenbahner mit einem bengalischen Feuer.

(Foto: Michel Spingler/dpa)

Viele Franzosen bangen um Privilegien, die es in Deutschland so nie gab. Ein Vergleich beider Systeme zeigt, welchen Ruheständlern es besser geht - und zu welchem Preis.

Von Leo Klimm und Henrike Roßbach, Paris/Berlin

Über die Rente streiten, das bedeutet in Frankreich, dass Hunderttausende gegen die Reformpläne von Präsident Emmanuel Macron auf die Straße gehen, dass U-Bahnen stillstehen, Flüge und Züge ausfallen und Pendler entweder im Stau oder im Menschengewühl am Bahnsteig feststecken. In Deutschland bedeutet ein Rentenstreit, dass die Linke im Bundestag eine "Aktuelle Stunde zur Bekämpfung von Altersarmut" beantragt, wie an diesem Mittwoch. Oder dass die Bundesregierung monatelang in Koalitionsausschüssen und Arbeitsgruppen über der Grundrente brütet. Derweil auf den Straßen: nichts. Geht es den deutschen Rentnern also zu gut?

Die kurze Antwort lautet: eher nicht. Dass hierzulande nicht wegen Rentenniveau und Renteneintrittsalter gestreikt wird, liegt vielmehr daran, dass Gewerkschaften in Deutschland nicht zu politischen Streiks oder gar Generalstreiks aufrufen dürfen. Besser als den Franzosen nämlich ergeht es den deutschen Rentnern keineswegs. Eher im Gegenteil.

Da wäre etwa die Regelaltersgrenze. In Frankreich liegt sie bei 62 Jahren, tatsächlich scheiden die Franzosen im Durchschnitt mit 60,8 Jahren aus dem Arbeitsleben. In Deutschland dagegen hat die damalige schwarz-rote Regierung 2007 die Rente mit 67 beschlossen. Die Altersgrenze steigt dadurch bis 2031 schrittweise von 65 auf 67 Jahre. Doch auch viele Deutsche gehen vorzeitig in Rente. Das faktische Renteneintrittsalter lag 2018 bei 64,1 Jahren - ohne Erwerbsminderungsrentner.

Das Ergebnis: "Frankreich hat eine niedrige Arbeitsmarktbeteiligung von Älteren", sagt Monika Queisser, Expertin für Sozialpolitik bei der Industrieländerorganisation OECD. In Frankreich arbeitet schon zwischen 55 und 59 Jahren gut jeder Vierte nicht mehr, in Deutschland nur knapp jeder Fünfte. Zwischen 60 und 64 arbeiten dann noch 30 Prozent der Franzosen, aber immer noch 60 Prozent der Deutschen. Das liegt auch an den vielen Extrawürsten für einzelne Gruppen in Frankreich - um die es beim Rentenstreit geht.

Über die Jahrzehnte hat sich nämlich ein zersplittertes System mit 42 verschiedenen staatlichen Rentenkassen gebildet: Manche der meist berufsständisch organisierten Kassen ermöglichen ihren Beitragszahlern einen früheren Renteneintritt bei gleichzeitig überdurchschnittlichem Ruhegeld. Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe RATP können schon mit 52 Jahren in Rente gehen. Sonderregeln gelten unter anderem auch für Polizisten, Mitarbeiter des Stromversorgers EDF, für Rechtsanwälte, Krankengymnasten oder die Tänzer der Pariser Staatsoper. Die Mehrheit der Arbeitnehmer aber zahlt in die allgemeine Rentenkasse ein, die Beamten in ihre Pensionskassen. Neben der staatlichen Rente existieren obligatorische Zusatzrenten, Betriebsrenten und staatlich geförderte, kapitalgedeckte Privatrenten. Während Mitarbeiter des öffentlichen Diensts mit 59 Jahren in Rente gehen, liegt das tatsächliche Eintrittsalter unter den Beschäftigten der freien Wirtschaft mit 63 Jahren sogar über dem gesetzlichen Rentenalter. Denn sie müssen mehr als 42 Beitragsjahre sammeln, um eine volle Rente zu erhalten.

Macron will diesen Flickenteppich abschaffen, was viele um ihre Privilegien bangen lässt. Geht es nach dem Präsidenten und seinem Premierminister Édouard Philippe, dürften künftig nur jene eine mit heute vergleichbare Rente bekommen, die mindestens bis 64 arbeiten. Außerdem wollen sie ein Punktesystem einführen, was für viele zu einer niedrigeren Rente führen kann. Bislang nämlich zählen bei Angestellten für die Rente nicht alle Beitragsjahre, sondern nur die 25 bestbezahlten; bei Beamten sind es sogar nur die letzten sechs Monate ihrer Laufbahn. Künftig dagegen sollen alle Beschäftigten für zehn Beitragseuro einen Rentenpunkt bekommen; zählen sollen alle Beitragsjahre.

In Deutschland gibt ein solches System schon: Wer in einem Jahr exakt so viel verdient und entsprechende Beiträge gezahlt hat wie der Durchschnitt aller Rentenversicherten, erhält genau einen Rentenpunkt. Wer doppelt so viel verdient hat, sammelt zwei, wer halb so viel verdient hat, einen halben. Ein Entgeltpunkt ist derzeit in Westdeutschland 33,05 Euro wert, im Osten 31,89 Euro. Die gesammelten Punkte ergeben am Ende die Rente.

Von diesem "Äquivalenzprinzip" zwischen Beiträgen und Rente wird allerdings teilweise abgewichen, etwa bei der Grundrente: Die Rentenpunkte langjähriger Niedrigverdiener sollen bis zu verdoppelt werden. Frankreich hat schon eine Grundrente, die 2020 bei 903 Euro im Monat liegen wird. Ein Arbeitnehmer, der 42 Beitragsjahre lang den Mindestlohn verdient hat, bekommt heute unwesentlich mehr Rente. Macron verspricht, die Mindestrente auf 1000 Euro anzuheben.

Derzeit dürfen die Franzosen nicht nur früher in Rente gehen als die Deutschen - sie haben im Alter auch mehr Geld. Nur 3,4 Prozent der französischen Rentner gelten als arm, haben also ein Einkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnitts. In Deutschland sind es 9,6 Prozent. Insgesamt bekommen die Franzosen etwa 74 Prozent ihres letzten Gehalts als Rente. Im Schnitt sind das nach Angaben des nationalen Statistikamts Insee 1389 Euro; 1065 Euro für Frauen, 1739 Euro für Männer. Frankreich zählt damit zu den wenigen Ländern der Welt, in dem Rentner höhere Einkommen haben als die Gesamtbevölkerung: 103,2 Prozent des Durchschnittseinkommens. Deutsche Rentner hingegen kommen laut OECD nur auf 88,6 Prozent. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung liegt die durchschnittlich ausgezahlte gesetzliche Altersrente bei 906 Euro. Hinzu kommen weitere Alterseinkünfte; etwa aus Betriebsrenten oder Lebensversicherungen.

Das derzeit großzügigere Rentensystem der Franzosen hat seinen Preis. Während Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Deutschland je 9,3 Prozent Rentenbeitrag zahlen, führen die französischen Arbeitnehmer 11,2 Prozent an die Rentenkasse ab, die Arbeitgeber sogar 16,3 Prozent. Eine weitere Anhebung der Rentenbeiträge zur Vermeidung von Milliardendefiziten gilt als politisch nicht durchsetzbar. Daher will Macron mit seiner Reform Anreize setzen, länger zu arbeiten. Denn in einem Punkt unterscheiden sich die Systeme nicht: Weil in Frankreich wie in Deutschland demografiebedingt immer weniger Erwerbstätige auf einen Rentner kommen, drohen Finanzierungsprobleme. In Deutschland fordern die ersten, darunter die Bundesbank, die Rente mit fast 70. Den französischen Protestierern bräuchte man mit solchen Vorschlägen gar nicht erst zu kommen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: