Renten-Debatte:Was wirklich gegen Altersarmut hilft

Illu

Illustration: Bernd Schifferdecker.

Die Politik muss die Grundsicherung im Alter ausbauen - auch wenn das unpopulär ist.

Gastbeitrag von Georg Cremer

Es wäre wohl ohnehin so gekommen, doch seit der Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten steht fest: Soziale Gerechtigkeit wird zu einem dominierenden Thema im Bundestagswahlkampf. Nach einer Allensbach-Umfrage von 2016 halten 64 Prozent der 30- bis 59-Jährigen die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland für ungerecht (wobei drei Viertel ihre persönliche Situation als gut oder sehr gut bezeichnen).

Dahinter stehen äußerst unterschiedliche Vorstellungen darüber, was gerecht ist. Die Sorge, im Alter nicht ausreichend abgesichert zu sein, ist sehr präsent, mit steigender Tendenz. Es wird also um die Rente gestritten werden. Und immer, wenn das geschieht, ist auch von den Armen die Rede. Die große Frage aber ist, ob die Armen bei dem, was im Wahlkampf gefordert und versprochen wird, gewinnen werden.

Über den Autor

Georg Cremer, 64, ist Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes.

Man muss durchaus über Altersarmut sprechen. Derzeit sind etwa drei Prozent der Menschen im Rentenalter auf Grundsicherung, also Sozialhilfe, angewiesen. Die heutige Rentnergeneration ist also weit weniger von Transfers abhängig als die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter oder gar kinderreiche Familien. Der Anteil wird aber steigen. Ein Teil derjenigen, die nach der Wiedervereinigung lange arbeitslos waren, wird keine ausreichende Rente erhalten.

So erfreulich sich der Arbeitsmarkt nach 2005 entwickelt hat, ein Teil der neuen Jobs ist im Niedriglohnsektor entstanden. Wer sein ganzes Berufsleben zum Mindestlohn arbeitet, benötigt ergänzende Grundsicherung im Alter. Der Rentenexperte Axel Börsch-Supan schätzt, dass sich der Anteil der Rentner mit Grundsicherung bis 2029 etwa verdoppeln wird. Das wären dann sechs Prozent. Niemand kann die Entwicklung voraussehen. Aber 50 Prozent verarmte Neurentner, wie sie der Westdeutsche Rundfunk in einer Bierdeckelrechnung für 2030 vorhersagte, sind völlig jenseits jeder seriösen Schätzung.

Jeder, der im Berufsleben vorgesorgt hat, sollte sich im Alter besserstellen

Was aber ist die Lösung? Die Öffentlichkeit interessiert sich vor allem für das Rentenniveau. Die Bundesarbeitsministerin bemüht sich erkennbar, der völlig unrealistischen Erwartung entgegenzutreten, die Rentenreformen der Vergangenheit könnten einfach mal zurückgenommen werden. In Andrea Nahles' Konzept soll eine doppelte Haltelinie Rentenniveau und Beitragssatz ins Lot bringen. Diese Balance wird allerdings nur dann gelingen, wenn die Rentenkasse noch mehr Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, also von den Steuerzahlern, bekommt.

Würde aber ein höheres Rentenniveau den Armen helfen? Diejenigen, die gute Renten haben, werden vergleichsweise viel, die Bezieher von Minirenten jedoch nur wenig mehr erhalten. Einige Menschen mit einer Rente gerade knapp unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums werden über diese Schwelle gehoben, aber es werden wenige sein. Alle, die weiter auf ergänzende Grundsicherung im Alter angewiesen sind, haben von der Erhöhung nullkommanichts. Der kleine Mehrbetrag, den sie als Rentner erhalten, wird ihnen bei der Berechnung der Grundsicherung in gleicher Höhe wieder abgezogen. Die meisten Armen gehen also leer aus.

Wer den armen Alten wirklich helfen will, muss die Grundsicherung im Alter weiterentwickeln, statt sie zu diskreditieren. Sie kann Altersarmut weit zielgerichteter bekämpfen als eine Erhöhung des Rentenniveaus für alle um zwei oder drei Prozentpunkte. Wie der Regelsatz bei Hartz IV ist die Grundsicherung auf Kante genäht. Etwas mehr Großzügigkeit würde den armen Alten unmittelbar zugutekommen.

Wer vorsorgt und dennoch Grundsicherung braucht, ist der Dumme

Zudem könnte man bei der Berechnung der Grundsicherung, mittels Freibeträgen, einen Teil der gesetzlichen Rente belassen. Damit hätte jeder, der sein Leben lang in die Rente eingezahlt hat, aber dennoch auf Grundsicherung angewiesen ist, im Alter mehr, als der, der lange nicht vorgesorgt hat oder nie erwerbstätig war. Hier gibt es ein Gerechtigkeitsdefizit; schon die schwarz-gelbe Regierung wollte es beseitigen, blieb aber tatenlos.

Bei der Riester-Rente stellt sich das gleiche Problem. Auch hier werden bei der Berechnung der Grundsicherung alle Einkünfte abgezogen. Wer vorsorgt und dennoch Grundsicherung braucht, ist der Dumme. So geht die Riester-Förderung genau an denen vorbei, die sie am nötigsten hätten. Das Problem wird von der Bundesregierung klar benannt und soll über eine Freibetragsregelung entschärft werden.

Gut so! Damit nimmt man Anleihe bei der viel gescholtenen, aber unverzichtbaren Zuverdienstregelung für Hartz-IV-Empfänger. Sie stellt sicher, dass jeder, der arbeitet und seine Ansprüche geltend macht, netto mehr hat als wenn er nicht arbeiten würde.

Für alte Arme ist auch entscheidend, ob sie Ersparnisse haben dürfen oder erst alles aufbrauchen müssen, bevor sie hilfeberechtigt werden. Das Schonvermögen für Empfänger der Grundsicherung im Alter wird zum 1. April auf 5000 Euro erhöht. Aber wirklich großzügig ist das nicht. Auch heute verzichten viele Minirentner aus Scham oder Unwissenheit auf ergänzende Hilfe. Auch die Fehlinformation, die Kinder würden in Regress genommen, ist weiterhin verbreitet (das geschieht nur bei Kindern mit einem Einkommen von über 100 000 Euro). Es gibt also weiterhin verdeckte Armut.

Wer alles für alle fordert, der hilft den wirklich Bedürftigen nicht

Was aber wäre, wenn man durch eine moderate Anhebung der Grundsicherung, durch einen Freibetrag, ein höheres Schonvermögen und zudem mehr Aufklärung den armen Alten unmittelbar helfen würde? Die Zahl der Bezieher der Grundsicherung würde deutlich steigen, denn mehr Bezieher von Minirenten bekämen ergänzende Hilfe.

Aber nimmt dann die Armut zu? Die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter gilt (ebenso wie bei Hartz IV) als wichtiger Armutsindikator. Es heißt: Je höher diese Zahl, desto schiefer die soziale Lage. Daraus ergeben sich argumentative Fallstricke. In Wahrheit würde eine bessere Grundsicherung nicht in die soziale Kälte führen, sie wäre im Gegenteil ein wichtiger Schritt, dass Armut nicht nur bekämpft, sondern auch überwunden werden kann. Wer dann "Skandal" ruft, hilft den Armen also nicht.

Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Zielgenaue Politik für die Armen ist im Wahlkampf unpopulär. Sie zu fordern wäre die Aufgabe der Sozialverbände. Dazu aber müsste man die Illusion aufgeben, die Anhebung des Rentenniveaus wäre der entscheidende Hebel zur Bekämpfung der Altersarmut. Man müsste sich auf die Probleme einlassen, das Alterssicherungssystem finanziell zu stabilisieren. Das ist unbequem. Wer aber alles für alle fordert, kann den Armen nicht helfen.

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