Reiseindustrie:Der Wert der Sonntagsarbeit

Die neuen Regeln für Callcenter in Deutschland gefährden Tausende Jobs, befürchtet die Branche. Auch die Kunden wollen den Zugang rund um die Uhr, wie eine Studie ergab.

Von Michael Kuntz, Lissabon

Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Arbeitszeiten in Callcentern gefährdet Tausende Arbeitsplätze in Deutschland. Die Entscheidung, dass in diesen Telefonzentralen an Sonntagen bald nicht mehr gearbeitet werden darf, klingt zunächst arbeitnehmerfreundlich, doch das Gegenteil könnte der Fall sein. Etliche Unternehmen sind rund um die Uhr auf Callcenter angewiesen und müssten sie bald ins Ausland verlegen. Besonders betroffen ist die Reiseindustrie; bei ihr ist Sonntag der Wochentag mit den meisten Buchungen. Wenn unterwegs etwas schiefläuft, wird auch per Callcenter geholfen.

Callcenter dürfen derzeit an sieben Tagen in der Woche arbeiten, das regeln die Bundesländer in Verordnungen. Das Bundesverwaltungsgericht hob aber vor einem Jahr die Regelung für das Land Hessen auf. Seitdem stehen Callcenter in Deutschland vor dem Aus. Auch andere Bundesländer drohen nun damit, wieder für bundesweit einheitliche Verhältnisse zu sorgen und ihre Vorschriften denen in Hessen anzupassen. Bereits jetzt arbeiten viele Callcenter im Ausland für deutsche Unternehmen, zum Beispiel in der Türkei. Dort gibt es zahlreiche deutschsprachige Angestellte, die auch ausreichend qualifiziert sind, um etwa Urlauber zu beraten. Diese Entwicklung könnte sich verstärken, viele Arbeitsplätze in Deutschland verschwinden. "Nun ist die Bundesregierung gefragt", sagt Norbert Fiebig, Präsident des Deutschen Reiseverbands (DRV) bei der Jahrestagung des Verbands in Lissabon. Die Regierung könne im Rahmen des Arbeitsgesetzes den Betrieb von Callcentern deutschlandweit regeln und eine Abwanderung ins Ausland verhindern. "Wir brauchen hier nicht mehr Restriktion, sondern eine Regelung, die einer modernen Dienstleistungsgesellschaft Rechnung trägt."

Damit spielt er auf junge Kunden an, die ihren Anruf beim Reiseveranstalter nicht von Öffnungszeiten abhängig machen wollen. Bei einer Umfrage in der Altersgruppe unter 30 Jahren sagten 73 Prozent der Teilnehmer, sie wünschten sich einen Telefon-Service am Samstag. 70 Prozent wollen auch an Sonntagen in Callcentern anrufen können. Die Callcenter spielen auch wirtschaftlich für Reiseunternehmen eine wichtige Rolle. Diese werben zwar häufig mit Niedrigpreisen, zu denen dann aber Zuschläge kommen für bestimmte Flughäfen oder Urlaubszeiten. Das ist die Gelegenheit für gut geschulte Callcenter-Agenten, dem Kunden geschickt zu vermitteln, dass der Urlaub doch nicht ganz so billig werden kann. Besteht erst einmal Gesprächskontakt, lassen sich dann oft Zusatzleistungen gut verkaufen. Dank des Callcenters liegt bei einem großen deutschen Reiseveranstalter der tatsächliche Buchungswert um 40 Prozent über dem Niedrigpreis, wegen dem der Kunde anrief.

Krisen ereignen sich eher außerhalb der üblichen Arbeitszeiten, wie zuletzt in Paris

Auch für Betreiber von Online-Portalen werden Callcenter wichtiger, etwa um Interessenten bei Fragen zu beraten, die am Computer unbeantwortet bleiben. Zunehmend machen auch andere den Online-Portalen und stationären Reisebüros Konkurrenz - Fluggesellschaften, Bahn und Hotelketten versuchen möglichst viel direkt zu verkaufen. Airlines bieten Dinge an, die ein Reisender zusätzlich zum Flug braucht, wie Mietwagen oder Hotelzimmer. Leistungsfähige und gute Callcenter werden somit wichtiger - nicht nur zum Verkauf, sondern auch zur Betreuung während der Reise. Krisen ereignen sich eher außerhalb der Arbeitszeiten, heißt es bei Tui, Marktführer unter den Reiseveranstaltern. Zuletzt nahmen die Reiseunternehmen nach dem Terror in Paris über Callcenter den Kontakt zu ihren Kunden im Großraum der französischen Hauptstadt auf. Auch am Sonntag.

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