Putin in Berlin:Russland, das Chamäleon

Lesezeit: 2 min

Ob der geplante Beitritt zur Welthandelsorganisation oder die gewünschte Freihandelszone mit der EU: Russland öffnet sich. Denn Ministerpräsident Putin, der heute auf dem SZ-Führungstreffen spricht, weiß, dass sein Land politisch nicht stark sein kann, wenn es wirtschaftlich schwach bleibt.

Frank Nienhuysen, Moskau

Wenn Abfangraketen und Zölle auf Birkenholz plötzlich miteinander zu tun haben, dann gibt es dafür einen guten Grund: Russland bewegt sich. So unterschiedlich die Debatten über einen gemeinsamen Abwehrschirm mit der Nato oder über das Ende protektionistischer Handelshemmnisse auch sein mögen, letztendlich dreht sich alles um einen Kern. Russland, Vetomacht im UN-Sicherheitsrat, größter Flächenstaat der Erde, ist sich selbst nicht mehr genug. Das Land justiert sich neu, seine Interessen haben sich verändert. Moskau sucht die Zusammenarbeit mit dem Westen, Russland braucht Geld, Technologie - und jede Menge Vertrauen. Mehr denn je.

Keine sieben Tage liegen zwischen dem Nato-Russland-Rat, der Verständigung Moskaus mit der EU über einen baldigen Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) und Wladimir Putins Plädoyer für eine "harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok", für eine Freihandelszone mit der EU und strategische Allianzen wichtiger Industriezweige. Der russische Premier wünscht sich nicht weniger als eine enge Bindung zwischen Ost und West. Im Sommer klang manches noch ganz anders.

Damals erhöhte Russland die Importzölle für Autos, und Putin sagte, "wir sind kein Mitglied der WTO, also können wir uns das erlauben". Hat sich Russland nun wieder wie ein großes Chamäleon für eine neue Farbe entschieden?

Seit 17 Jahren verhandelt das Land bereits über einen Beitritt zum freien Weltmarkt. Und so breit streute es in all den Jahren die Signale, dass kaum noch einer wusste, ob Russland diesen Schritt auch wirklich gehen will. Inzwischen setzt sich in Moskau die Einsicht durch, dass es keine andere Wahl mehr gibt. Die Weltwirtschaftskrise hat vielen Ländern großen Schaden zugefügt, in Russland aber hat sie ein Trümmerfeld hinterlassen. Allein mit Öl, Gas und Metallen lässt sich das Land nicht mehr in die Zukunft führen. Das Modell einer auf Rohstoffen basierenden Großmacht gehört der Vergangenheit an. Auf Energiepreise wie einst kann Moskau nicht mehr setzen. Russland muss sich öffnen.

Wohl kaum etwas alarmiert Moskau inzwischen mehr als der Erfolg der konkurrierenden Schwellenländer. Während Brasilien, Indien und China Russland abhängen, kraftvoll ausländisches Kapital anlocken, haben aus Russland Anleger seit Jahresbeginn 21 Milliarden Dollar abgezogen. Schmerzvolle Bilanzen sind das für eine stolze Macht, die vor ein paar Jahren so locker mit Petrodollars ihre Auslandsschulden bezahlte wie neureiche Russen ihren Bugatti. Aber an mehr Wettbewerb wird sich Russland nun gewöhnen müssen.

Moskau muss Anreize geben

Chancen und Risiken der Öffnung sind längst durchdekliniert: Russland hat sich für eine Modernisierung entschieden. Denn langfristig hat das Land mehr zu gewinnen als zu verlieren. Der russische Alltag wird dominiert von Autos aus dem Westen und aus Fernost, von Kühlschränken, Lampen und Shampoo aus Europa. Das Land produziert fast nichts. Wenn Russland neue Technologien entwickeln will, muss es erst einmal welche ins Land holen. Dazu muss Moskau Anreize geben, freundlich sein.

Wladimir Putin und Präsident Dmitrij Medwedjew wissen, dass Russland politisch nicht stark sein kann, wenn es wirtschaftlich so schwach ist. Selbst den sonst so strammen Generälen ist dies bewusst geworden. Andernfalls wären sie kaum so leise gewesen beim Thema Raketenabwehr wie zuletzt. Die Verhältnisse zwingen zu neuen Kooperationen und Zweckbündnissen, auf allen Ebenen.

Die Mitgliedschaft in der WTO, angesteuert für das nächste Jahr, wird für Russland neue Maßstäbe setzen. Das große Land muss sich mehr denn je Regeln unterwerfen, einbinden, Souveränitäten abgeben. Dafür kann es langfristig neue Freiheiten gewinnen. Ob dies auch die Demokratie fördern wird, ist ein anderes Thema. So schnell sicher nicht.

© SZ vom 24.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: