Preise in Deutschland:Diese Frau spürt die Inflation auf

Preise in Deutschland: Verbraucherpreisermittlerin Angela Prieler notiert die Preise, aus denen die monatliche Inflationsrate errechnet wird.

Verbraucherpreisermittlerin Angela Prieler notiert die Preise, aus denen die monatliche Inflationsrate errechnet wird.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Angela Prieler notiert die Preise, aus denen später die Inflation errechnet wird. Dass alles teurer wird, spürt sie nicht - weiß dafür aber, wie Hersteller bei den Mengen tricksen.

Von Harald Freiberger

Wo haben sie den Rheinhessen-Wein wieder hingestellt? Angela Prieler, 54, läuft mit einem dicken Leitz-Ordner vor dem Regal eines Münchner Verbrauchermarkts hin und her. Sie sucht den "Erben halbtrocken, 0,7 Liter", so wie es auf der aufgeschlagenen Seite steht. Unter dem Schild "Rheinhessen" ist er nicht zu finden. Vielleicht bei Rheingau? Nein. Nahe? Auch nicht. Da, endlich, unter Mosel hat er sich versteckt, ist wohl rübergerutscht. Prieler prüft auf dem Etikett, ob die Menge noch stimmt, dann trägt sie den Preis ein: 4,29 Euro. Genauso viel wie in den Monaten zuvor.

Am "Erben halbtrocken" liegt es also nicht, dass die Inflation zuletzt so zugelegt hat. Im März waren es 1,6 Prozent, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag bekannt gab. Das ist zwar weniger als im Februar mit 2,2 Prozent, trotzdem ist die Inflation nach Jahren stagnierender und sogar fallender Preise auf einmal wieder ein Thema.

Wer Angela Prieler durch die Regale des Verbrauchermarkts begleitet, kann erleben, wie so eine Inflationsrate zustande kommt. Sie ist beim Statistischen Amt der Stadt München angestellt und erhebt jeden Monat mit vier Kollegen rund 6000 Preise bei 600 "Berichtsstellen", wie Statistiker das nennen: Supermärkte, Discounter, Friseure, Kinos, Tankstellen. In ganz Deutschland gibt es 600 solcher Beschäftigten. Sie stellen mehr als 300 000 einzelne Preise fest. Die meisten machen es nebenberuflich.

Angela Prieler notiert allein 400 Preise in dem Verbrauchermarkt, stets um den 15. eines Monats herum. "Wir melden uns immer in den Läden an und führen dann unsere Erhebungen selbständig durch", sagt sie. Die Ladenbetreiber hätten damit in der Regel kein Problem. Nur selten muss sie klarstellen, dass sie im amtlichen Auftrag handelt.

Im Zweifel kann sie die Erhebung auch anordnen. Schließlich spielt die Inflationsrate eine zentrale Rolle für das wirtschaftliche Leben: Nicht nur die Geldpolitik der Zentralbank orientiert sich an der Preissteigerung, auch Mietverträge oder Hausratversicherungen hängen von dem Wert ab. Er ist außerdem wichtig, um zu ermitteln, wie eine Volkswirtschaft wirklich gewachsen ist, also bereinigt um die jeweilige Inflation.

An diesem Märztag muss Prieler weit mehr Preise notieren als sonst, weil sie zusätzlich eine urlaubende Kollegin vertritt, die für Lebensmittel zuständig ist. Deshalb hat sie den dicken Ordner überhaupt dabei. Die Preise der Produkte, für die sie eigentlich zuständig ist, Elektrogeräte und andere Haushaltsartikel, trägt Prieler seit einem Jahr in ein handliches Tablet ein. Die Digitalisierung hat ihre Arbeit sprichwörtlich erleichtert.

Bei Salat und Gemüse ist die Inflation spürbar

Um die Ecke das Regal mit den Spirituosen. Jim Beam, 1 Liter, 40 Prozent Alkohol, 18,99 Euro, Dolomiti Zirbenlikör, 0,5 Liter, 10,99 Euro - alles genauso teuer wie im Vormonat. Beim Chantré Weinbrand, 0,7 Liter, aber hat sich was getan: Er kostet 7,49 Euro, 50 Cent mehr. Eigentlich sind bei Schnaps Preisveränderungen selten. Das ist Prielers Erfahrung. Beim Wein schwanke der Preis eher mal, weil die Ernte unterschiedlich ausfällt.

Fällt es ihr auf, dass die Inflation angezogen hat, wenn sie durch die Regale geht? "Eigentlich nicht", sagt sie, denn Haushaltsartikel und Lebensmittel hätten sich kaum verteuert. Nur bei Salat und Gemüse ist es spürbar, wegen Missernten in Spanien haben die Preise stark angezogen. Die größten Preistreiber aber sind Heizöl und Benzin, die auch im März im Vergleich zum Vorjahresmonat wieder um 5,1 Prozent teurer geworden sind (vorläufiger Wert).

Benzin hat ein Gewicht von vier Prozent im Warenkorb der Statistiker. Dieser wird alle fünf Jahre ermittelt. 60 000 Haushalte schreiben über längere Zeit genau auf, wofür sie ihr Geld ausgeben. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden setzt die Erkenntnisse daraus in ein sogenanntes Wägungsschema um, das festlegt, wie mehr als 500 Produkte und Dienstleistungen bei der Errechnung der Inflation gewichtet werden: Miete mit 21 Prozent, Bier mit einem Prozent, Fleisch mit zwei Prozent.

Angela Prieler setzt diese Vorgaben an der Basis um. Die Waren hat sie in ihrem Tablet so sortiert, dass sie keine Umwege laufen muss. Steht ein Produkt aber nicht an seinem angestammten Platz, muss sie suchen. Und das gestaltet sich manchmal schwierig: Gemüse der Marke Bonduelle etwa steht eigentlich in einem eigenen Regal, nur die Champignons nicht, die stehen bei den Champignons anderer Marken. Nicht alle Vorschriften aus Wiesbaden lassen sich leicht umsetzen. Angela Prieler tut sich mit "zubereitetem Hackfleisch" schwer, das in Bayern kaum verbreitet ist, auch einen "Kernobstbrand" führt nicht jeder Supermarkt.

Das Bundesamt gibt nur die Produktkategorie vor. "Das konkrete Produkt oder die Marke wählen wir selber vor Ort aus und beobachten es dann über einen möglichst langen Zeitraum", sagt Prieler. Sie macht den Job seit 2006. Die Preise einiger ihrer Produkte kann sie mittlerweile im Schlaf herunterbeten. Der "Eierkocher Krups Trio" kostet 31,90 Euro, das 5-Meter-Verlängerungskabel 8,29 Euro. "Das ist seit Jahren gleich, da tut sich nichts", sagt sie.

Der Schokoladenpreis war lange besonders umkämpft - jetzt wackelt er

Viel Bewegung gibt es dagegen seit einiger Zeit bei Schokolade. Die 100-Gramm-Tafel ist im Warenkorb mit 1,29 Promille gewichtet, also mit etwas mehr als einem Tausendstel. Bundesweit werden allein 700 einzelne Schokoladenpreise erhoben, davon 16 in München - und einer im Verbrauchermarkt von Angela Prieler. Die 100-Gramm-Tafel, die sie vergleicht, kostet derzeit 1,09 Euro.

Schokolade ist für Statistiker ein besonders interessantes Produkt. Es zählt zu den Ankerprodukten, also den wenigen Waren, dessen Preise viele Bundesbürger auswendig kennen, ähnlich ist es bei Milch oder Butter. Deshalb ist der Preis im Einzelhandel besonders umkämpft. Über Jahrzehnte kostete eine Tafel so gut wie immer eine knappe D-Mark - die Läden trauten sich nicht, diese Schwelle zu überschreiten. Sie fürchteten sich, den Kunden zu verlieren. Erst mit Einführung des Euro ging es nach oben. Inzwischen liegt der Preis meist bei 1,09 oder 1,19 Euro. Die häufigen Sonderangebote vermerkt Prieler ebenfalls, sie fließen gesondert in die Berechnung der Inflationsrate ein.

Nicht nur der Preis schwankt bei Schokolade neuerdings. "Wir müssen auch auf Änderungen bei Menge und Qualität achten", sagt Prieler. Ein Hersteller habe vor einiger Zeit die 83-Gramm-Tafel eingeführt - zum selben Preis wie die 100-Gramm-Tafel. Es gibt auch Fertiggerichte, die auf einmal nur noch 480 statt 500 Gramm enthalten, oder Windelpackungen, die zwei Stück weniger enthalten. "Da man eine Änderung oft nicht auf den ersten Blick erkennt, muss man immer genau hinschauen", sagt Prieler. Enthält die Packung Windeln statt 200 nur noch 198 Stück, dann trägt sie eine Preiserhöhung von einem Prozent ein.

Hat sie es in den 15 Jahren, in denen sie Zigtausende Preise aufgeschrieben hat, schon einmal umgekehrt erlebt, dass der Preis gleich geblieben ist, die Menge sich aber erhöht hat? Angela Prieler überlegt einen Moment, dann sagt sie: "Eigentlich nicht."

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