Politiker:Ende des Klassenkampfes

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In den USA sympathisieren jetzt sogar linke Gewerkschafter mit der Idee eines Grundeinkommens.

Von Charlotte Theile, Zürich

Es ist noch nicht lange her, da galt in Industriegesellschaften eine grundsätzliche ökonomische Konstante: Arbeitgeber und Arbeitnehmer verhandelten Löhne, Urlaubstage und soziale Sicherungssysteme untereinander. Manchmal brauchten sie Wochen dafür, hin und wieder gab es Streiks, aber am Schluss stand eine Lösung, mit der alle leben konnten.

Der 66-jährige US-Amerikaner Andy Stern war in dieser Welt jahrzehntelang zu Hause. Er stand der Gewerkschaft SEIU vor, die etwa zwei Millionen Service-Angestellte, vor allem aus dem Bereich Gesundheit und Pflege, vertritt. Stern galt als einer der einflussreichsten und kreativsten Gewerkschafter des Landes. Im Juni dieses Jahres jedoch veröffentlichte er ein Buch, das mit so ziemlich allen Überzeugungen eines Arbeitnehmer-Vertreters bricht. Stern schreibt darin: "Mein ganzes Berufsleben habe ich für Jobs gekämpft, für Arbeitsplatzsicherheit. Heute glaube ich nicht mehr daran." Grund dafür: "80 Prozent der Jobs", die neu entstünden, seien im Niedriglohnsektor angesiedelt. Es handle sich dabei "nicht um wirklich gute Arbeitsplätze", wie es Stern im Gespräch mit deutschen Grundeinkommens-Aktivisten ausdrückte.

Stern, der Mitglied der Demokraten ist, plädiert nun für ein bedingungsloses Grundeinkommen. So sei jeder Arbeitnehmer in der Lage, "seine individuelle Tarifverhandlung zu führen". Die Rolle der Gewerkschaften? Ist kaum mehr der Rede wert. Keine Streiks, kein Verhandlungsmarathon. Stattdessen: Eine beratende Tätigkeit, die auf die Bedürfnisse einer "Gesellschaft von Selbständigen und kurzfristig Angestellten" Rücksicht nimmt.

Den Menschen verschaffe es Selbständigkeit und ein Standbein

Stern ist nicht der einzige linke Politiker in den USA, der mit dem Grundeinkommen sympathisiert. Auch bei vielen, die an Obamas Gesundheitsreform mitgearbeitet haben, ist die Idee populär.

Genau wie die Möglichkeit, sich unabhängig vom Arbeitgeber zu versichern, gebe das Grundeinkommen den Arbeitern die Macht, sich aus nachteiligen Verhältnissen zu befreien. Klassisches Beispiel: eine alleinerziehende Mutter, die sich in mehreren schlecht bezahlten Jobs aufreibt und aus Angst um die Versicherung und Versorgung ihrer Kinder nicht kündigen kann. "Empowerment", was man mit Ermächtigung oder Eigenverantwortung übersetzen kann, lautet das oft gebrauchte Schlagwort. Stern drückt es etwas anders aus: Das Grundeinkommen verschaffe den Menschen ein "Standbein" - und ermögliche es ihnen, das "Spielbein selbständig weiterzuentwickeln".

Vom Klassenkampf früherer Zeiten ist das ganz schön weit entfernt.

So richtig optimistisch klingt Andy Stern dabei aber nicht: Wenn künstliche Intelligenz und Digitalisierung in dem bisherigen Tempo voranschreiten sollten, "schaffen wir bald keine schlechten Jobs mehr, sondern schlicht: gar keine Jobs".

© SZ vom 25.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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