Pipers Welt:Lady Chatterley in der DDR

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Gelegentlich entdeckt man in alten Bücherkisten längst vergessene Kostbarkeiten. Zum Beispiel ein Buch mit dem Titel: "Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR."

Von Nikolaus Piper

Gelegentlich entdeckt man in alten Bücherkisten längst vergessene Kostbarkeiten. Zum Beispiel eine 900-Seiten-Schwarte, leicht abgestoßen, mit beigem Leineneinband und dem wässrigblauen Titel: "Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR". Das Buch, 1969 erschienen, ist nicht unbedingt eines, das man abends zur Entspannung beim Glas Rotwein lesen möchte. Aber es hat eine überaus spannende Geschichte, aus der sich lernen lässt, warum Planwirtschaft nicht funktioniert und warum sie sich nicht mit Demokratie verträgt. Kurz vor dem 25. Jahrestag der Wiedervereinigung sollte man sich dieser Geschichte erinnern.

Nachdem Walter Ulbricht 1961 die Berliner Mauer hatte bauen lassen, hielten einige SED-Wirtschaftsexperten, unter ihnen der Chef der Staatlichen Plankommission, Erich Apel, die Zeit für Reformen für gekommen. Die Tür zum Westen war zu, jetzt konnte man in Ruhe den Sozialismus aufbauen. Dachten sie jedenfalls. Die Reformer wollten zwar keine Marktwirtschaft, wohl aber Wettbewerb zwischen den Volkseigenen Betrieben und Leistungsanreize für Arbeiter ("Prinzip der materiellen Interessiertheit"). Die Direktoren der VEBs sollten mehr Freiheit und "ökonomische Hebel" in die Hand bekommen. Der sechste Parteitag der SED beschloss die Reformen im Januar 1963 unter dem Namen "Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung". Das NÖS sollte mehr Wachstum und eine bessere Versorgung für die Menschen bringen. Aus den Plänen wurde 1969 ein Buch - eben die "Politische Ökonomie des Sozialismus".

Wie man heute weiß, hat das NÖS wohl tatsächlich die Produktivität der Wirtschaft erhöht, nicht jedoch den Lebensstandard der Bürger. Reformer Apel beging 1965 Selbstmord, warum, ist unbekannt. Dann kam 1968 und der Prager Frühling. Die tschechischen und slowakische Kommunisten hatten ähnlich reformiert wie ihre ostdeutschen Genossen, waren dabei jedoch viel weiter gegangen. Sie führten die bürgerlichen Freiheiten wieder ein. Am 21. August 1968 beendeten sowjetische Panzer das Experiment.

Den Mächtigen in Ostberlin und Moskau war dies eine Lehre: Wenn man den Direktoren mehr Freiheit gibt, kommt das Volk auf dumme Gedanken und stellt das Machtmonopol der Partei in Frage. Nachdem 1970 auch noch in Polen Streiks ausbrachen, war Schluss. Am 3. Mai 1971 entmachtete das Zentralkomitee der SED Ulbricht und nominierte Erich Honecker zu dessen Nachfolger.

Honecker machte kurzen Prozess mit NÖS und führte eine neue Doktrin ein. Diese nannte er "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", was bedeutete, dass die SED die Bürger mit massiven Subventionen ruhigstellte, Subventionen, die sich die DDR eigentlich gar nicht leisten konnte. Der Konsum stieg, die Investitionen blieben zurück. 1983 vermied die DDR nur deshalb die Pleite, weil CSU-Chef Franz Josef Strauß ihr mit einem Milliardenkredit zu Hilfe kam. Selbst der bescheidene Lebensstandard, den die ehemaligen DDR-Bürger heute noch in Erinnerung haben, überstieg also die Leistungsfähigkeit des Systems.

Die "Politische Ökonomie des Sozialismus" aber war schon bei Erscheinen anachronistisch. Sie verschwand aus den DDR-Läden und wurde fürderhin so behandelt wie "Lady Chatterley" in einer Klosterbibliothek. Ein paar Restexemplare gingen nach Westen und tauchten dort in linken Buchläden auf. So brachte das Werk wenigstens noch ein paar wertvolle Devisen ein.

© SZ vom 18.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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