Pharmaindustrie:Bittere Pillen für die Armen

Warum die Dritte Welt bei Arzneien leer ausgeht.

Andreas Hoffmann

(SZ vom 27.10.2001) Christiane Fischer kann sich noch gut erinnern an den älteren Herrn mit den Silber-Haaren. Am Telefon war er angekündigt worden, und bald darauf saß er in der August-Bebel-Straße 62 in Bielefeld.

John Le Carré, Schöpfer von George Smiley und dem Spion, der aus der Kälte kam. Drei, vier Stunden redete Fischer mit dem Bestseller-Autor - einige Monate später las sie die Folgen in dessen neuem Thriller Der ewige Gärtner.

Auf über 500 Seiten beschreibt Carré die Machenschaften der Pharmaindustrie in der Dritten Welt, erzählt, wie der Pharmakonzern Threebees ein neues Mittel namens Dypraxa gegen Tuberkulose einsetzt und tödliche Nebenwirkungen vertuscht. Ein Arzt und eine junge Diplomatenfrau sterben, und das Unternehmen spannt selbst die britische Botschaft in Nairobi ein. "Ein gutes Buch", sagt Fischer. Threebees und Dypraxa gebe es zwar nicht, "ein solcher Fall aber wäre möglich".

"Wie Menschenversuche"

Christiane Fischer ist Ärztin bei der Buko-Pharmakampagne in Bielefeld, eine Organisation, die seit 20 Jahren das Wirken der Pillenhersteller in der Welt beobachtet und dabei wenig Positives entdeckt.

Manchmal, so sagt sie, erinnere sie das Verhalten der Konzerne an Menschenversuche. Sie berichtet von ausrangierten Medikamenten, die auf den Phillippinen oder in Kolumbien landen. Von Aidspräparaten, die wahllos an Gesunde und Kranke verteilt werden. Von überteuerten Blutdruckmitteln, fehlenden Präparaten gegen Malaria oder gegen die Schlafkrankheit.

Nach einem solchen Gespräch zeigt die Globalisierung wieder ihr hässliches Antlitz, die Feindbilder im Kopf ordnen sich. Dort die kaltherzigen Pharmamanager. Hier die guten Politiker der Entwicklungsländer. Aber sind die Fronten so einfach abzustecken?

Der Blick auf einige Gesundheitsdaten hilft vielleicht: Zwischen 1970 und 1995 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit von 56 auf 65 Jahre. 1975 war jedes dritte tote Kind jünger als fünf Jahre, zwanzig Jahre später nur jedes fünfte. Die Säuglingssterblichkeit sank in dem Zeitraum um ein Drittel; 1980 starben jährlich 800000 Babys an Tetanus, dank Impfkampagnen überleben heute 730000 davon.

Klingt alles gut, aber der Fortschritt dringt längst nicht in jede Hütte. Beispiel Malaria. Weltweit ist seit Anfang 1900 die Todesrate stark geschrumpft - auf 18 Todesfälle unter 100000 Menschen. In Afrika dagegen steigt die Malaria-Todesrate: auf 165 Fälle pro 100000 Einwohner. Die ärmeren Regionen erreichen inzwischen vermehrt Zivilisationsleiden; die Schlafkrankheit greift um sich, die Tuberkulose, das Schwarze Fieber.

Und natürlich Aids: Von den weltweit 36,1 Millionen HIV-Infizierten leben über zwei Drittel in Afrika südlich der Sahara. In manchen Ländern rafft der Virus ganze Gesellschaftschichten dahin: Ärzte, Lehrer, Facharbeiter, Soldaten und Beamte. Abhilfe ist schwierig.

Die moderne Drei-Komponenten-Therapie kostet in den Industriestaaten zwischen 3000 und 10000 Dollar pro Jahr und Person. Nach dem Streit um die Aids-Medikamente zahlt Südafrika inzwischen zwar nur ein Zehntel, doch selbst diese verbilligten Arzneien kann sich das Land kaum leisten.

Für jeden Afrikaner stehen im Jahr gerade acht Dollar an Medikamentenausgaben bereit, allein in Südafrika dürften 20, 30 Prozent der Bürger infiziert sein. Entwicklungsgruppen fordern deshalb, radikal die Preise zu senken.

Die Gründe scheinen einleuchtend. Für die Pharmariesen ist Afrika unwichtig, ihr Geschäft machen sie in den Industrieländern. 400 Milliarden US-Dollar will die Branche im nächsten Jahr weltweit umsetzen. 270 Milliarden davon in den USA und in Europa, aber nur 5,3 Milliarden in Afrika - das sind ganze 1,3 Prozent. Den Firmen fehlen schlicht kaufkräftige Kunden und deshalb erforschen sie kaum Dritte-Welt-Leiden.

"Es wird mehr Geld ausgegeben, um nach einer Behandlung für Haarausfall zu forschen, als für alle tropischen Krankheiten zusammen", sagt der Sunday-Times Journalist Adrian Anthony Gill. Aber wenn die Konzerne ihre Gewinne in der ersten Welt machen, warum senken sie dann nicht die Preise für die Dritte-Welt?

Riesige Preisunterschiede

Bei solchen Fragen runzeln die Pharmamanager die Stirn und reden von der Forschung. Andreas Barner, Vorstandsmitglied von Boehringer Ingelheim, spricht von einem Prozess, der "zehn bis zwölf Jahre dauert und 500 Millionen Dollar kostet". Nur einer von 10000 getesteten Wirkstoffen würde die Auslese überstehen. Die vielen Millionen ließen sich nur über langlaufende Patente zurückholen. Ohne Patentschutz kein Fortschritt, sagen die Konzernherren.

Doch es gibt noch andere Gründe: Die Pillenmanager fürchten auch eine Grundsatzdiskussion über Preise und Patente. Schließlich unterscheiden sich die Preise stark; Novartis etwa verlangt für das Antirheumatikum Voltaren in Indien zwei Dollar, in Argentinien 118 Dollar. Das Herzmittel Adalat kostet in Indien drei Dollar, in Peru 96 Dollar. Viele US-Bürger pilgern nach Kanada, weil die gleichen Pillen manchmal nur ein Viertel des US-Preises kosten.

So sieht die Industrie nicht in Preisen und Patenten das Problem, sondern in den Mängeln der Dritte-Welt-Länder. "Wir müssen die Armut und das Analphabetentum bekämpfen", sagt Birgit Reiter vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller.

Tatsächlich ist die Gesundheitsversorgung in vielen Dritte-Welt-Staaten mangelhaft. Gesunde Nahrung, sauberes Wasser fehlen oft ebenso wie die Aufklärung über Krankheiten. Hinzu kommt die Vertuschung der Politiker. Simbabwes Autokrat Robert Mugabe etwa sah Aids-Prävention vor allem darin, gegen Homosexuelle zu hetzen. Südafrikas Präsident Thabo Meki hat lange bezweifelt, dass Aids durch HIV entsteht.

Natürlich kennen die Pharmakritiker diese Argumente, doch manches halten sie nur für vorgeschoben. "Die Angst um die Forschung ist ein netter PR-Gag", sagt Christiane Fischer. Bis Mitte des Jahrhunderts ließen die Industrieländer selbst keinen Patentschutz auf Arzneien zu, um die Forschung nicht zu behindern. Deutschland hat ihn 1968 eingeführt, Italien und Schweden 1978.

Fischer: "Die Pharmaindustrie ist da nicht verhungert." Bei Aidsmitteln konnten die Konzerne außerdem auf öffentliche Forschungsergebnisse zurückgreifen. In den 70er Jahren entwickelten beispielsweise US-Wissenschaftler mit staatlichem Geld das Mittel ddl, auf das später der Pharmakonzern Bristol-Myers-Squibb ein Patent erhielt.

Heute ist ddl ein wichtiges Aids-Medikament - und für viele Länder oft unerschwinglich. "Die staatliche Grundlagenforschung hat den Konzernen erst die Tür geöffnet", sagt Peter Schönhöfer, Mit-Herausgeber des unabhängigen Branchendienstes arznei-telegramm. Er bezweifelt ohnehin den Erfindungsreichtum der Industrie.

Von den 100 bis 150 neuen Wirkstoffen, die jährlich den Markt überschwemmen, sei höchstens einer wirklich neu. Der Rest seien Scheininnovationen. Die Hochpreispolitik habe nur einen Grund: "Die Firmen brauchen Geld, um ihre Produkte in den Markt zu drücken." Viele Forschungsausgaben sind Marketing-Kosten, Geld für Pharmaberater und gesponsorte Ärztekongresse.

Denkanstoß durch Terror?

Vielleicht bringt der Terrorherbst Bewegung in den Streit um billige Medikamente. Die USA haben Ausnahmen vom Patentschutz immer ablehnt, um die eigene Industrie zu schützen. Als Brasilien, Südafrika und Thailand dies wegen einer gesundheitlichen Notstandes versuchten, drohte Washington sogar mit Handelssanktionen.

Inzwischen fühlen sich die Amerikaner selbst bedrängt. USA und Kanada wollten den Patentschutz für das Antibiotikum Ciprobay aussetzen, um sich ausreichend gegen Milzbrand-Anschläge zu wappnen. Erst ein kräftiger Preisnachlass des Hersteller Bayer verhinderte das Ansinnen.

Bei den WTO-Verhandlungen über den internationalen Patentschutz könnten die Entwicklungsländer jetzt Boden Gut machen und auf das widersprüchliche Handeln Washingtons verweisen. Fachleute sind aber skeptisch. Sie denken an die mächtige Pillenlobby. Auch der Autor John Le Carré hat da seine Erfahrungen. Am Ende seines Buches stellt er nüchtern, sein Roman sei "verglichen mit der Wirklichkeit, ungefähr so harmlos wie eine Urlaubspostkarte".

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