Pharmaforschung zu Multipler Sklerose:Milliarden gegen ein tückisches Leiden

Weltweit gibt es 2,5 Millionen Patienten und es werden immer mehr: Multiple Sklerose ist eine chronische Nervenkrankheit, die das Leben vieler Menschen umwirft. Die Pharmaindustrie forscht mit hohem Aufwand, die Gewinne sind hoch. Mancher aber zahlt dabei viel Lehrgeld.

Von Helga Einecke, Frankfurt

Diese Krankheit trifft vor allem Frauen. Sie ist nicht heilbar, über ihre Ursachen gibt es nur Vermutungen. Multiple Sklerose - kurz MS - schränkt die Betroffenen ein, immer mehr und ein Leben lang. Heilung gibt es nicht, Medikamente können jedoch den Verlauf verzögern oder mildern. Sie gehen mit Nebenwirkungen einher, und sie versprechen manchmal mehr als sie leisten können.

So tückisch die Krankheit ist - die Pharmaindustrie hat diesen Markt entdeckt, der als lukrativ gilt. Weltweit leiden 2,5 Millionen Menschen an MS, in Deutschland sind es 125.000, davon 75 Prozent Frauen. Der globale Medikamentenmarkt wird auf ein jährliches Volumen von 14 bis 15 Milliarden Dollar geschätzt, mit steigender Tendenz, weil die Zahl der Kranken zunimmt. Es handle sich zwar nur um einen kleinen Bereich der Pharmaindustrie, heißt es. Aber: "Es gibt nur fünf bis sechs wichtige Mitspieler", erklärt S&P-Analyst Olaf Tölke. Das heißt: Wenig Konkurrenz und möglicherweise hohe Gewinne - auch, weil die Therapie immer sehr lange dauert.

Starke Frauen machen diese Krankheit zum Thema. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer etwa geht pragmatisch mit ihrer MS um, will dem Leiden keinen zu großen Raum geben. "Meine Erkrankung äußert sich in einer eingeschränkten Mobilität, ich kann also nicht so gut gehen. Gelegentlich nutze ich auch einen Rollstuhl, um mir Wege zu erleichtern", sagt sie.

Ann Romney, die Frau des amerikanischen Präsidentschaftsbewerbers Mitt Romney, kämpfte im vergangenen Jahr an der Seite ihres Mannes im Wahlkampf und erzählte offen, wie viele Gesichter diese Krankheit haben kann. Es gebe üble Attacken, dazwischen wieder beinahe normale Lebensphasen. Nathalie Todenhöfer, Tochter des ehemaligen Burda-Vizechefs und CDU-Politikers Jürgen Todenhöfer, beeindruckte 2009 mit ihrem Leid. Voller Emotionen und Wut schilderte sie, wie sie im Alter von 19 Jahren von MS aus der Bahn geworfen wurde.

Eine Tablette galt als Riesenfortschritt

Der Name der Nervenkrankheit MS leitet sich von dem ab, was im Körper passiert. Viele (multiple) Entzündungen treten an verschiedenen Stellen im Gehirn und Rückenmark auf, die vernarben (sklerosieren). Die Entzündungen attackieren die Isolierschicht des zentralen Nervensystems. Man kann es mit einem Kabelschaden vergleichen, der den Informationsfluss zwischen den Zellen stört. Es trifft immer andere Zellen. Laufen, Sehen, Sprechen werden schwerer, einhergehend mit Schwindel, Schmerzen, Taubheit.

Meist verläuft die Krankheit in Schüben. Um einen akuten Schub für die Betroffenen erträglich zu machen, bietet die Pharmaindustrie eine Reihe von Medikamenten an. Zunächst verschreiben die Ärzte Kortison, um die Folgen der Entzündungen zu entschärfen. Erst danach gibt es die Medikamente, die das Immunsystem davon abhalten sollen, ihre Abwehrzellen gegen das Nervensystem zu richten. Dazu gehört beispielsweise das Beta-Interferon, ein Eiweiß, das gespritzt werden muss. Auch andere Eiweißgemische sollen aggressive Immunzellen umprogrammieren.

Die häufigen Injektionen bedeuten für die Patienten eine große Belastung. Deshalb galt es als ein Riesenfortschritt, als Novartis die erste Tablette auf den Markt brachte. Inzwischen folgen mit Sanofi und Biogen Idec andere Anbieter, auch wenn sich der Verkauf in Deutschland verzögert.

2018 könnte der Markt 18 Milliarden umfassen

Das weltweit am meisten verschriebene Mittel Copaxone brachte dem israelischen Hersteller Teva 2012 vier Milliarden Dollar ein. Der nächste Verkaufsschlager ist bereits in Sicht. "Biogen Idec dürfte mit seinem neuen Medikament Tecfidera ganz vorn landen", glaubt Analyst Tölke. 2018 könnte der MS-Markt 18 Milliarden Dollar umfassen. Das klingt nach einem lohnenden Forschungsgebiet für Biogen Idec, Novartis, Mercks, Teva oder Sanofi.

Die lieferten sich zuletzt ein Wettrennen darum, wer die erste Tablette anbieten könnte. Novartis, die Nummer Eins auf dem Pharmamarkt weltweit, gewann mit der Pille Gilenya. Sanofi folgte mit Aubagio und Biogen Idec mit Tecfidera. Biogen Idec hat bereits ein halbes Dutzend Medikamente in Marktreife und dürfte die Konkurrenz bald überholen.

Tölke kennt den Grund: "Mit MS-Medikamenten lassen sich überdurchschnittlich hohe Gewinne erzielen". Die Kosten für die Behandlung der Krankheit sind hoch. Die AOK in Hessen veranschlagt pro Jahr und Patient über 10.000 Euro nur für Arzneimittel, ohne Behandlung, Krankenhaus, Therapien und anderen Kosten. Insgesamt sind schnell 24.000 Euro zusammen. Die Behandlung mit dem neuen Tecfidera wird in den USA sogar auf über 50.000 Dollar pro Patient und Jahr geschätzt.

Die medizinische Betreuung allein reicht nicht

Biogen Idec ist die globale Nummer vier der Biotech-Industrie hinter den US-Konzernen Amgen, Gilead Sciences und Celgene. Sie wurde 1978 gegründet, ist unabhängig, aber Großaktionär Carl Icahn will angeblich Kasse machen. 2005 ging es bei Biogen Idec bergab. Todesfälle im Zusammenhang mit dem MS-Mittel Tysabri, das von der irischen Firma Elan entwickelt und von Biogen vermarktet wird, brachten die Firma in Verruf. Auch Novartis muss bei seiner Pille Gilenya prüfen, warum ein Patient an einer seltenen Nervenkrankheit leidet, derselben, die auch Tysabri auslöste.

Die Firma Merck musste ebenfalls Lehrgeld zahlen. Sie hatte die Schweizer Biotech-Firma Serono und deren MS-Mittel Rebif übernommen. Im Wettlauf um die erste MS-Pille nahm Serono mit Cladribin teil, bekam aber keine Zulassung und stellte die Forschung ein. Inzwischen haben zwei weitere Mittel ein entscheidendes Stadium erreicht. "Wir forschen außerdem, ob man die geschädigten Nerven nicht reparieren kann", sagte Thorsten Eickenhorst, Chief Medical Officer bei Merck. Künftig wolle man den Patienten ein Paket an Maßnahmen bieten, von der Spritze über die Tablette bis zu anderen Formen.

Die medizinische Betreuung allein reicht nicht. Denn der frühe Start der Krankheit und der chronische Verlauf erfordert ein Umdenken der Betroffenen samt ihrer Familie und ihrer Arbeitgeber. Multiple-Sklerose-Gesellschaften bieten sich als Anlaufstellen für private, berufliche, rechtliche und medizinische Fragen an und vertreten die Belange der Kranken gegenüber Politik, Gesetzgebern und Behörden. Gerade sammeln in Frankfurt und Umgebung Bankiersfrauen wie Renate von Metzler und Gerhild Börsig hochwertige Waren aller Art wie Kleider, Hüte, Nippes, Kunst als Spenden für ihren Pfennig-Basar, ein Trödel der gehobenen Art. Über 100.000 Euro kamen zuletzt zusammen.

Auch Nathalie Todenhöfer hat mit ihrem Schicksal erst gehadert, dann aber ihr Leben umgekrempelt. Sie gründete eine Stiftung für MS-Kranke. "Ich möchte den MS-Kranken helfen, denen es viel schlechter geht als mir. Ich glaube, dass das meine Aufgabe ist", schreibt sie.

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