Peter Sloterdijk:Wider die Verteufelung der Leistungsträger

Philosoph Sloterdijk über Zwangssteuern, Zusatzanstrengungen der Stärkeren - und warum er mit Finanzminister Schäuble einfach nicht zusammenkommt.

Marc Beise

Ein veraltetes Menschenbild beklagt der Philosoph Peter Sloterdijk, 62. Als würden wir noch im Absolutismus leben, werde der Bürger als Untertan missachtet. Im demokratischen Zeitalter aber müsse der Mensch als nehmendes und gebendes Wesen verstanden werden. Es wäre besser, der Staat zöge seine Steuern nicht zwangsweise ein, sondern unterstütze ein System des freiwilligen Schenkens, meint Sloterdijk. Das soziale Band erodiere, wenn die Leistungen der Steueraktiven zu einem zwanghaften Automatismus herabgewürdigt würden.

Peter Sloterdijk , dpa. ddp

Peter Sloterdijk regt zum Gedankenexperiment an - hin zur freiwilligen Abgabe.

(Foto: Graphik: Büch; Fotos: dpa, ddp)

SZ: Herr Professor Sloterdijk, Sie fordern die Abschaffung der Zwangssteuern. Meinen Sie das ernst?

Sloterdijk: Ich rege ein ernstes Gedankenexperiment an, denn die Umstellung von Zwang auf Freiwilligkeit stellt in meinen Augen eine der wichtigsten psychopolitischen und moralischen Fragen der Zukunft dar, in Steuerfragen wie in ökologischen Angelegenheiten. Wir leben nicht mehr in absolutistischen Verhältnissen, und Bürger sollen nicht wie Untertanen behandelt werden. Also muss man über das Phänomen der Steuern, sprich der Gemeinwohlleistungen in Zivilgesellschaften, von Grund auf neu nachdenken.

SZ: Wirklich? Das Grundgesetz regelt den Steuerstaat, genügt das nicht?

Sloterdijk: Ich wollte, es wäre so. Wenn Sie die Bestimmungen über das Finanzwesen im deutschen Grundgesetz nachlesen, Artikel 104 ff., fällt auf, dass die Väter des Grundgesetzes nicht einmal den Versuch einer demokratischen Neubegründung von Steuern und Abgaben ins Auge gefasst haben. In diesem Punkt dachten sie in einer staatsabsolutistischen Kontinuität, die in aller Stille aus der Wilhelminischen Ära über die Weimarer Republik und das Dritte Reich hinweg wirkte.

SZ: Ist denn die gemeinhin vorgebrachte Begründung nicht ausreichend, wonach jedes Staatswesen für die Erledigung seiner gemeinschaftlichen Aufgaben eben Steuern braucht?

Sloterdijk: Sie sagen, der Staat "braucht": Aber genau um die Qualität dieses Brauchens und um seine Begründung geht es in der aktuellen Debatte. Das Wort "brauchen" kann autoritär und obrigkeitlich ausgelegt werden; Reste dieser absolutistischen Tradition sind bei uns virulenter, als man vermutet hätte. Das staatliche "Brauchen" kann auch sozialistisch ausgelegt werden: Wenn Eigentum Diebstahl ist, wie die altlinke Vulgata lehrt, dann dürfte ein kräftiges Maß an Gegendiebstahl legitim sein - auch diese Tradition ist bei uns noch auf diffuse Weise mächtig, nicht zuletzt beim akademischen und sozialkritischen Kleinbürgertum, das seine antikapitalistischen Stimmungen nie überprüft hat.

SZ: Und welches ist Ihre Auslegung?

Sloterdijk: Man könnte die Idee, dass der Staat finanzielle Hilfe seitens der Bürger braucht, auch mit einer demokratischen Neubegründung der zivilen Großzügigkeit zugunsten des Gemeinwesens auslegen. Diese dritte zivile Interpretation der Steuern vermisse ich auf der ganzen Linie. Wir haben uns in fiskalischen Dingen so sehr an die Zwangsabgabenkultur angepasst, die alt-autoritäre wie die semi-sozialistische, dass über Alternativen nicht einmal mehr nachgedacht wird, weder bei den Begründungen noch bei den Prozeduren.

SZ: Zur Klarstellung: Sie verstehen unter Zwangssteuern alle Steuern?

Sloterdijk: Es geht mir um den Grundzug unseres Steuersystems, dass es den Gaben- oder Spendencharakter der zivilen Steuer absichtlich ausblendet und stattdessen nur ihren Zwangs-, Pflicht- und Schuldcharakter hervorhebt.

SZ: Glauben Sie wirklich, dass es anders funktionieren würde? Ist Ihr Vorschlag nicht ein Gedankenspiel, das philosophisch interessant sein mag, doch polit-ökonomisch heikel bleibt? Wie steht es mit dem "Free-rider-Problem" (ich will großzügig sein, habe aber den Verdacht, dass mein Nachbar knausert, und ich halte mich auch zurück, um nicht der Dumme zu sein)? Und muss sich der Staat, auf freiwillige Zuwendungen angewiesen, nicht bei potenten Spendern anbiedern?

Sloterdijk: Das neue System würde sich mit der Zeit einspielen, trotz seiner evidenten Schwachstellen. Die zeigen sich ja sofort, und was Sie nennen, wäre nur der Anfang. An diese kritischen Beobachtungen würden aber neue Lernzyklen anschließen, die für Korrektur sorgen. Natürlich müsste man das alternative Regime schrittweise implantieren und die neue Freiwilligkeit in einer Übergangsphase mit dem alten Zwang verbinden, bis der letztere Faktor ganz wegfallen kann. Nach Jahrhunderten der bürgerlichen Duldungsstarre unter dem staatlichen Zwang darf man keine Wunder erwarten.

Das dumpfe Erbe

SZ: Dennoch bleiben starke Zweifel an der Funktionsfähigkeit eines Systems freiwilligen Gebens bestehen.

Sloterdijk: In der Schweiz stimmen die Bürger seit langem über die Höhe ihrer Steuern ab, ohne dass es je zu Hungersnöten gekommen ist. Ich gehe von der anthropologischen These aus, dass Menschen mehr sind als nur gierige Nehmer. Sie müssen sowohl als nehmende wie als gebende Wesen aufgefasst werden. Wir machen uns einer groben Vereinseitigung schuldig, wenn wir die gebende Dimension im menschlichen Wirtschafts- und Sozialverhalten nicht gebührend herausstellen. Diese Ausblendung des Gebens ist ein dumpfes Erbe des 19. Jahrhunderts. Damals kam die These in Umlauf, das Bürgertum, genauer: die Klasse der "Working Rich", der unternehmerischen Wohlhabenden, sei nichts anderes als die Fortsetzung der asozialen Feudal-Aristokratie mit den Mitteln des Unternehmenskapitals. Dies wurde zu einer fixen Idee, deren Schädlichkeit sich im Laufe des 20. Jahrhunderts erwiesen haben sollte.

SZ: Muss man nicht heute den Begriff "Working Rich" durch den Ausdruck Mittelschicht ersetzen? Und sieht man dann nicht, dass es sich nicht mehr bloß um eine elitäre Geldaristokratie handelt?

Sloterdijk: Ich habe in meinem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, mit dem ich im Juni 2009 die Debatte in Gang gebracht habe, ein wenig leichthändig angedeutet, dass gut die Hälfte der Einkommensteuern durch eine relativ kleine Minderheit von Zahlern erbracht wird.

SZ: Stimmt ja auch.

Sloterdijk: Ein Blick in die Statistik verrät: Die oberen zehn Prozent der Steuerbürger leisten mehr als 50 Prozent der Einkommensteuern, und die oberen 20 Prozent über 70. Einige Kritiker haben sich über diesen Hinweis maßlos aufgeregt, als hätte ich ihnen die Möglichkeit wegnehmen wollen, die Wohlhabenden anzuklagen. Man hat gefolgert, ich würde mich nur für die Schicksale der wenigen erwärmen und den Rest ignorieren. Das Missverständnis könnte nicht größer sein. Mit dem Begriff "Leistungsträger" verbinde ich eine strikt technische Definition: Er steht für die 25 Millionen Steueraktiven, die zur Stunde praktisch die Gesamtheit des Steueraufkommens in der Bundesrepublik tragen - bei einer Gesamtpopulation von 82 Millionen Einwohnern.

SZ: Wobei allerdings die indirekten Steuern inzwischen einen großen Anteil, nämlich etwa die Hälfte des Gesamtvolumens ausmachen.

Sloterdijk: Das ist mir nicht neu. Man verschweigt bloß gern, dass die an den Konsum gebundenen Steuern nicht gleichmäßig von der gesamten Bevölkerung aufgebracht werden. Der Löwenanteil entfällt auch hier wieder auf die Bezieher der höheren und mittleren Einkommen, weil diese sich naturgemäß als die konsumintensiveren Haushalte hervortun. Wenn es ans Zahlen geht, ob Einkommensteuer, Mehrwertsteuer, Erbschaftsteuer, Kapitalertragsteuer, Mineralölsteuer und so weiter, läuft es immer wieder auf dieselbe Gruppe hinaus. Im Wesentlichen dreht sich alles um die kritischen 25 Millionen, nicht zuletzt um deren oberes Drittel, ohne dessen fiskalische Feuerkraft unser politisches Modell unhaltbar wäre.

SZ: Und diese 25 Millionen werden vom Staat ausgeplündert?

Sloterdijk: Das ist hart formuliert. Was Plünderungen angeht, denken bei uns viele noch immer ganz anders herum. Die größeren Steueraktiven werden als Ausbeuter beargwöhnt, denen nur Recht geschieht, wenn man sie stark belastet. Die Missdeutung der Unternehmenskultur ist bei uns ein alter Reflex. Man denunziert allzu gern diejenigen, die etwas zu geben haben, indem man behauptet, sie hätten nur zu geben, weil sie vorher gestohlen haben. Der Glaube an die Legitimität des Gegendiebstahls hat den Bankrott des Sozialismus in den dumpferen Bewusstseinsschichten überlebt - nicht zuletzt bei den intellektuell stehengebliebenen Soziologieprofessoren, die sich in der aktuellen Debatte zu Wort gemeldet haben.

SZ: Hat dieser Zwangscharakter des Systems, der seit dem 19. Jahrhundert existiert und von dem Sie sagen, dass er nicht mehr zeitgemäß sei, die Menschen möglicherweise schon so deformiert, dass sie zum freiwilligen Geben gar nicht mehr bereit wären?

Sloterdijk: Wen wundert es, wenn im Klima der einseitigen Gier-Theorie viele Leute wirklich so werden, wie die Kritiker behaupteten? In anderen Nationen lässt sich die Gegenprobe machen. Ich habe kürzlich Statistiken gesehen, wonach in der Bundesrepublik im Jahr 2008 etwa vier Milliarden Euro für philanthropische und kulturelle Zwecke gespendet worden sind. Das klingt zunächst ganz gut. Doch in derselben Zeit sind in den USA nahezu 310 Milliarden Dollar freiwillig aufgebracht worden. Selbst wenn man die Größe der Populationen aufrechnet, ergibt sich für die USA beim Spenden eine 20-fache Überlegenheit. Und man kann nicht sagen, dass die Amerikaner mit ihren Zwangssteuern nicht auch schon reichlich belastet wären.

SZ: Und woran liegt das?

Sloterdijk: Amerikaner glauben nicht daran, dass Erfolg Schuld erzeugt. Das Menschenbild, das ihrer politischen Kultur zugrunde liegt, lässt für die generöse Dimension im Sozialverhalten große Spielräume offen. Damit wird in den Bürgern die Geberdimension systematisch herausgefordert. Wir wären gut beraten, uns auch in Deutschland und Europa zu einer Zivilisation des Geberwettbewerbes zu bekehren, statt weiter die einäugige Gier- und Profitjäger-Anthropologie zu pflegen, die uns mit den fragwürdigsten Traditionen des 19. Jahrhunderts verbindet.

"Verwunderung theoretisch bewältigen"

SZ: Speist sich Ihr Zorn auf die herrschende Ideologie, wie Sie es nennen, aus eigenem Erleben? Sind Sie der Meinung, dass Sie persönlich zu viel Steuern zahlen?

Sloterdijk: Im Gegenteil. Meine Vorschläge haben ein philosophisches Motiv, aber auch eine autobiographische Note. Ich bin prinzipiell überzeugt, es tut den modernen Gesellschaften nicht gut, wenn man die gebende Dimension in der menschlichen Psyche kleinredet. Sicher bringe ich einen privaten Zugang zu diesen Fragen mit. Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen und stelle doch seit einer Weile mit einer Mischung aus Genugtuung und Verwunderung fest, dass ich in die Lage gekommen bin, nicht nur Bagatellbeträge an die Finanzbehörden abzugeben. Ich meine, es passt zu einem Philosophen, wenn er versucht, Verwunderung theoretisch zu bewältigen.

SZ: Sie würden aber diese Beträge gerne nicht zwangsweise abgeben müssen, sondern mitentscheiden, wie Sie Ihr Geld der Gesellschaft zur Verfügung stellen?

Sloterdijk: Ich gehe jedenfalls nicht davon aus, dass ich jedes Jahr beim Gemeinwesen hohe Schulden anhäufe, die ich tilgen muss, um nicht straffällig zu werden. Mir kommt es hartnäckig so vor, dass ich seit einer Weile dem Gemeinwesen etwas aus meinen Überschüssen abgebe. Im aktuellen System kann ich leider nicht mehr tun, als mir privatissime einzubilden, dies seien Spenden und nicht Bußgelder für ein Leistungsvergehen.

SZ: Findet Ihr Ansatz denn eine Entsprechung in der praktischen Politik? Platt gefragt: Muss jemand, der so denkt wie Sie, FDP wählen?

Sloterdijk: Ich kann seitens der Freien Demokraten nicht den geringsten Ansatz einer positiven Resonanz auf meine Thesen beobachten. Mit Genugtuung habe ich hingegen wahrgenommen, dass der neue Bundesfinanzminister sich offenkundig für meine Überlegungen interessiert, andernfalls hätte er mich nicht vor kurzem nach Berlin zu einer Aussprache eingeladen.

SZ: Wie verlief das Gespräch mit Wolfgang Schäuble?

Sloterdijk: Wir kamen terminlich nicht zusammen. Aber ich hoffe, wir holen es nach.

SZ: Und was werden Sie Herrn Schäuble dann sagen?

Sloterdijk: Ich würde ihm sinngemäß das Gleiche sagen wie Ihnen heute. Das soziale Band erodiert, wenn man die Leistungen der Steueraktiven zu einem zwanghaften Automatismus herabdrückt - als wären die Tüchtigen auf eine mysteriöse Weise strafbar.

SZ: Und was kann die Politik, was kann ein Finanzminister tun? Steuern senken?

Sloterdijk: Nein, von der Weisheit der Steuersenkungspolitik bin ich nicht a priori überzeugt. Wir können einzelne Steuern - oder Abgabenvorschläge, wie ich lieber sagen würde - ohne weiteres höher ansetzen, wenn die kollektiven klimatischen Voraussetzungen stimmen. Es käme darauf an, den Stärkeren zu erklären, warum im Blick auf diese oder jene Aufgabe eine Zusatzanstrengung öffentlicher Großzügigkeit plausibel ist.

SZ: Ein gut motivierter Solidaritätszuschlag zum Beispiel zur Bewältigung der Kosten der Finanzkrise wäre etwas, mit dem Sie sich anfreunden könnten?

Sloterdijk: Warum nicht - immer unter der Prämisse, dass dabei die gebenden Tugenden angesprochen werden, zumal bei den Krisenverursachern. Man darf nicht länger mit der Fiktion daherkommen, die Leistungsträger täten zu wenig und müssten noch mehr Druck kriegen. Aber die Starken bei ihrer Stärke aufrufen, das ist sinnvoll.

SZ: Haben nicht alle Parteien bis hin zur Linkspartei im Bundestagswahlkampf die Bedeutung der Mittelschicht hervorgehoben und gefordert, dass die Leistungsträger nicht bestraft werden dürfen, sondern im Gegenteil entlastet werden müssen?

Sloterdijk: Mit Verlaub, das waren Lippenbekenntnisse. Die meisten Parteipolitiker interessieren sich sehr wenig für die Gedanken und Gefühle der Leute, deren Geld sie ausgeben. In Steuerfragen denken sie nach wie vor rein etatistisch. Sie glauben an die wohlmeinende Kleptokratie, kaum anders als die Fürsten und die fiskalische Obrigkeit von einst.

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