Ostdeutschland:Jobcenter klagen gegen sittenwidrige Niedriglöhne

Stundenlöhne von bis zu 1,32 Euro: Jobcenter müssen solche Gehälter mit Hartz IV ergänzen, damit es für die Betroffenen überhaupt zum Leben reicht. Jetzt gehen die Behörden in ganz Ostdeutschland gerichtlich gegen die Arbeitgeber vor.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Es ging los mit dem Besitzer einer Pizzeria in Stralsund. Der Mann hatte einer Kellnerin, zwei Küchenhelfern und zwei Pizzaboten Stundenlöhne von minimal 1,32 Euro gezahlt, bis das Jobcenter den sparsamen Arbeitgeber verklagte und vor dem Arbeitsgericht recht erhielt. Für die Richter war der Fall klar: Der Pizzeria-Betreiber hatte sittenwidrige Löhne gezahlt. Er musste deshalb der Behörde 6600 Euro erstatten, weil sie seinen Beschäftigten wegen der niedrigen Vergütung ergänzend staatliche Grundsicherung (Hartz IV) überwiesen hatte. Das war Anfang 2010. Inzwischen macht das Beispiel Schule. In ganz Ostdeutschland gehen die Jobcenter derzeit gegen Betriebe vor, die unzulässig niedrige Löhne zahlen. Das ergab eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung.

Ein Rechtsgeschäft ist nichtig, wenn es gegen die guten Sitten und "gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" verstößt. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, so sieht es der BGH. Was das für die Höhe von Löhnen bedeutet, hat das Bundesarbeitsgericht festgelegt. Danach ist eine Bezahlung sittenwidrig, wenn sie nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlten Lohns erreicht.

Vor allem in Ostdeutschland kann sich dieses Urteil für Arbeitnehmer in Euro und Cent auswirken. In den neuen Bundesländern verdiente 2011 jeder vierte Beschäftigte weniger als 8,50 Euro brutto. Dass die Jobcenter mit dem Geld des Steuerzahlers Löhne aufbessern, ist hier deshalb weit verbreitet. Sittenwidrige Löhne liegen in der Regel allerdings unter fünf Euro, meist noch deutlich darunter. Die Jobcenter schauen sich daher vor allem Verdienstbescheinigungen mit einem Stundenlohn von weniger als drei Euro an und prüfen, ob eine sittenwidrige Bezahlung vorliegt.

Jobcenter klagen auf Rückzahlung fünfstelliger Beträge

Wie oft sie dabei bundesweit fündig werden, ist nicht bekannt. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat gerade den internen Leitfaden "Lohnwucher" aktualisiert, erhebt allerdings nicht, wie häufig die eigenen Mitarbeiter in den Jobcentern auf sittenwidrige Löhne stoßen. Aufschluss bieten die Stichproben im Osten der Republik: Das Jobcenter Dahme-Spreewald untersuchte seit Anfang des Jahres 250 Arbeitsverträge und fordert nun von zehn Arbeitgebern insgesamt 43.000 Euro zurück. Eine Pferdewirtin erhielt zum Beispiel 4,10 Euro brutto pro Stunde. Zustehen würden ihr laut Tarifvertrag 7,95 Euro.

Im Jobcenter Brandenburg geht es um 13.000 Euro, die das Amt für 15 erwerbstätige Hartz-IV-Empfänger zurückhaben will. Beim Jobcenter Neubrandenburg liegt die Streitsumme bei 65.000 Euro, 17.000 sind bereits eingetrieben. So erhielt eine Verkaufshilfe 1,67 Euro die Stunde, ein Mitarbeiter eines Imbissbetriebs 2,70 Euro und ein Arbeitnehmer in einem Callcenter weniger als zwei Euro. "Die Vergütung richtete sich dabei nach dem Anrufaufkommen und nicht nach der Arbeitszeit", sagt der Geschäftsführer des Jobcenters Andreas Wegner.

Er hält sittenwidrige Löhne nicht für ein "flächendeckendes Phänomen". Es handele sich um Einzelfälle, häufig bei Teilzeitbeschäftigten und Minijobbern, die allerdings "nicht hinnehmbar" seien. Häufig seien eher unbedarfte Arbeitgeber betroffen, die selbst ums Überleben kämpften. So sieht es auch sein Kollege Christian Gärtner vom Jobcenter Brandenburg. "Wir wollen keine Hetzjagd veranstalten", sagt er. Es gebe Firmen, die dies "aus Unwissenheit tun, weil sie die Definitionen von sittenwidriger Arbeit gar nicht kennen". Gärtner schließt jedoch nicht aus, dass auch Arbeitgeber dabei sind, die bewusst Dumping-Löhne zahlen, weil der Staat ja mit Hartz IV aufstockt. "Nur wird uns das keiner öffentlich sagen." Hört man sich in den Geschäftsleitungen von Jobcentern um, ist auch von Schwarzarbeit die Rede. Nicht selten gebe es Arbeitsverträge nur der Form halber. In der Realität bekämen Mitarbeiter dann mehr bar auf die Hand.

Sicher ist: Die Jobcenter verlangen jeweils die Differenz zwischen überwiesenen Hartz-IV-Leistungen und dem Betrag zurück, den sie hätten zahlen müssen, wenn der Arbeitgeber den eigentlich fälligen Lohn gewährt hätte. Sperrt er sich dagegen, geht es vor das Arbeitsgericht. Das Oberlandesgericht Naumburg hatte bereits Ende 2010 entschieden: Wer Reinigungskräften Stundenlöhne von maximal 1,79 Euro und minimal unter einem Euro bezahlt, begeht eine Straftat (Aktenzeichen: 2 Ss 141/10).

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