Ökonomen-Serie:Von Polygamie bis Privatinsolvenz

Lesezeit: 5 min

Michèle Tertilt ist strenge Theoretikerin - aber eine, die gerne praktische Probleme in den Blick nimmt. Dabei stößt sie auch mal Dogmen um.

Von  Michael Kläsgen

Im Büro von Michèle Tertilt hängt eine große weiße Tafel, die von oben bis unten dicht mit langen Formeln beschrieben ist. Für Nicht-Mathematiker sind die Chiffren nicht zu entschlüsseln. Aber Michèle Tertilt, die Professorin, 43 Jahre, offene lange Haare, helle Jeans, steht an der Tür und lacht. Sie gilt als Shootingstar, als eines der größten Talente unter den jungen deutschen Ökonomen. 2013 wurde sie für ihre Forschungsarbeit als erste Frau mit dem renommierten Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik ausgezeichnet. Derzeit gibt sie mit anderen Kollegen als erste in Deutschland lehrende Wissenschaftlerin die unter Makroökonomen wohl angesehenste Fachzeitschrift The Review of Economic Studies heraus.

Und jetzt steht sie da in ihrem Büro der Universität Mannheim, das gegenüber vom modernen Bau des ZEW liegt, des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung. Auf den ersten Blick fällt erst mal auf: Der Raum unterscheidet sich in seiner Schlichtheit höchstens in einem Punkt von Millionen anderen Büros in Deutschland: Tertilt hat ihr Fahrrad mittendrin abgestellt. Es lehnt an ihrem Schreibtisch, gegenüber dieser Tafel mit all den Formeln.

"Das sind Versuche, die Konsequenzen von asymmetrischer Information zwischen Eheleuten zu analysieren", erläutert sie. Wer sich jetzt praktische Lebenshilfe für daheim erwartet, irrt. Es geht um Entwicklungspolitik, aber das erwähnt Tertilt nicht, und zwar nicht, weil sie es vergessen hätte, sondern weil es um die Allgemeingültigkeit der Aussagen geht. Sie hat die Formeln neulich mit einem Kollegen auf die Tafel gezaubert, um der Lösung eines zentralen Problems einer ihrer gegenwärtigen sechs Arbeitsprojekte ein Stück näher zu kommen. Angenommen, die Frau erhält neben dem normalen Familieneinkommen einmalig zusätzliche Einkünfte, was macht sie dann damit und wie redet sie darüber? Womöglich gar nicht?

Vielleicht stimmt es doch nicht immer, dass Entwicklungshilfe am besten an Frauen geht?

Man erkennt allein an diesem Beispiel, wie sehr die Makroökonomin Tertilt Theoretikerin ist, Theoretikerin für Phänomene aus der praktischen Lebenswirklichkeit. Und man erkennt, wie sie vorgeht: akribisch sorgfältig, systematisch und stets mit dem Ziel, ein grundlegendes Modell mit einem konkreten Nutzen zu entwickeln. Und dabei kennt sie keine Denkverbote. Denn was sie da an die Wand skizziert hat, wirkt nur auf den ersten Blick abstrakt-harmlos. Bei näherem Hinsehen könnte es größere Wirkung entfalten und festgefügte Denkmuster einreißen.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: SZ)

Denkmuster, die besagen, dass es grundsätzlich sinnvoller sei, Entwicklungshilfe an Frauen zu geben. Entwicklungshilfe-Organisationen rund um den Globus und die Weltbank scheinen gegenwärtig davon überzeugt zu sein, dass es besser sei, eher Frauen als Männern zu helfen. Denn Frauen, so die gängige These, stecken das Geld in die Kinder, also in Bildung, Wachstum und die Zukunft. Männer hingegen versaufen es, verkürzt ausgedrückt.

Ein politisch heikles Thema. Stellt jetzt ausrechnet eine Frau die Hilfe für Frauen infrage? Nein, Tertilt bedauert, dass allem Anschein zum Trotz nur ein Bruchteil der Entwicklungshilfe wirklich bei den Frauen landet. Das meiste Geld fließe an Politiker, Institutionen oder Infrastrukturprojekte und damit in männliche Hände. "Aber was wir sagen wollen, ist: Bitte denkt nicht, das ist jetzt das Wundermittel." Tertilt hat mit ihrem Kollegen zwei Bedingungen herausgearbeitet, die nach ihren Erkenntnissen notwendig sind, damit die an Frauen gezahlte Entwicklungshilfe Wachstum befördert: Erstens muss der Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau groß sein, und zweitens muss das Land auf einem Entwicklungsstand sein, in dem Investitionen in Bildung fruchten. In ganz armen Ländern hingegen könnte sich die Hilfe an Frauen stattdessen nachteilig auswirken. Denn dann könnte sie Investitionen in grundlegende Dinge wie Straßen, Häuser oder Schulen kompensieren.

Es ist nicht so, dass Tertilt mit diesen oder anderen Erkenntnissen sofort von sich aus aufwarten würde. Im Gegenteil, man muss schon mitdenken und nachfragen, dann leitet die Professorin die Hypothese im Gespräch didaktisch her. Sie steigt damit aber nicht ins Gespräch ein. Dass sie vor Energie sprüht, steht dazu nicht im Widerspruch. Tertilt ist Forscherin durch und durch. Man spürt, dass sie Spaß am Diskurs, am Denken von Neuem und an der wissenschaftlich einwandfreien Analyse hat.

Ein Schlüsselmoment in ihrer Karriere war die Teilnahme am Doktorandenprogramm der University of Minnesota. Unter anderem auch wegen der Abende, an denen sie mit den Kommilitonen begeistert und hochtheoretisch über das Gelernte debattierte. Der Professor "subventionierte", wie sie scherzend sagt, freitags ab fünf Uhr das Bier und die Doktoranden diskutierten über Mindestlohn, Finanzkrisen und andere aktuelle politische Themen. In Minnesota festigte sich ihr Entschluss, Forscherin zu werden; aber keine Forscherin im luftleeren Raum, sondern eine, die sich mit dem befasst, was gerade in der Welt passiert.

Nicht nur ihre Sprache hat einen amerikanischen Klang - die Zeit in den USA hat sie geprägt

In den beiden letzten von insgesamt sechs Jahren schrieb sie ihre Dissertation über den Zusammenhang von Polygamie und Spar- beziehungsweise Investitionsverhalten in Afrika. Während des Programms lernte sie zwei Kommilitonen kennen, mit denen sie noch heute, 15 Jahre später, in wichtigen Fachzeitschriften publiziert. In diesen Jahren, sagt sie, sei ihr Denken maßgeblich geprägt worden. Und auch die Sprache der Schnellrednerin hat noch einen amerikanischen Klang.

Von Minnesota schaffte sie den Sprung an die Eliteuniversität Stanford und wurde assistant professor, mit nur 31 Jahren. Sieben Jahre verbrachte sie an der amerikanischen Westküste, arbeitete hart und publizierte viel, bis sie den Wunsch verspürte, in die Nähe ihrer Familie zurückzukehren. In Bielefeld, in der Nähe ihrer westfälischen Heimat, hatte sie Volkswirtschaft studiert. Aber die Wahl fiel eindeutig auf Mannheim, weil die Universität dort ihre Strukturen stark amerikanisiert und die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät über Deutschland hinaus einen Ruf hat. Außerdem leben ihre Geschwister im Frankfurter Raum. Also Mannheim.

Der französische Nobelpreisträger Jean Tirole, der Ende August dort bei einer Tagung der besten europäischen Wirtschaftswissenschaftler war, nennt sie die beste Universität Deutschlands. Klassische Lehrstühle gibt es dort nicht mehr, sondern flache Hierarchien. Tertilt fühlt sich hier wohl. Auch, weil sie zum Forschen und Publizieren kommt. Gerade hat sie mit Kollegen einen Artikel über Konsumentenkredite und -insolvenzen in einer renommierten Fachzeitschrift untergebracht. Das Thema rund um Privatinsolvenzen ist ihr zweites Standbein. Auch darauf ist sie in Minnesota aufmerksam geworden. Ihr Hauptgebiet und ihre Nische ist aber die makroökonomische Forschung mit dem Schwerpunkt Familien- und Entwicklungsökonomie.

Zwei Lieblingsbücher

1 / 2
(Foto: N/A)

Michèle Tertilt haben diese beiden Bücher besonders inspiriert: "The elusive quest for growth" von William Easterly. Das Buch hat sie noch in Stanford gekauft. Es sei ein guter Einstieg in die Entwicklungsökonomie und eine spannende Lektüre.

Zwei Lieblingsbücher

2 / 2
(Foto: N/A)

Und "A history of the wife" von Marilyn Yalom, Historikerin, Stanford-Professorin und Feministin. Sie beschreibe in ihrem Buch, wie sich die Position der Ehefrau über die Jahrhunderte verändert hat. Tertilt sagt, sie habe dabei Erstaunliches gelernt.

Tertilt ist Mitglied der EEA, eben jener Vereinigung bedeutender europäischer Wirtschaftswissenschaftler, und vieler anderer Fachgremien. Ihr Lebenslauf füllt sieben Seiten. Ihre Tage sind straff organisiert, und auch die Freizeit überlässt sie nicht dem Zufall. Auf dem Tisch zwischen Fahrrad und Tafel liegt ein Autoschlüssel. Mit dem Wagen fährt sie, so die Zeit es zulässt, in den Wald, das Mountainbike im Kofferraum. Damit rast sie die Hänge hinab. Sie liebt den Sport, weil sie auf jede Wurzel achten muss, um nicht zu stürzen. Das beansprucht die ganze Konzentration. Und nur so kann Tertilt richtig abschalten.

Ihren Sommerurlaub verbrachte sie auf Naxos. Nicht, um in der Sonne zu liegen, sondern zum Kitesurfen. Auch so ein Sport, bei dem sie den Kopf frei kriegt. Es war die Zeit, in der man in Griechenland kein Geld aus dem Automaten ziehen konnte. Tertilt äußert sich nicht gern zu Griechenland, es sei ja nicht ihr Fachthema. Aber dass ein Land nicht auf die Beine kommt, wenn man die Geldautomaten sperrt, sei klar. So klar, dass die Ökonomin dazu nicht einmal eine komplizierte Formel an die Wand werfen muss.

© SZ vom 10.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: