Normen:Wie DIN-Normen entstehen

STIFTUNG WARENTEST

Wenn die Stiftung Warentest Produkte wie Rasenmäher untersucht, orientiert auch sie sich an Prüfnormen - variiert sie aber wenn nötig.

(Foto: Andreas Meichsner/laif)

Von der Waschmaschine bis zum Blatt Papier ist alles genormt. Doch um die Regeln gibt es viel Streit.

Von Stephan Radomsky

Wenn ein Prüfingenieur wäscht, ist kein Platz für Zufälle. Alles ist vorgeschrieben, alles wird gemessen: wie viel Wasser in die Waschmaschine fließt, wie hart es ist und wie hoch der Druck, welche Textilien gewaschen werden - hauptsächlich Bettlaken und Handtücher -, wie sie gefaltet und in die Trommel gestapelt werden. Sogar der Dreck ist standardisiert: spezielle Teststreifen mit Flecken von Talg, Ruß-Mineralöl, Blut, Kakao und Rotwein. All das ist strikt festgelegt in einem 213 Seiten dicken Drehbuch: der Norm DIN EN 60456.

Weder der Name des Prüfingenieurs darf genannt werden, noch der des Labors oder wo es sich befindet. Das ist Bedingung für den Besuch. Das Risiko wäre zu groß, denn hier lassen auch Verbraucherschützer testen, wie gut Elektrogeräte wirklich sind. Wenn bekannt würde wo, könnte das Labor von den Herstellern unter Druck gesetzt werden. Das sei schon vorgekommen. Deshalb keine Namen.

Waschen als Wissenschaft - und das auch noch top secret? Durchaus. Schließlich geht es um Milliarden Euro, Umweltschutz und die Stromrechnung jedes Haushalts. Allein weil es verbindliche Regelwerke für Produkte und Dienstleistungen gibt, wächst die Wirtschaft hierzulande um jährlich rund 17 Milliarden Euro, hat das Deutsche Institut für Normung (DIN) errechnet. Solche einheitlichen Vorgaben machen die Produktion effizienter und erleichtern es, neue Märkte zu erschließen. Außerdem erzeugen sie Vertrauen beim Verbraucher, das fördert den Verkauf. Insgesamt 33 893 Normen sind deshalb beim DIN in Berlin verzeichnet.

33893 Normen

sind derzeit beim Deutschen Institut für Normung, kurz DIN, verzeichnet. Die wohl bekannteste von ihnen ist DIN 476 und legt die Formate für Schreibpapier fest. Das A4-Format beispielsweise hat demnach die Maße 210 mal 297 Millimeter. Genauso groß sind übrigens auch die Türgriffe am Eingang zur DIN-Zentrale in Berlin.

Umweltschützer kritisieren die Macht der Industrie

Sie regeln praktisch den gesamten Alltag, fast jedes Produkt und viele Dienstleistungen. Meist geschieht das im Hintergrund, gar nicht wahrnehmbar. Nur das Ergebnis sieht der Verbraucher, wenn der Prüfingenieur mit der Wäsche fertig ist zum Beispiel: Denn Testnorm DIN EN 60456 entscheidet darüber, ob eine Maschine das Energielabel "A+++" bekommt. Auch ob die Stiftung Warentest die begehrte Note "sehr gut" vergibt, hängt von Tests ab, die sich an der Prüfnorm orientieren.

Aber liefern die Regelwerke und Labortests tatsächlich vernünftige Ergebnisse? Oder wird, wie vor allem Umweltschützer immer wieder kritisieren, nur so geprüft, dass die Hersteller dabei gut aussehen? Volkswagen und die manipulierten Abgastests lassen zweifeln. Der Fehler liege hier im System, so die Kritik: Nicht nur Produktions- sondern auch Prüfnormen würden maßgeblich von der Industrie geschrieben. Und die achte darauf, mit sich selbst nicht allzu streng zu sein.

"Wir betreiben hier auch Industriepolitik", sagt DIN-Vorstand Rüdiger Marquardt offen. Wer an den Spielregeln mitarbeite, der sichere sich eben womöglich auch einen Vorteil. Zugleich aber profitierten die Verbraucher von standardisierten Produkten, weil sie sicherer und günstiger seien, argumentiert er.

Keine Norm kann alle Ansprüche erfüllen

Am Ende ist jede Norm ein Kompromiss, der von den Beteiligten - also Unternehmen, Forschern, Verbraucherschützern und Behörden - ausgehandelt wird. Das DIN bietet dafür nur das Forum, in dem sich die Fachleute treffen können. Die meisten der insgesamt rund 32 000 beteiligten Experten stammt dabei tatsächlich aus der Industrie, aber eben nicht ausschließlich. Prinzipiell kann sich jeder Interessierte beteiligen und beispielsweise Entwürfe für Normen im Netz kommentieren. Nur wenn sich dann am Ende alle einig sind, können Vorgaben neu formuliert oder geändert werden.

Vor allem die Prüfnormen sind deshalb nie perfekt: Die Verbraucher wollen realistische Angaben, die Ingenieure vor allem verlässliche Testverfahren. Das bedeutet für sie, dass die Ergebnisse vergleichbar sind, ohne jeden Spielraum. Kein Haushalt erfüllt aber jemals diese Vorgaben. Daheim werden eben auch Jeans gewaschen und kirschsaftverschmierte T-Shirts. Die Diskussion um die Alltagstauglichkeit der Tests führe deshalb "an unserer Arbeit völlig vorbei", findet DIN-Vorstand Marquardt. "Reproduzierbar heißt nicht, dass der Konsument daheim zum selben Ergebnis kommt." Es gehe darum, vergleichbare Ergebnisse zu bekommen, immer und immer wieder, mit verschiedenen Geräten, aber den immer selben Methoden.

Das System kann deshalb bei aller Akribie nie lückenlos sein. So misst der Prüfingenieur nach DIN EN 60456 zwar, wie viel Strom und Wasser jede Waschmaschine verbraucht und wie viel Lärm sie macht. Vieles ist aber auch bewusst nicht festgelegt: wie warm ein 60-Grad-Programm eigentlich waschen muss, zum Beispiel. "Die Frage wäre dann nämlich, wann und wo gemessen wird", erklärt der Techniker. "Direkt am Heizstab? Irgendwo im Wasser? An der Wäsche? Zu Beginn, in der Mitte oder am Ende des Programms?" Es gäbe jedes Mal andere Werte, unbrauchbar. Oder die Waschdauer: In vielen Sparprogrammen weicht die Wäsche erst lange ein, um kälter waschen zu können. Das spart Strom. Wo aber soll da die Grenze liegen?

Eine Welt, "die sich in vielen Punkten von der Realität abgekoppelt hat"

Vielen Verbraucher nutze die Ersparnis so aber nichts, weil sie für diese Programme nicht die Zeit haben, kritisiert Holger Brackemann, Chef-Produkttester der Stiftung Warentest. Oft nutzten sie dann doch die Standard-Programme - die bei weitem nicht "A+++" sind. Solche Schlupflöcher ärgern Brackemann.

Müssten Verbraucher- und Umweltschützer also mehr mitreden?

In Deutschland seien sie bereits "wirklich vorbildlich vertreten", sagt der Warentester. Er sitzt selbst im zuständigen Gremium, dem DIN-Verbraucherrat. "Trotzdem ist unser Einfluss dort begrenzt." Meist müsse man sich auf EU-Ebene einigen. Blockiere der Verbraucherrat deshalb eine Norm beim DIN, werde sie dann oft trotzdem von den anderen EU-Mitgliedern verabschiedet.

Vor allem aber seien die Testnormen "nicht gemacht für die wirtschaftliche Bedeutung, die sie heute haben", sagt Brackemann. "Das Problem ist, dass da eine Welt gebaut wird, die sich in vielen Punkten von der Realität abgekoppelt hat." Die Stiftung Warentest orientiert sich deshalb zwar an den DIN-Normen, ändert sie für sich aber ab, wo sie das für angemessen hält. "Unsere Testergebnisse führen dann oft viel schneller zu einem Umdenken bei den Herstellern, als wenn endlos in den Normenausschüssen diskutiert wird."

Inzwischen lässt der Bund einige Prüfnormen selbst überprüfen

Inzwischen hat sich auch die Bundesregierung eingeschaltet. Seit 2016 überprüft die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) die Testmethoden für Dunstabzugshauben, Wäschetrockner, Klimaanlagen und Wärmepumpen. Die Auswahl sei bewusst zufällig, sagt Projektleiter Floris Akkerman. Über drei Jahre sollen er und seine Leute die Testnormen möglichst vielfältiger Geräte auswerten und beurteilen, ob sie sinnvoll sind und ausreichend. Wenn sie dann Änderungsvorschläge haben, müssten sie die beim DIN einbringen. "Dieses Engagement ist für uns auch neu, bisher hat sich der Staat da weitgehend herausgehalten", sagt Akkerman.

"Wir wollen ja, dass die Geräte reagieren"

Im namenlosen Testlabor machen sie dazu so ihre eigenen Gedanken. Es werde trotz der Causa VW noch immer viel zu wenig diskutiert, wie smarte Geräte die Tests erkennen und den Verbrauch künstlich nach unten regeln, sagt der Prüfingenieur. Es gebe bereits Hinweise, dass nicht nur Dieselautos das tun, sondern auch Staubsaugerroboter und Fernseher. Bereits nachgewiesen wurde es bei einem Kühlschrank-Modell in Australien.

"Wir wollen ja, dass die Geräte auf die Bedingungen reagieren, um immer möglichst effizient zu arbeiten", sagt der Ingenieur. Die Grenze zum Betrug sei da aber schmal. Im Labor reagieren sie darauf, indem sie den Geräten die Wlan-Verbindung verwehren und die Bedingungen doch mal leicht verändern. Nur um zu sehen, wie das die Messwerte beeinflusst. Beim offiziellen Test läuft dann aber natürlich wieder alles streng nach Regelbuch ab.

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