Nordrhein-Westfalen:Ein Land im Umbruch

Das bevölkerungsreichste Bundesland hat sich nach dem Ende der Montanindustrie auf neue Branchen wie Informationstechnologie konzentriert. Doch die Arbeitslosigkeit ist immer noch hoch.

Von Holger Pauler

Die große Zeit der Montanindustrie ist längst vorbei und die meisten Zechen und Stahlwerke haben den Betrieb eingestellt. Dennoch ist Nordrhein-Westfalen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Deutschland und für Europa. Das Land erzielt jährlich rund 4,6 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) und ist damit eine der bedeutendsten Wirtschaftsregionen Europas. Allein 16 der 50 umsatzstärksten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen - darunter acht Dax-Konzerne. "NRW liegt als eine der größten Volkswirtschaften der Welt gleichauf mit den Niederlanden und noch vor der Schweiz, Schweden oder Saudi-Arabien", sagt Karl-Uwe Bütof, Leiter der Abteilung Industrie im Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen (MWEIMH).

Industrieproduktion und industriebezogene Dienstleistungen bieten immer noch die Hälfte aller Arbeitsplätze, allerdings ist der Dienstleistungsanteil in den zurückliegenden Jahren ständig gewachsen. Lag deren Anteil am BIP im Jahr 1970 noch bei 42 Prozent, so ist er im Jahr 2014 auf 71 Prozent angestiegen. Im selben Zeitraum verringerte sich der Anteil der Industrie von 56 auf 29 Prozent. Vor allem unternehmensnahe Dienstleister aus den Bereichen Planung, Beratung, EDV, Forschung und Entwicklung profitieren.

Dass das Bundesland in vielen Bereichen die Spitzenposition belegt, liegt auch seiner Größe: Das mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land der Bundesrepublik hat im Vergleich zu anderen Bundesländern die meisten Hochschulen (72), außerdem je 13 Fraunhofer- und Max-Planck-Institute sowie weiteren Forschungseinrichtungen. Auch die Verkehrsinfrastruktur ist durchaus beeindruckend: Nordrhein-Westfalen verfügt bundesweit über das dichteste Straßen- und Schienennetz und mit den Großflughäfen Düsseldorf und Köln/Bonn über zwei Drehkreuze mit internationaler Anbindung. Ein weiterer Vorteil ist die Anbindung an die großen Seehäfen in Antwerpen und Rotterdam über den Rhein oder die Schiene. Etwa 20 Prozent der Güter, die in Rotterdam oder Antwerpen gelöscht werden, landen im größten Binnenhafen der Welt, in Duisburg, und werden von dort verteilt. Für ein Land, das sehr stark vom Export abhängig ist, ein wichtiger Pluspunkt.

"Eine große Stärke Nordrhein-Westfalens liegt in seiner Vielfalt", sagt Matthias Mainz, Geschäftsführer Wirtschaftspolitik, Industrie- und Handelskammer Nordrhein-Westfalen (IHKNRW). Allein 80 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und 82 Prozent der Auszubildenden sind in mittelständischen Unternehmen tätig. "Es gibt zahlreiche Mittelständler in der Industrie und Dienstleister, die Weltmarktführer sind", sagt Mainz. Um deren Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Geschäftspotenziale der Digitalisierung erschließen, hat das Bundeswirtschaftsministerium vor Kurzem eines von fünf nationalen "Kompetenzzentren Mittelstand 4.0" in Nordrhein-Westfalen eingerichtet. Es wird an den Standorten Aachen, Dortmund und Ostwestfalen-Lippe umgesetzt und vom Bund mit 7,4 Millionen Euro gefördert. "Das Zentrum bildet auf einer Strecke von 260 Kilometern einen Bogen über das gesamte Bundesland und soll so als Anlaufstelle für kleine und mittlere Unternehmen aus allen Landesteilen dienen", sagt Mainz.

Dennoch gibt es im Land nicht zu übersehende Probleme. Die Arbeitslosenquote ist nach wie vor hoch. Mit 8,3 Prozent liegt sie um ein Viertel höher als im Bundesdurchschnitt (6,7 Prozent). Innerhalb des Landes gibt es dabei große Schwankungen. Während in ländlichen Regionen fast Vollbeschäftigung herrscht, liegt die Quote im nördlichen Ruhrgebiet zum Teil bei etwa 15 Prozent.

Eine Ursache ist die vergleichsweise schwache Entwicklung der Konjunktur. "Der Abstand zu den anderen Bundesländern ist zuletzt wieder größer geworden", sagt Professor Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Im vergangenen Jahr war die Wirtschaft preisbereinigt um 1,3 Prozent gewachsen, deutschlandweit waren es 1,6 Prozent. Vor allem die Anteile von Industrie und Baugewerbe gingen gegenüber dem übrigen Bundesgebiet zurück. Wurden im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2008 noch 22 Prozent der Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes in Nordrhein-Westfalen erwirtschaftet, waren es in den vergangenen beiden Jahren erstmals weniger als 20 Prozent.

"Ein Problem ist, dass gewachsene Strukturen eine lange Wirkung haben", sagt Döhrn. Selbst auf die Branchen Chemie und Stahl sieht er langfristig Probleme zukommen. In der Stahlindustrie liegt die Auslastung bei fast 90 Prozent und damit um 20 Prozent höher als im restlichen Europa. Jedoch gebe es schon seit 25 Jahren kein Mengenwachstum mehr. "Auf Dauer müssen wir davon ausgehen, dass hier, wie in anderen Industriezweigen, weitere Kapazitäten abgebaut werden", so Döhrn.

Politik und Wirtschaft setzen auf Impulse von ausländischen Investoren

Politik und Wirtschaft bleiben dennoch optimistisch und setzen auf Impulse von außen: Mit 196,6 Milliarden Euro verzeichnete das Land Ende 2013 den höchsten Anteil (29,9 Prozent) aller 16 Bundesländer an ausländischen Direktinvestitionen. Größter Investor sind die Niederlande mit 22 Prozent, es folgen Frankreich und die USA mit neun beziehungsweise acht Prozent. Und das ausländische Interesse dürfte besonders aus dem asiatischen Raum eher zunehmen. "Wir haben die Zusammenarbeit mit Japan, China und Südkorea intensiviert und wir gehen davon aus, dass dies weiter zunehmen wird", sagt Karl-Uwe Bütof vom Wirtschaftsministerium.

Zu den Branchen, die dabei helfen können, den Trend umzukehren, gehört die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Derzeit beschäftigen dort 24 000 Unternehmen etwa 200 000 Mitarbeiter. Auch die Gesundheitswirtschaft entwickelt sich. Schon jetzt sind hier mehr als 1,1 Millionen Beschäftigte tätig; das entspricht 12,8 Prozent aller Erwerbstätigen, und zwischen 2007 und 2013 entstanden in den mehr als 61 000 Unternehmen der Gesundheitsbranche mehr als 135 000 neue Stellen. Für beide Branchen gilt: Ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht.

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