Niedriglohnsektor:Für eine Handvoll Cents

"Ich bin kein Hartz-IV-Typ, ich will arbeiten": Sechs Menschen berichten über Jobs, mit denen sie trotz langer Arbeitszeiten kaum ihr Leben finanzieren können.

Dominik Stawski

Aufgeregt wird dieser Tage über Hartz IV gesprochen. Politiker schimpfen, dass manche Arbeitslose wie Schmarotzer auf Kosten des Staates lebten. Die Sozialleistungen müssten gekürzt werden, die Leute zur Arbeit gebracht werden. Es gibt aber auch Menschen, die arbeiten und trotzdem nicht genug Geld haben, um vernünftig zu leben.

Was sagt man denen? Arbeitet mehr? Die Realität ist oft eine 50-Stunden-Woche und kein Urlaub, weil kein Geld dafür übrig ist. Ist das gerecht? Es gibt Politiker in Deutschland, die sprechen zurzeit oft über das "Lohnabstandsgebot": Ein Arbeitender muss mehr verdienen als ein Arbeitsloser. Dann sei es gerecht.

Die Frage ist: Was hilft es dem Arbeiter, wenn er mehr verdient als sein arbeitsloser Nachbar, aber immer noch zu wenig, um ordentlich zu leben? Es sind keine Einzelfälle, um die es geht. In Deutschland arbeitet jeder Fünfte zum sogenannten Niedriglohn: 6,5 Millionen Beschäftigte bekommen pro Stunde weniger als 9,62 Euro (im Westen) und 7,18 Euro (im Osten) brutto.

Sie arbeiten nachts, sie schleppen so lange Obstkisten, bis der Rücken zieht. Es ist nicht einfach, mit ihnen darüber zu sprechen. Viele wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen, nicht einmal die ihrer Firmen, weil sie Angst haben, gekündigt zu werden. Oder weil sie im Rechtsstreit mit ihrem Arbeitgeber stehen.

Und manche schämen sich auch, weil sie Berufen nachgehen, die die Gesellschaft nicht achtet. Auch das sagt viel aus über die Situation der Niedriglöhner in Deutschland. Niemand von ihnen sagte aber, dass er mehr Geld wolle als ein Arbeitsloser. Es geht einfach nur um genug Geld zum Leben.

Angestellter bei einem Sicherheitsdienst, 56 Jahre alt, aus Thüringen

Angestellter bei einem Sicherheitsdienst, 56 Jahre alt, aus Thüringen

"Ich bin Frührentner und bekomme 780 Euro im Monat, davon kann ich nicht leben. Ich bin sehr viel ehrenamtlich aktiv, singe im Chor und schreibe dort die notwendigen Noten. Das kostet auch alles Geld. Darum arbeite ich noch im Sicherheitsdienst, seit 15 Jahren, 60 Stunden im Monat.

Ich verdiene damit etwa 270 Euro. Das Schlimme ist, dass die Festangestellten auch nicht mehr verdienen. Die reißen mehr als 200 Stunden runter, damit sie 900 Euro rausbekommen.

"Wir jammern nicht mehr"

Wir bewachen Gebäude, machen Rundgänge, meistens nachts. Zuschläge gibt es nur sonntags. Seit wenigen Tagen bekommen wir 22 Cent mehr, jetzt sind es 4,76 Euro. Besser als nichts.

Wir jammern nicht mehr, weil wir uns damit abgefunden haben. Selbst der Betriebsrat ist froh, dass es überhaupt die Jobs gibt. Weil ich mir etwas für den Haushalt gekauft habe, zahle ich 25 Euro im Monat ab. Ich würde gern mehr verdienen, aber ich habe mich schon erkundigt. In meinem Bereich ist alles so mies bezahlt."

Oliver Arning, Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen: "4,76 Euro ist der niedrigste Tariflohn, den wir haben. Es ist ein Lohn, der es schwer macht, davon eine Familie zu ernähren. Die Frage ist: Ist der Kunde bereit, mehr für Sicherheit zu zahlen?"

Rettungssanitäter beim Deutschen Roten Kreuz, 28 Jahre alt, aus dem Raum Kaiserslautern

Rettungssanitäter beim Deutschen Roten Kreuz, 28 Jahre alt, aus dem Raum Kaiserslautern

"Ich habe schon alles gesehen: Autounfälle, Motorradunfälle, Selbstmorde. In dem Job geht es um Menschenleben. Aber er macht mir Spaß, man hilft Menschen. Zudem habe ich tolle Kollegen. In den ersten Jahren bekam ich 3,20 Euro pro Stunde.

Ich arbeitete fast immer nachts und am Wochenende, weil die Festangestellten zu dieser Zeit viel teurer waren. Ich war ja einer der jungen Kerle, die das neben dem Studium machten. 50 Stunden im Monat. Wir waren Arbeiter zweiter Klasse. Zum Leben hat das Geld nicht gereicht, meine Eltern mussten mich unterstützen.

Das Rote Kreuz sagte immer, wir würden mehr oder weniger ehrenamtlich arbeiten. Nach außen war das eine tolle Werbung, nach innen war es die beste Methode, uns auszubeuten - wir machten ja die gleiche Arbeit wie die Festangestellten. Natürlich klangen 3,20 Euro von Anfang an nicht gut, aber ich habe mir das irgendwie schön geredet wie eigentlich alle.

"Da war viel falscher Idealismus dabei."

Bei uns im Kreisverband waren sicher 200 Leute davon betroffen. Im Nachhinein hätte ich viel früher versuchen müssen, für mein Recht zu kämpfen. Da war viel falscher Idealismus dabei. Unser Kreisverband wurde vor einigen Jahren von einem größeren übernommen. Aber wir mussten ein Jahr darum kämpfen, damit wir 2008 endlich den gleichen Lohn bekamen wie die Kollegen anderer Wachen - 5,11 Euro.

Das gilt bis heute. Wir mussten sogar darum streiten, dass wir Arbeitskleidung gestellt bekommen und nicht selbst zahlen müssen. Es heißt immer nur, es sei ein Privileg dort arbeiten zu dürfen. Wir haben versucht, uns gütlich mit unserem Arbeitgeber zu einigen. Das hat nicht geklappt. Wir haben Klage eingereicht."

Marco Prinz, DRK-Kreisgeschäftsführer: "Wir waren völlig überrascht, als einige unserer Ehrenamtlichen geklagt haben. Es war doch immer klar, dass sie ehrenamtlich arbeiten und dafür nur eine Aufwandsentschädigung bekommen. Wer Geld verdienen will, sollte besser Kellnern gehen. 95 Prozent unserer etwa 200 Ehrenamtlichen akzeptieren das auch. Wir sind gemeinnützig tätig, wir wollen keine Gewinnmaximierung."

Facharbeiter im Obstbau, 27 Jahre alt, aus Sachsen

Facharbeiter im Obstbau, 27 Jahre alt, aus Sachsen

"Ich wohne immer noch zuhause bei meinen Eltern im Kinderzimmer. Eine eigene Wohnung kann ich mir nicht leisten. Ich verdiene 730 Euro netto im Monat, da geht das einfach nicht. Man will sich ja eigentlich selber verwirklichen. Aber wenn ich zum Beispiel eine Partnerin hätte, läge ich ihr nur auf der Tasche.

Und über eine eigene Familie brauche ich gar nicht nachdenken. Mehr als ein oder zwei Jahre mache ich das nicht mehr mit, dann muss ich eben wegziehen aus Sachsen. Vor zehn Jahren habe ich in dem Betrieb angefangen. Ich habe eine dreijährige Ausbildung zum Facharbeiter im Obstbau gemacht. Danach bekam ich einen Stundenlohn von 5,30 Euro, und der hat sich seitdem nicht verändert.

50 Leute sind insgesamt bei uns im Betrieb und allen geht es ähnlich wie mir. Es gibt sogar einen Kollegen, der Hartz IV beantragt hat, weil sein Gehalt bei ihm nicht reicht. Die Arbeit ist hart. Obstpflücken, Äpfel, Birnen, Erdbeeren und Kirschen. Ununterbrochen trägt man Körbe und streckt sich. Jeder Korb wiegt 20 Kilo. In der Erntezeit machen wir das sieben Tage in der Woche, meist sind es 100 Körbe am Tag.

"Aber Hartz IV, so weit bin ich noch nicht."

Zum Glück ist mein Rücken noch in Ordnung, ab und zu zieht er etwas, mehr nicht. Der Beruf macht mir aber auch Spaß. Ich bin ja draußen in der Natur. Urlaub brauche ich nicht. Aber eigentlich könnte ich mir ihn ja auch gar nicht leisten. Ich glaube meinen Chefs nicht, dass der Betrieb in einer finanziellen Notlage ist.

Vor zwei Jahren haben sich die Geschäftsführer komplett neue Autos zugelegt, alle fahren jetzt einen großen Skoda. Superb oder Octavia. Ich fahre einen kleinen Skoda Fabia und den zahle ich immer noch ab. Ich finde, dass die auf hohem Niveau jammern. Das Traurige an der Geschichte ist, dass ich als Arbeitsloser günstiger wegkommen würde.

Aber Hartz IV, so weit bin ich noch nicht. Ich habe ja Spaß an meinem Beruf, es dürfte nur ein wenig mehr Geld sein. Wir haben auch schon gefragt, aber die Chefs reden dann immer von einer finanziellen Notlage."

Romana Hoffmann, Arbeitsgemeinschaft der gärtnerischen Arbeitgeberverbände e.V.: "Die neuen Bundesländer sind ein Problem. Der Lohn ist bedenklich. Aber wer in Deutschland meint, er müsste für 39 Cent einen Salat kaufen, der muss ich auch über die Gehälter Gedanken machen. Die Preise sind eine Katastrophe."

Pauschalkraft in einer Filliale der Drogeriekette Schlecker, 56 Jahre alt, aus Rheinland-Pfalz

Pauschalkraft in einer Filliale der Drogeriekette Schlecker, 56 Jahre alt, aus Rheinland-Pfalz

"Als ich bei Schlecker angefangen habe, dachte ich, ich verdiene mir ein paar Euro zu meiner Rente dazu. Ich habe nur 730 Euro im Monat, das reicht nicht. Ich war richtig glücklich, dass ich den Job gefunden habe. Es hat einige Wochen gedauert, dann habe ich verstanden, was da los ist.

Ständig die Angst vor Abmahnungen. Alle paar Tage kam die Bezirksleiterin und trug in ihre Formulare ein, dass der Laden in schlechtem Zustand ist, obwohl er aufgeräumt war. Ich habe 6,50 Euro pro Stunde verdient, mehr habe ich als Pauschalkraft nicht bekommen, Vollzeitkräfte verdienten das Doppelte.

"Ich hätte das Doppelte verdienen müssen."

Ich habe den Laden oft alleine geschmissen, das ist bei Schlecker so üblich. Wir sollten aufpassen, dass nichts geklaut wird, den ganzen Laden konnte ich aber nicht überblicken. Wenn Ware kam, waren wir zwar zu zweit, aber trotzdem haben wir es manchmal nicht geschafft, alles einzuräumen. Das mussten wir nach Feierabend nachholen.

Mit der Bezirksleiterin konnte ich nicht reden. Sie sagte immer nur: Wenn Sie keine Lust haben, können Sie ja zuhause bleiben. Inzwischen hat der Laden geschlossen, Schlecker hat mir gekündigt. Aber ich habe einen Anwalt von Verdi eingeschaltet. Ich fordere nachträglich den Tariflohn. Ich hätte das Doppelte verdienen müssen, für die Arbeit, die ich gemacht habe."

Florian Baum, Pressesprecher von Schlecker: "Es ist korrekt, dass Schlecker Personal auf 400-Euro-Basis beschäftigt. Der Anteil dieser Beschäftigten an der Gesamtbelegschaft ist aber nur ein niedriger Prozentsatz. Wir legen darüber hinaus besonderen Wert auf die Feststellung, dass die Firma Schlecker aktuell eine freiwillige deutliche Anhebung des Stundenlohns für diese Beschäftigten vorgenommen hat." (Schlecker will die Aussage auch auf Anfrage nicht weiter konkretisieren)

Mitarbeiter an der Uniklinik Essen, 31 Jahre alt, angestellt über eine Leiharbeitsfirma

Mitarbeiter an der Uniklinik Essen, 31 Jahre alt, angestellt über eine Leiharbeitsfirma

"Mein Job sind OP-Instrumente. Wir bekommen sie nach den Operationen geliefert, dann werden sie grob gewaschen, danach stecken wir sie in eine spezielle Spülmaschine. Das ist Arbeit wie am Fließband, aber es macht mir Spaß. Man trifft die Ärzte und bekommt viel aus dem OP mit. Und es ist ja auch nicht ganz unwichtig, denn die Bestecke, die wir waschen, müssen sauber und steril sein, sonst hat das schlimme Konsequenzen.

Natürlich würde mir die Arbeit mehr Spaß machen, wenn auch das Drumherum stimmen würde. Ich bin angestellt über eine Leiharbeitstochter. Die Leute, mit denen ich arbeite, verdienen das Doppelte, obwohl ich die gleiche Arbeit mache und schneller bin. Ich bekomme nur 7,87 Euro pro Stunde. Da bleiben netto 940 Euro. Rosenmontag haben die anderen frei, wir müssen aber Urlaub nehmen, weil wir bei der Leiharbeitstochter angestellt sind.

"Ich bin kein Hartz-IV-Typ. Ich will arbeiten."

In meiner Abteilung arbeiten 23 Leute, mehr als die Hälfte macht Leiharbeit. Wir sind diejenigen, die doof dastehen. Ich bin gelernter Fachinformatiker, davor habe ich eine Lehre als Anlagemechaniker gemacht. Ich wurde mehrmals arbeitslos, und als selbständiger Fachinformatiker war ich nicht erfolgreich. Deswegen war ich auch so froh, als mir ein Bekannter von dem Job in der Klinik erzählt hat.

Ich bin kein Hartz-IV-Typ. Ich will arbeiten. Aber es ist schon schade, dass so wenig dabei rumkommt. Früher habe ich mal bei der DHL gearbeitet, da habe ich 1500 Euro netto verdient. Das ist ein Traum im Gegensatz zur Klinik."

Uniklinik (UK) Essen, Pressesprecher Burkhard Büscher: "Den Entgelten der Beschäftigten der UK Essen Personalservice GmbH liegt ein Tarifvertrag zugrunde, der zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen und den DGB-Gewerkschaften, das heißt auch Verdi, abgeschlossen ist. Die Personal Service GmbH ermöglicht es dem UK Essen, dem ständig steigenden Kostendruck im Gesundheitswesen kosteneffektiv entgegenzuwirken und eine gute Versorgung der Patienten sicherzustellen. In der Personal Service Gesellschaft arbeiten derzeit 245 Beschäftigte."

Jahrelang Aushilfe in einem Blumenladen, männlich, 23 Jahre alt, aus Stade

Jahrelang Aushilfe in einem Blumenladen, männlich, 23 Jahre alt, aus Stade

"Ich habe immer gedacht, irgendwann ist es vorbei. Dann habe ich endlich meinen Ausbildungsplatz. Aber es ging nicht vorbei. Ich habe jahrelang nur 192 Euro im Monat verdient. Meine Eltern haben mir mein Leben finanziert. Dabei habe ich Vollzeit in einem Blumenladen gearbeitet. Der Chef sagte immer: Mach nur weiter, dann gebe ich dir einen Ausbildungsplatz. Ich wollte ja nichts mehr als das.

Nach drei Jahren reichte es mir dann. Das war im August 2008. Es war wieder mal ein Tag, den ich auf dem Hof meines Chefs verbrachte. Da setzte er mich auch gerne ein. Ich sollte die Stallboxen säubern, den Hof fegen. Ich war immer derjenige, der die härteste Arbeit gemacht hat, die Blumenkübel etwa geschleppt, weil die Frauen das nicht konnten. Wenn ich meinem Chef gesagt habe, dass ich pünktlich nach Hause will, motzte er mich an. Ich bekam Angst, aber ich traute mich endlich zu sagen: Jetzt reicht's.

"Ich hätte früher aufhören sollen."

Ich rannte davon und ging danach nie wieder zur Arbeit. Als ich mich in der Arbeitsagentur arbeitslos melden wollten, staunten die Mitarbeiter dort, dass ich nur 192 Euro verdient habe. Sie sagten, ich soll meinen Chef verklagen. Das habe ich gemacht und das Arbeitsgericht hat mir Recht gegeben. Jetzt bekomme ich wahrscheinlich 20.000 Euro nachgezahlt, das Urteil ist aber noch nichts rechtsgültig. Ich hätte früher aufhören sollen, so wie der andere Jahrespraktikant, der nach ein paar Wochen Schluss machte und nicht Jahre geblieben ist. Ich bin zurzeit arbeitslos, aber ich hoffe, dass ich bald eine Ausbildung zum Maler beginnen kann."

Robert Mankopf, Tarifkommission des Fachverbandes Deutscher Floristen: "Ein solcher Lohn ist unmöglich. Angemessen ist für eine Aushilfe ein Stundenlohn von mindestens 7,80 Euro. Mehr zu garantieren ist wegen der Wirtschaftslage schwierig. Außerdem haben Angestellte im Blumenladen wahnsinnig große Leerzeiten."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: