Neue Aufzug-Technik von Thyssen:Der Aufzug, der auch seitwärts fährt

Medientag am Aufzugtestturm von Thyssen-Krupp

Der 232 Meter hohe Aufzugtestturm von Thyssen-Krupp in Rottweil

(Foto: Patrick Seeger)
  • Thyssen-Krupp will den Aufzug revolutionieren. Das Unternehmen hat ein Lift-System vorgestellt, das ohne Sicherungsseile auskommt.
  • Die Technik ermöglicht es unter anderem, dass der Aufzug während der Reise beliebig oft von der Vertikale in die Horizontale und wieder zurück wechselt.
  • Insbesondere in Wolkenkratzern könnte das System enorme Vorteile bringen.

Von Stefan Mayr, Rottweil

Als der US-Amerikaner Elisha Graves Otis anno 1853 seinen absturzsicheren Fahrstuhl vorstellte, stand er selbst in der Kabine und ließ von einem Assistenten das Seil durchschneiden. Der Aufzug stürzte nicht ab, sondern wurde durch eine Fangvorrichtung abgebremst. Die Präsentation mit Wow-Effekt war die Geburtsstunde des bis heute aktiven Aufzugsherstellers Otis Elevator Company - und auch der Startschuss für den Bau von Wolkenkratzern. Am Donnerstag hat die Thyssen-Krupp Elevator AG im baden-württembergischen Rottweil ein neues Fahrstuhl-System vorgestellt, das laut Chef Andreas Schierenbeck "eine neue Ära der Aufzug-Industrie" einläuten wird.

Umrahmt von einer Sängerin, zwei Trommlern und jeder Menge Video-Clips gibt sich Schierenbeck am Fuß seines 246 Meter hohen Testturms große Mühe, eine ähnlich spektakuläre Show abzugeben wie damals Elisha Graves Otis. Aber auf ein Utensil verzichtet er: das Seil. Genau das ist der Clou der neuen Technologie. Der Fahrstuhl wird nicht von einem Stahlseil gehalten und gezogen, sondern von einem magnetischen Feld angetrieben. Thyssen-Krupp profitiert dabei von seinen Erfahrungen mit der Magnetschwebebahn-Technik. "Wir haben die Konzepte des Transrapid und des Paternosters kombiniert", sagt Schierenbeck. Nach drei Jahren Entwicklung kann er nun seinen Prototypen "Multi" vorstellen. Der Name spielt darauf an, dass die Kabinen nicht nur von unten nach oben fahren, sondern auch von links nach rechts.

Ein sogenannter "Exchanger" macht es sogar möglich, dass der Lift seine Fahrtrichtung während der Reise beliebig oft von der Vertikale in die Horizontale und wieder zurück wechseln kann. "Das bringt ganz neue Freiheiten für Architekten", lobt Schierenbeck sein Produkt. Zudem könnten nun gleich mehrere Kabinen in einem Schacht fahren, damit steige die Kapazität und sinke die Wartezeit. Eine Computer-Animation zeigt die Fahrstühle, wie sie wie in einem Kreislauf unabhängig voneinander zirkulieren.

Derzeit werde bei einem Wolkenkratzer bis zu 50 Prozent der Grundfläche für Liftschächte benötigt, sagt Schierenbeck. Seine Technik komme dagegen mit halb so viel Platz aus, was nicht nur die Architekten begeistere, sondern auch die Bauherren. Im derzeit höchsten Gebäude der Welt, dem 828 Meter hohen Burj Khalifa in Dubai, müsse man "zweimal umsteigen und zweimal warten", bis man in die oberste Etage kommt. Grund: Die bisherige Aufzug-Technik kommt bei 600 Metern Schachthöhe an ihre Grenzen, weil das Seil zu sehr schwingen und wegen seines Eigengewichts reißen würde. Die Magnetfeld-Technik kenne dagegen keine Limits, betont Schierenbeck. Zudem verbrauche das neue System weniger Energie. Er spricht von einer "Neuerfindung des Aufzugs" und prophezeit: "Die alte Seil-Technik kommt zu ihrem Ende und wird von unserer Technologie abgelöst."

Allerdings ist das neue Konzept noch nicht marktreif. Schierenbeck drückt zwar demonstrativ auf einen blauen Knopf und eine Aufzug-Kabine gleitet zuerst seitwärts und fährt dann nach oben. Allerdings steigt er nicht ein. Denn für die Beförderung von Personen fehlt noch die Zulassung. Die Zertifizierung werde bis 2020 abgeschlossen sein, sagt ein Thyssen-Krupp-Sprecher.

Es wird immer mehr Wolkenkratzer geben

Trotz dieser Unsicherheit kündigt der niederländische Projektentwickler OVG Real Estate schon jetzt an, er werde in seinem geplanten East Side Tower in Berlin das Multi-System einbauen. Der 142 Meter hohe Turm in der Nähe der Mercedes-Benz-Arena soll 2020 fertig sein.

Thyssen-Krupp erwartet künftig weltweit eine verstärkte Nachfrage nach effizienten Aufzug-Anlagen - angeheizt durch die anhaltende Urbanisierung. "Im Jahr 2050 werden 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben", sagt Andreas Schierenbeck. Angesichts des Zuzugs in Metropolen müsse man bald pro Woche eine Ein-Millionen-Stadt aus dem Boden stampfen.Da die Städte aber nur begrenzt in die Breite wachsen könnten, werde es mehr und mehr Wolkenkratzer geben.

Das bestätigt der US-Experte für Hochhaus-Architektur, Antony Wood: "Erstens werden die Hochhäuser immer höher, zweitens explodiert ihre Anzahl", sagt der Professor vom Illinois Institute of Technology in Chicago. Im Jahr 2016 seien weltweit 128 Gebäude errichtet worden, die höher als 200 Meter sind. Diese Zahl werde noch steigen, vor allem in Asien.

Selbst Großkonzern Thyssen muss sich wohl Partner für das Projekt suchen

Sollten all diese Voraussagen zutreffen und das Multi-Konzept tatsächlich auf dem Markt reüssieren, könnte sich die Aufzug-Sparte von Thyssen-Krupp noch stärker zum Umsatz- und Gewinnbringer des Essener Mischkonzerns entwickeln. Im Geschäftsjahr 2015/16 (30.9.) verbuchte der Geschäftsbereich "Elevator Technology"einen Umsatz von 7,5 Milliarden Euro und ein bereinigtes Ergebnis vor Steuern von 860 Millionen Euro. Damit steuerte er mehr als Hälfte zum Konzern-Ergebnis bei - und dreimal so viel wie die Stahlsparte. Thyssen-Krupp, der traditionelle Stahlkonzern, entwickelt sich mehr und mehr zum innovativen Aufzug-Hersteller.

Die Verwandlung kommt nicht ungelegen angesichts des schwierigen Stahlmarktes, der von Billigprodukten aus China überschüttet wird. Erst im Februar verkaufte der Konzern sein verlustbringendes Stahlwerk in Brasilien, und für das europäische Stahlgeschäft laufen Fusions-Verhandlungen mit dem indischen Tata-Konzern. "Am Ende könnte Thyssen-Krupp ein Industriegüter-Hersteller werden, der noch ein Joint-Venture in der Stahlproduktion hält", sagt Analyst Sven Diermeier von der Frankfurter Independent Research GmbH.

Der ehrgeizige Aufzug-Chef Schierenbeck treibt unterdessen die Forschung voran. Erst im Dezember wurde der 246 Meter hohe Testturm in Rottweil eröffnet, in dem das Entwicklungszentrum sitzt. In zwölf Schächten experimentieren Ingenieure unter anderem mit Hochgeschwindigkeitsaufzügen, die bis zu 18 Meter pro Sekunde schnell sind. Für sein Multi-Projekt kündigt Schierenbeck Kooperationen mit Konkurrenten an: "Wir werden mit Wettbewerbern über Lizenzen sprechen." Das Thema sei "zu groß für uns, um den gesamten Markt alleine aufzurollen". Einer der möglichen Partner ist der Chef von Otis, der Nachfolger des Erfinders des guten alten Seilaufzugs.

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