Nahaufnahme:Ein kritischer Geist

Nahaufnahme: "Wir erleben immer mehr Ökonomen, die sich im Kostüm des Ökonomen als Politiker betätigen." Henrik Enderlein.

"Wir erleben immer mehr Ökonomen, die sich im Kostüm des Ökonomen als Politiker betätigen." Henrik Enderlein.

(Foto: Imago)

Euro-Vordenker Henrik Enderlein rüttelt auf großer Bühne an vermeintlichen Alternativlosigkeiten. Etwa am Euro oder am Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Von Cerstin Gammelin

So viel Einigkeit findet sich selten. Im Verbund mit der globalen Wirtschaftsorganisation OECD und dem Internationalen Währungsfonds fordert nun auch ein wirtschaftspolitischer Freigeist der SPD: Reformen. Im politischen Berlin dürften SPD-Mitglieder und Sympathisanten mittlerweile maximal drei Fragen brauchen, um ihn als einen der Ihren zu identifizieren. Er trainiert Marathon, hat in Paris die Elite-Schule Institut d'études politiques absolviert und rüttelt auf großer Bühne an vermeintlichen Alternativlosigkeiten.

Etwa am Euro oder an dessen Grundlage, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Oder am Mythos der deutschen Reformfreudigkeit. Die Rede ist von Henrik Enderlein, 42 Jahre alt, Genosse mit sozialliberalen Ambitionen und Professor für Politische Ökonomie an der Hertie School of Governance. Und, vor allem, begeisterter Europäer mit besonderem Hang zum Französischen. Nicht nur, weil er in Paris studiert hat, sondern auch, weil er eine Französin geheiratet hat und mit ihr und drei Kindern im Grunewald lebt.

In Deutschland werde viel zu wenig reformiert, sagt Enderlein. Und wenn doch, dann von der SPD. "Deutschland hat seit den Hartz-IV-Reformen von SPD-Kanzler Schröder keine strukturelle Reform durchgezogen. Das Land steht langfristig vor der größten Herausforderung." Auch die letzte fiskalische Reform habe unter SPD-Regie stattgefunden, nämlich der von Finanzminister Peer Steinbrück, "der hat Abgaben auf Arbeit senken lassen und das mit höherer Mehrwertsteuer ausgeglichen".

Gelegentlich nimmt ihn Parteichef Sigmar Gabriel mit nach Paris, wo er an Konzepten für mehr Wachstum oder zur Stärkung der Währungsunion mitschreibt. Seine These: "Es gibt keinen idealen Euro." Ohne Souveränität und Risiko zu teilen, könne die Währungsunion nicht funktionieren. "Man hat in einer Währungsunion keine echte nationale Wirtschaftspolitik mehr und keine echte Haushaltsautonomie; man muss sich unterordnen, und das haben die meisten Länder nicht akzeptiert." Seine große Sorge sei, dass die Schnellschüsse in der leider anhaltenden Euro-Krise "bei der Risikoteilung politisch nicht begleitet sind. Deshalb haben wir heute die schlechteste aller Welten, eine Haftungsgemeinschaft, die politisch nicht untermauert und demokratisch nicht legitimiert ist".

Enderlein ist ein kritischer Geist. Etwa wenn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble als Sparmeister bezeichnet wird, der dem Bild der traditionellen schwäbischen Hausfrau entspreche. Das Bild führe in die Irre. "Schauen Sie sich hier in Deutschland Schulen, Straßen, Energienetze und Breitbandausbau an! Entspricht das dem Bild einer führenden Industrienation? Eine schwäbische Hausfrau würde das Haus niemals aus Spargründen verfallen lassen, sondern ständig investieren. Schwäbische Familien halten ihr Haus tadellos in Schuss und übergeben es picobello an die folgende Generation." Enderlein weiß, wovon er spricht: Er stammt aus Reutlingen.

Noch eine Sache treibt ihn um: die ideologisierte Debattenkultur in Deutschland. "Wir erleben immer mehr Ökonomen, die sich im Kostüm des Ökonomen als Politiker betätigen." Ökonomen müssten Ursache-Wirkung-Zusammenhänge beschreiben, aber nicht bewerten. Es sei nicht falsch, sich als Ökonom politisch zu äußern, aber man müsse es mit politischer Überzeugung tun. Hans-Werner Sinn beispielsweise argumentiere mit Grundüberzeugungen, die politisch getrieben seien, ohne es offen zu sagen. "Er ist nicht neutral, aber er wäre ein großartiger Politiker", sagt Enderlein. Auch Sinn bräuchte kaum mehr als drei Fragen, um identifiziert zu werden.

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