Nahaufnahme:Der Monster-Macher

NahaufnahmeErscheinungstag  06.05.2016

"Es gibt mittlerweile wirklich schlimme Sammelklagen. Man fragt sich schon, ob man ein Monster erschaffen hat." Arthur Miller

(Foto: David Shankbone/CC BY-SA 3.0)

Jura-Professor Arthur Miller gilt als Miterfinder der Sammelklage. Die veränderte das Leben vieler Amerikaner, vor allem der farbigen Arbeitnehmer.

Von Claus Hulverscheidt

Diesmal also ist es zu viel Eis. Im Eiskaffee. Wie damals, als eine Mutter aus Kalifornien entdeckte, dass Schokoladen-Brotaufstrich Schokolade enthält und gar nicht so gesund ist. Vier Dollar Abfindung pro Glas zahlte der Nutella-Hersteller Ferrero am Ende - an Zehntausende Käufer im Land.

Möglich gemacht hat das eine Sammelklage, bei der einige wenige Menschen vor Gericht ziehen, um für alle Betroffenen eines Skandals einen Vergleich oder ein Urteil zu erwirken. Im besten Fall wird so vielen US-Bürgern gleichzeitig und ohne den Umweg über Tausende Individualprozesse zu ihrem Recht verholfen. Das Verfahren gegen den VW-Konzern, der die Abgaswerte seiner Diesel-Pkw manipulierte und damit allein in den USA 600 000 Kunden hinters Licht führte, ist dafür ein Beispiel.

Doch es gibt nicht nur VW, es gibt auch Starbucks - jene Kaffeehauskette, die angeblich zu viel Eis in ihre Eiskaffeebecher füllt. Es sind die Fälle, von denen Arthur Miller sagt: "Leute, lasst mal stecken!"

Miller, brauner Teint, silbrig-gewelltes Haar, buschig-dunkle Augenbrauen, weiß, wovon er spricht, denn der 81-jährige Jura-Professor der New Yorker Universität NYU gilt als Miterfinder der modernen Sammelklage. Dabei existiert das Instrument seit Jahrhunderten, doch die komplizierte US-Zivilprozessordnung hinderte die Menschen lange daran, ihre Rechte gemeinsam einzufordern. Das ändert sich erst, als der Oberste Gerichtshof 1966 eine Kommission einsetzt, um das Regelwerk zu entrümpeln. Miller, Markenzeichen rote Krawatte, rotes Einstecktuch, ist eines der Mitglieder. Statt um Nuss-Nougat-Creme und Eiskaffee kreisen die Gedanken der Fachleute um die afro-amerikanische Bürgerrechts- und die aufkommende Umweltbewegung.

Die entscheidenden Sätze tippt Miller auf dem Rücksitz eines Autos in seine Reiseschreibmaschine. Er ist auf dem Weg in ein Arbeitswochenende und unterbricht seine Tipperei auch nicht, als er mit einer kleinen Autofähre auf eine Insel übersetzt und eine Frau aus dem daneben geparkten Wagen an sein Fenster klopft. "Hören Sie das Geklapper?", fragt die Dame, "ich glaube, wir sinken." Nein, entgegnet Miller nach eigener Erinnerung, das Schiff sinke keineswegs. "Aber Ihr Leben, meine Dame, wird sich tatsächlich verändern."

Und das tut es, denn nach Inkrafttreten der Reform setzt eine Sammelklagewelle ein, die die Gleichstellung dunkelhäutiger Amerikaner endlich voranbringt. Bürger klagen gegen Bestimmungen, die ihr Wahlrecht unterminieren - und erreichen damit Änderungen für alle schwarzen Wähler. Arbeitnehmer klagen wegen Benachteiligungen im Job, Eltern wegen der Diskriminierung ihrer Kinder. "Ohne Sammelklagen wäre die Rassentrennung an den Schulen in meiner alten Heimat Boston damals nicht aufgehoben worden", erinnert sich Ex-Harvard-Professor Miller im Gespräch mit dem Radiosenderverbund NPR.

Dass die Dinge in eine Richtung gehen, die er nie im Sinne hatte, wird ihm in den 1990er-Jahren klar, als Fans des Lippenbeweger-Duos Milli Vanilli eine Sammelklage anstrengen: Die Band hat ihre Lieder gar nicht selbst gesungen, drei Dollar zahlt die Plattenfirma schließlich an jeden, der eine CD gekauft hat. "Es gibt mittlerweile wirklich schlimme Sammelklagen", sagt Miller heute. "Man fragt sich schon, ob man ein Monster erschaffen hat."

Allzu streng jedoch will der preisgekrönte Jurist, der zahllose Aufsätze veröffentlicht hat und ob seiner Mischung aus Genialität und Eitelkeit von seinen Studenten in gleich mehreren Musik-Videos verewigt wurde, dann doch nicht mit sich ins Gericht gehen. "Es hat in den 50 Jahren seit der Neuregelung viele Klagen gegeben, die es besser nicht gegeben hätte", so Miller. "Aber wir haben auch viel erreicht. Wahrhaftig!"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: