Mittwochsporträt:Unsichtbare Grenzen

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Als einziger Ostdeutscher in der Treuhand-Führung wickelte Detlef Scheunert die Wirtschaft seiner Heimat ab. Beim Aufbau von Firmen hatten Westdeutsche das Wort.

Von Varinia Bernau

Eigentlich hatte Detlef Scheunert alle Argumente auf seiner Seite: Er wollte nicht, dass Ostdeutschland nur die verlängerte Werkbank des Westens bleibt. Er wollte wenigstens die letzten zwölf Fälle, die er im Sommer 1993 noch auf dem Tisch hatte, Ostdeutschen anvertrauen. Sie sollten die Unternehmen sanieren. In eigener Verantwortung. Er hatte bereits die Zusage britischer Risikokapitalgeber, die für den Anschub sorgen sollten. Und er hatte die Sympathie von Treuhand-Präsidentin Birgit Breuel.

Aber es war einfach zu spät.

In der Presse häuften sich Berichte über windige Deals, über Treuhänder, die die Privatisierung der Staatsbetriebe zur persönlichen Bereicherung genutzt hatten. In Bonn wurden die Politiker nervös. Bundeskanzler Helmut Kohl wollte keine unternehmerischen Experimente im Osten. Er wollte Ruhe.

Wie Detlef Scheunert, 55, nun da sitzt, in seinem Reihenhaus am Rand von Gütersloh, wirkt er wie das Gegenteil eines Wendeverlierers: Eine Schale mit frischen Kirschen steht auf dem Tisch. Die Buddha-Figuren im liebevoll gepflegten Garten, das Bücherregal zeugen davon, dass hier jemand lebt, der nicht nur zu Geld gekommen ist, sondern es auch genutzt hat, um die Welt zu bereisen und über diese Welt nachzudenken.

Und doch hat er im Zuge der Wiedervereinigung etwas verloren, das man sich mit keinem Geld der Welt kaufen kann: seine Träume. "Ich wollte den Umbau mitgestalten", sagt Scheunert. "Ich hatte die Naivität zu glauben, ich könnte das."

Detlef Scheunert, aufgewachsen nahe der sächsischen Kleinstadt Döbeln, war der einzige ostdeutsche Direktor bei der Treuhand. Seine Geschichte lässt erahnen, warum auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung Ost und West wirtschaftlich weit auseinanderliegen. Und warum Ossis und Wessis so unversöhnlich darüber streiten, wie sie diese Kluft überbrücken könnten. Weil Wirtschaft nicht nur aus Zahlen besteht, sondern auch aus Träumen. Wenn es schlecht läuft: aus verlorenen Träumen.

Ein paar Tage, bevor der Vorstand der Treuhand über sein Vorhaben entscheiden sollte, wird ihm plötzlich dieser Mittelständler aus Hameln vorgestellt, erzählt Scheunert. Er soll die Führung übernehmen, Scheunert nur assistieren. "Genau das wollte ich nicht", sagt er - und haut mit der flachen Hand auf den Tisch. "Ich wollte es ja nicht nur mir beweisen, sondern auch den überheblichen Westdeutschen und den jammernden Ostdeutschen: Dass wir das können, Unternehmer sein."

Er stimmt schließlich doch einem Treffen zu. Zähneknirschend. Der Mittelständler hat eine Akte dabei, in die er immer wieder blickt. Scheunert merkt: Das ist seine Akte. Das sind die Zahlen, die er der Treuhand vorgelegt hatte, um zu dokumentieren, dass seine Idee aufgehen würde. "Ich merkte, ich werde hier beschissen, ich kriege hier keine Chance."

Damals zumindest hat er das so empfunden - und er zieht sich zurück. Wütend, enttäuscht, verletzt. Heute, 22 Jahre später, sagt er: "Die Treuhand hatte keine Chance." Nach den Skandalen konnte der Vorstand, konnte auch Bonn ein solches Experiment keinem Treuhänder mehr anvertrauen. "Sie waren einfach alle viel zu erschöpft, um das durchzukämpfen", sagt Scheunert. Er hat lange gebraucht, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat. "Ich war fest davon überzeugt, ich bekomme das nicht, weil ich Ostdeutscher bin."

Die Ironie seiner Geschichte: Für viele Ostdeutsche war ausgerechnet er derjenige, der ihre Betriebe plattgemacht und ihre Jobs vernichtet hat. Ein Treuhänder eben.

Dabei war Scheunert mit den besten Absichten angetreten. Er wollte dabei sein, wenn Geschichte gemacht wird. "Die blöden Bananen, das war ja nur das Synonym für die große weite Welt. Für die Freiheit, sich entfalten und seine Fähigkeiten dort einbringen zu können, wo es einen erfüllt."

Als Referent des letzten Wirtschaftsministers der DDR lernt er in Berlin den damaligen Treuhand-Chef Detlev Rohwedder kennen. "Kommen Sie zu uns - und lernen Sie Kapitalismus", sagt der zu ihm. "Und Sie zeigen uns, wo die Minen liegen." Scheunert war damals gerade 30. Fast stündlich fiel irgendein Begriff, wurde er auf irgendeinen Paragrafen verwiesen, den er nicht kannte. Anfangs hat er nur genickt, sich eine Notiz gemacht und zu Hause nachgeschlagen. Später fragt er die amerikanische Investmentbankerin oder einen der Unternehmensberater aus seinem Team. Er nennt diesen Lernprozess im Zeitraffer "seinen persönlichen MBA".

Eine aufregende Zeit ist das. Aber eben auch eine unlösbare Aufgabe. Vieles von dem, was in der DDR gefertigt wurde, ob nun Mopeds oder Kompaktkameras, wurde Anfang der Neunzigerjahre in Fernost längst billiger hergestellt. In den allermeisten Betrieben, die Scheunert nun privatisieren sollte, waren die Maschinen veraltet, die Belegschaft überbordend. Gehalten hatten sie sich nur, weil die DDR-Regierung die Währung gestützt hatte und die Löhne niedrig waren. "Über Nacht hatten diese Betriebe das Fünffache an Kosten", sagt Scheunert. Man müsse sich mal vorstellen, dass man das mit BMW macht. "Dann wäre auch diese wunderbare Firma pleite." Und die allermeisten Menschen im Osten wollten doch selbst sofort einen Westwagen statt wieder einen Wartburg. "Die Leute wollten keinen Sozialismus light. Sie wollten überhaupt keinen Sozialismus mehr", sagt Scheunert. Dass sie damit selbst einen Beitrag zum Jobabbau leisteten, merkten viele erst sehr viel später.

25 Jahre Wirtschafts- und Währungsunion Eine SZ-Serie, Teil 20 und Schluss (Foto: SZ-Grafik)

Anfang 1992 reiste Scheunert in seine Heimat. In Döbeln sollte er einen Betrieb privatisieren, in dem Gurte für den Trabant und Schlösser für die Kalaschnikov gefertigt wurden. Es war der größte in der Region; 2300 Arbeitsplätze. Aber der einzige ernstzunehmende Investor, ein schwedischer Autozulieferer, wollte nur einen Teil übernehmen - mit gerade mal 23 Arbeitsplätzen. Der Bürgermeister hatte Scheunert angefleht, den Schweden nicht den Zuschlag zu geben. Andere Investoren, deren Versprechungen, die Arbeitsplätze zu erhalten, Scheunert misstraute, hatten den dortigen Betriebsrat gegen ihn aufgehetzt. In dieser Zeit wollte Scheunert übers Wochenende zu seinen Eltern. Das erste Mal im neuen Dienstwagen, voller Stolz, Mercedes E-Klasse. Der Vater saß vor dem Haus. Eine Zigarette in der Hand: "Junge, du bist ja verrückt, stell das Auto hinter die Scheune, das halten die Nachbarn nicht aus", sagt er zu ihm.

Scheunert hat im Laufe seines Lebens dazugelernt. Nicht nur bei der Treuhand. Auch später im Westen, als er Westfalia, den Hersteller von Campingwagen und Anhängerkupplungen, saniert. Als er mit einem Private-Equity-Fonds in eine Regensburger Kosmetikfirma ein- und fünf Jahre später ziemlich erfolgreich aussteigt.

Viel von dem einstigen Übermut, auch der Härte gegenüber anderen ist gewichen. Geblieben ist ein Gefühl der Zerrissenheit zwischen Heimatliebe und der Überzeugung, dass es richtig war, was er da tat. Scheunert sagt, er sei ein Anhänger von Schumpeter: Man müsse etwas zerstören, um es neu aufzubauen. Aber er weiß auch, dass man dieser These eher anhängt, wenn man nicht derjenige ist, dessen Arbeitsplätze, dessen Lebensgrundlage, ja, dessen Würde da zerstört wird.

Die Ernüchterung schlich sich in Schüben bei ihm ein: Anfangs, erzählt Scheunert, kamen erfahrene Manager aus westdeutschen Konzernen, um die 60. Ihnen ging es weder um die Karriere, noch ums Geld. Sie suchten das Abenteuer. Und kamen mit der Absicht, ihren persönlichen Beitrag zur Einheit zu leisten. "Das waren die ersten - und das waren die besten", sagt Scheunert. Dann kamen die Glücksritter. Dann die Controller - und mit ihnen die "Erbsenzählermentalität", wie Scheunert das nennt. Natürlich, es brauchte eine Kontrolle, bei all dem Missbrauch, den es anfangs gegeben hatte. Scheunert verstand das - und hatte doch das Gefühl, fast zu ersticken. Ausgerechnet er, der raus wollte aus der Enge der DDR, musste nun feststellen: Auch die BRD war damals ziemlich eng. "Da war sehr viel Bräsigkeit, sehr viel Borniertheit. Dieses: Wir sind die Sieger, wir haben alles richtig gemacht." Als ob es in der westdeutsche Gesellschaft keinerlei Verkrustungen gegeben hätte.

Einige Zeit später, da ist er schon bei Westfalia, kommt die lokale Presse, um über seine Sekretärin zu berichten. Eine junge Mutter, die Teilzeit arbeitet. Für die Westfalen eine Sensation. Für ihn, den Ostdeutschen, eine Selbstverständlichkeit.

Damals hat er mit seiner Frau darüber gelacht. Viel später erst hat er verstanden, dass das, was ihn befremdete, diese Region reich gemacht hat. "Dieses Gleichförmige, dieses einmal in der Spur sein", wie er es nennt. "Hier hatte es keine Brüche gegeben. Bertelsmann hat die Propaganda der Nazis gedruckt, Miele die Panzerfahrzeuge gefertigt. Beide haben 1946 schon wieder angefangen." Diese Kontinuität ist der Grund dafür, dass seine Freunde aus dem Lions Club wie selbstverständlich ein paar Millionen mehr für das Theater in der Kleinstadt spenden. Aber auch der, warum sie ihn nie so recht verstanden, wenn er aus dem Osten erzählte.

"Die Ostdeutschen haben sich bei den Westdeutschen nie für die enorme Unterstützung bedankt", sagt Detlef Scheunert, "aber die Westdeutschen haben auch nie anerkannt, was die Ostdeutschen da eigentlich geleistet haben."

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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