Mindestlohngesetz wird verabschiedet:Historischer Wurf mit Geburtsfehlern

Männer auf einer Baustelle

Der Mindestlohn, obwohl noch gar nicht in Kraft, hat das Land bereits schleichend verändert.

(Foto: dpa)

Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind selbst schuld, dass der Mindestlohn nun kommt, weil sie sich zu wenig für die soziale Marktwirtschaft eingesetzt haben. Das Gesetz ist eine Notlösung und hat massive Schwächen. Trotzdem ist es eine historische Reform, die das Land schon jetzt verändert hat.

Ein Kommentar von Thomas Öchsner

Wenn Fußballmannschaften große Siege feiern, wird gern das Wort "historisch" bemüht. In der Politik, in der dicke Bretter lange zu bohren sind, bis oft fade Kompromisse herauskommen, sind solche Siege eher selten. An diesem Donnerstag aber können Gewerkschaften und Sozialdemokraten einen historischen Sieg feiern. Nach zehn Jahren Kampf wird der Bundestag den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den Weg bringen.

Endlich wird damit eine Schwachstelle der Arbeitsmarktreformen unter Kanzler Gerhard Schröder beseitigt: Die Politik stoppt den Wettbewerb um immer niedrigere Löhne statt um bessere Produkte und Leistungen. Sie schützt Arbeitnehmer vor extrem schlechter Bezahlung, die sich nicht selbst schützen können. Die Arbeit von Menschen, die Haare schneiden, Schweine zerlegen oder ein Bier servieren, wird wieder mehr gewürdigt.

Das Gute dabei ist: Der Mindestlohn, obwohl noch gar nicht in Kraft, hat das Land bereits schleichend verändert. Weiße Flecken in der Tariflandschaft verschwinden. Immer seltener liegen tariflich vereinbarte Löhne unter der Marke von 8,50 Euro. Tarifparteien in Niedriglohn-Branchen, die sich jahrelang ignoriert haben, reden auf einmal wieder miteinander. Sie versuchen, noch schnell einen Vertrag abzuschließen, der es erlaubt, das eigene Lohngefüge bis Ende 2016 schrittweise an die 8,50 Euro anzupassen. Viele Arbeitnehmer können daher bald auf Verträge pochen, von denen sie früher allenfalls träumen konnten.

Ein historisches Gesetz mit schweren Geburtsfehlern

Um so erstaunlicher ist das Schauspiel, das Gewerkschaften und Opposition aufführen. "Durchlöchert", "ausgehöhlt", "unsozial" - kein Superlativ ist ihnen groß genug, um die Ausnahmen vom Mindestlohn schlechtzureden. Dabei hat Arbeitsministerin Andrea Nahles gar keinen Flickenteppich geschaffen. Die 8,50 Euro kommen bundesweit. Spätestens von 2017 an gelten sie für alle Branchen. Ausnahmen gibt es nur wenige, und die sind zumindest teilweise ganz vernünftig.

Es ist richtig, dass Arbeitgeber früheren Langzeitarbeitslosen für sechs Monate weniger zahlen dürfen. Dies mag in Einzelfällen den Missbrauch erleichtern. Die Lohnuntergrenze darf aber auf keinen Fall dazu führen, dass Langzeitarbeitslosen der Einstieg in den Arbeitsmarkt erschwert wird. Es ist sinnvoll, dass der Mindestlohn nicht für Minderjährige gilt. Das hält sie davon ab, nur zu jobben, statt eine Ausbildung zu beginnen. Es ist gut, dass für Praktika im Rahmen von Schule, Ausbildung und Studium für drei Monate die 8,50 Euro nicht fällig sind. Kürzere Fristen hätten nur dazu geführt, dass Betriebe viele Praktika gar nicht mehr anbieten.

Trotzdem hat das neue Gesetz schwere Geburtsfehler: Wie hoch der Mindestlohn zum Start sein darf, hat die Regierung bestimmt, statt dies wie in Großbritannien von Anfang an der zuständigen Kommission zu überlassen. Solche politischen Entscheidungen sind gefährlich: Weil die Koalition eine geringere Untergrenze im Osten als im Westen 25 Jahre nach der Wiedervereinigung für nicht durchsetzbar hielt, gelten die 8,50 Euro nun überall. In den neuen Bundesländern ist das Lohnniveau allerdings so niedrig, dass vor allem Kleinbetriebe damit überfordert sein werden, sofort so viel zu zahlen. Das wird keine Massenentlassungen auslösen, aber Jobs kosten und Schwarzarbeit fördern.

Auch die Mindestlohn-Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften ist völlig falsch konstruiert. Wissenschaftler sind ohne Stimmrecht an den Katzentisch verbannt - anders als in Großbritannien. Dort hat gerade das Mitspracherecht von unabhängigen Fachleuten dazu beigetragen, dass selbst frühere Gegner die Untergrenze längst akzeptieren. In Deutschland ist die Entscheidungsfreiheit der Kommission eingeschränkt. Sie soll nur den Mindestlohn alle zwei Jahre an die zurückliegende Entwicklung der Tarife anpassen. Eine Kommission, die - erst recht vor Wahlen - zum Spielball der Politik wird, ist jedoch überflüssig.

Für die soziale Marktwirtschaft ist der Mindestlohn kein historischer Sieg. Er bleibt ein staatlicher Eingriff in die Tarifautonomie, den die Sozialpartner selbst verschuldet haben. Zu wenige Arbeitnehmer haben sich organisiert und für ihre Rechte gekämpft. Zu viele Arbeitgeber haben ihre Machtposition ausgenutzt, Lohndumping betrieben, Tarifverträge samt Gewerkschaften ignoriert und ihre Verbände verlassen. Nur deshalb ist es richtig, per Gesetz den Menschen ganz unten auf der Lohnskala wieder etwas mehr vom Wohlstand abzugeben.

Der Mindestlohn ist eine der größten Sozialreformen der Nachkriegsgeschichte. Er ist aber auch eine Notlösung, die das Land irgendwann in Zukunft nicht mehr brauchen sollte.

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