Mindestlohn-Bilanz in Großbritannien:Acht Euro, und das ist gut so!

Wenn in Deutschland vom Mindestlohn für Friseusen und andere Schlechtverdiener die Rede ist, sind Kassandra-Rufe nicht weit - Jobvernichtung! Firmenpleiten! Auswanderungen! Die Briten haben den Mindestlohn schon seit acht Jahren. Ihre Bilanz ist verblüffend.

Peter Martens

In wenigen Tagen beginnen im Koalitionsausschuss die Verhandlungen über den Mindestlohn. Seit Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns auf die politische Agenda gehoben hat, gibt es Streit um dieses Thema. Kurz vor dem Verhandlungstermin scheint nun Bewegung in die festgefahrenen Fronten zu kommen.

Angela Merkel räumte zwar nach wie vor "grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten" mit der SPD ein und sprach sich klar gegen die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns aus. Doch die Kanzlerin sieht nach eigenen Worten noch "Spielräume" für einen Kompromiss.

Auch die SPD hält weiterhin an ihrem Ziel eines allgemeinen Mindestlohns fest, signalisiert aber auch im Falle anderer Lösungen Zustimmungsbereitschaft. Doch mit dem großen Durchbruch rechnet niemand mehr.

So sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck im Deuschlandfunk, er erwarte ein Verhandlungsergebnis, das aus seiner Sicht nur eine Zwischenlösung bis zu den nächsten Bundestagswahlen im Jahr 2009 darstelle.

Klar abgegrenzt

Obwohl sich also offensichtlich die Verhandlungspartner zaghaft aufeinander zu bewegen, bleiben die Positionen klar gegeneinander abgegrenzt. Die Position der Sozialdemokraten und Arbeitnehmervertreter: Mindestlöhne bekämpfen wirkungsvoll die Ausbeutung im Niedriglohnsektor und garantieren den Beschäftigten ein Leben in Würde.

Wirtschaftsliberale, Arbeitgeberverbände und das bürgerliche Lager der Politik kontern, Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze und lassen vor allem jene ohne Job, die keinen anderen mehr finden. So warnt Kanzlerin Merkel davor, im Streit das übergeordnete Ziel des Abbaus der Arbeitslosigkeit aus dem Blick zu verlieren.

Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans Böckler Stiftung betrachtet bisherige Vorgaben der Politik auf diesem Sektor mit Skepsis. "Deutschland hat ein Lohnproblem", sagt Horn. Er führt an, dass Löhne und Gehälter seit Jahren stagnierten und zugleich die Unternehmensgewinne explodierten.

Trotzdem sei die Anzahl von Menschen ohne Job weiter gestiegen. Damit sei die Strategie, die Langzeitarbeitslosigkeit durch immer geringere Lohnkosten zu reduzieren, weitgehend gescheitert, so Horn.

"Deutschland hat ein Lohnproblem"

Die Wirklichkeit sieht traurig aus. Selbst gelernte Fachkräfte müssen sich in zahlreichen Berufszweigen mit Stundenlöhnen von wenigen Euro zufrieden geben.

Laut Statistischem Bundesamt lag der auf Stundenbasis umgerechnete Tariflohn im sächsischen Friseurhandwerk für ausgebildete Arbeitnehmer im ersten Berufsjahr 2006 bei 3,82 Euro. In Bremen betrug der unterste Tarifstundenlohn für ausgebildete Friseure im ersten Gesellenjahr 6,28 Euro.

Allgemein verbindliche, gesetzlich geregelte Mindestlöhne gibt es in Deutschland bisher nur für das Baugewerbe, das Dachdeckerhandwerk, die Gebäudereiniger, das Abwrack- und Abbruchgewerbe sowie für das Maler- und Lackiererhandwerk.

Die Mindestlöhne lagen im Jahr 2006 zwischen 6,36 Euro für ungelernte Arbeiter in der ostdeutschen Gebäudereinigung und 12,40 Euro für Facharbeiter im westdeutschen Baugewerbe.

Ein Blick zu unseren europäischen Nachbarn zeigt, dass zahlreiche Länder bereits einen Mindestlohn eingeführt haben und damit unterschiedliche Ergebnisse erzielen.

Die Bundeskanzlerin ist da eher skeptisch: Dass es Mindestlöhne in über 20 europäischen Staaten gebe, heiße noch lange nicht, dass es ein geeignetes Instrument auch für Deutschland sei, betonte etwa die Kanzlerin beim Treffen des CDU-Wirtschaftsrates in Berlin.

In anderen Ländern funktioniert es gut

Tatsache aber ist, dass in zahlreichen, mit Deutschland strukturell vergleichbaren Ländern der gesetzliche Mindestlohn funktioniert. So betrug der minimale Stundenlohn Anfang 2007 laut Eurostat in den Niederlanden 8,13, in Irland 8,30 und in Großbritannien 7,90 Euro. Alle drei Länder glänzen mit niedriger Arbeitslosigkeit.

Lesen Sie weiter: Warum die Einführung des Mindestlohns in Großbritannien eine volle Erfolgsgeschichte wurde ...

Acht Euro, und das ist gut so!

Vor allem die Wiedereinführung des Mindestlohns in Großbritannien muss man heute als Erfolgsgeschichte bewerten. Ausgerechnet das Land, das für seine neoliberale Politik bekannt ist, verfolgt wieder eine Strategie staatlich geregelter Löhne im untersten Einkommensbereich. Hier beträgt die derzeitige Minimalbezahlung für eine Arbeitsstunde 5,35 britische Pfund (7,90 Euro).

Das Phänomen der Mindestlöhne hat in Großbritannien eine lange Tradition: Seit 1891 gehören festgelegte Bezahlungen pro Stunde zum Arbeitsalltag auf der Insel. 1983 wurden die "minimum wages" abgeschafft und nach dem Wahlsieg von Labour 1999 wieder eingeführt.

Diese Entscheidung von Premierminister Tony Blair und Schatzmeister Gordon Brown war bei den Wählern populär, bei den Konservativen und auch innerhalb der Labour Party dagegen äußerst umstritten.

An der kontroversen Diskussion in der Öffentlichkeit hat sich bis heute nichts geändert. Doch bei der Bekämpfung von Hungerlöhnen sei aus dem einstigen Nachzügler ein Anführer geworden, bemerkt die britische Zeitung The Guardian nicht ohne Genugtuung.

Vom Nachzügler zum Anführer

Tatsächlich kann eine Studie des Europäischen Gewerkschaftsbundes (European Trade Union Institute for Research / ETUI) bei britischen Arbeitnehmern seit 2003 eine Steigerung der Kaufkraft um 18,8 Prozent feststellen.

Wie hoch der jeweilige Mindestlohn ist, wird immer wieder aufs Neue festgelegt. Diese Aufgabe hat die Regierung einer unabhängigen Niedriglohnkommission übertragen, der LPC (Low Pay Commission). Die Kommission setzt sich zusammen aus jeweils drei Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitnehmer und unabhängiger Sachexperten.

Diese Regelung hat für die Regierung mehrere Vorteile: Das Ergebnis hat immer die Zustimmung sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite. Zusätzlich wird es für die Opposition schwierig, die ausgehandelte Zahl anzugreifen.

Die Balance entscheidet

David Metcalf ist als einer der drei unabhängigen Experten Mitglied der Kommission. Metcalf hat sich über die Landesgrenzen hinaus einen Namen als Experte im Bereich der Arbeitspolitik gemacht. Obwohl er an der eher wirtschaftsliberal orientierten Eliteschule London School of Economics lehrt, ist er ein überzeugter Anhänger der Mindestlohnidee.

"Vor der Einführung der Mindestlöhne 1999 gab es zahlreiche Gegner, die einen Einbruch der Beschäftigtenzahlen prognostiziert haben. Entscheidend ist jedoch nicht der Mindestlohn an sich, sondern die Balance, die er einhalten muss", sagt Metcalf gegenüber sueddeutsche.de.

Bei der Frage nach den Auswirkungen der Mindestlöhne auf die Volkswirtschaft in Großbritannien hat Metcalf kürzlich alle bisherigen wissenschaftlichen Ergebnisse zum Thema zusammengetragen und überarbeitet. Sein Papier nimmt die Bilanz vorweg: "Why has the British national minimum wage had little or no impact on employment?"

Die Ergebnisse sind zumindest hierzulande recht überraschend - die Mindestlöhne haben keinerlei negative Auswirkung auf den Arbeitsmarkt. Im Gegenteil.

Überraschende Ergebnisse

Metcalf fasst zusammen: "Die Prognosen der Skeptiker haben sich überhaupt nicht bewahrheitet. Stattdessen hat die gesamte Beschäftigung kontinuierlich zugenommen. Die Mindestlöhne haben für eine Anhebung der Reallöhne im Niedriglohnsegment gesorgt, sie haben das Ungleichgewicht bei der Bezahlung zum Teil ausgeglichen und sie haben das Lohngefälle bei der Bezahlung für weibliche Beschäftigte verringert."

Lesen Sie weiter: Welche positiven Effekte der Mindestlohn mit sich gebracht hat und inwieweit das auf Deutschland übertragbar ist ...

Acht Euro, und das ist gut so!

Getreu dem Grundsatz von Angebot und Nachfrage wurde auch in Großbritannien bei Löhnen über dem Marktpreis ein Einbruch der Beschäftigtenzahlen im jeweiligen Segment erwartet. Warum dies nicht passiert ist, erklärt Metcalf anhand der "drei P's", wie er sie nennt - Preise, Profite und Produktivität.

Erstens hätten Unternehmen die höheren Kosten über höhere Preise weitergeben können. Das funktioniere am besten in Bereichen, in denen die Konkurrenz aus dem Ausland begrenzt sei und die Arbeit vor Ort getan werden müsse, beispielsweise im Gastronomiebereich, so Metcalf.

Zweitens sei der Profit der Unternehmen gesunken. Davon seien vor allem solche Firmen betrtoffen, die viele Arbeitnehmer auf dem untersten Lohnniveau beschäftigten. Entgegen den damit üblicherweise einhergehenden Befürchtungen bilanziert die Studie, dass eine Zunahme der Firmenpleiten nach Einführung des Mindestlohns ausgeblieben ist. Ganz offensichtlich waren die Unternehmensprofite so hoch, dass die Firmen eine Beschneidung ihrer Gewinne im Schnitt durchaus verkraften konnten.

Warum es nicht weniger Jobs gab

Drittens sei die Produktivität in den betreffenden Bereichen gestiegen. Dafür sei eine ganze Reihe von Gründen verantwortlich, so Metcalf: "Bei diesem Punkt muss man sehen, dass Arbeiter in untersten Einkommensschichten oft einfach ausgebeutet wurden. Die Einführung des Mindestlohns hat diese Ausbeutung gestoppt. Gleichzeitig stieg die Motivation und Effektivität bei den Beschäftigten.

Zusätzlich wurden zahlreiche Menschen ermutigt, auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu werden, zum Beispiel Frauen nach einer Baby-Pause. Und die Mindestlöhne sorgen dafür, dass der Arbeitskräftemangel in manchen Bereichen am untersten Ende der Einkommensskala sehr viel einfacher behoben werden kann", kommentiert Metcalf.

Eine Analyse der gemeinnützigen Organisation "The Work Foundation" listet auf, wer bisher von der Einführung der Mindestlöhne vor allem profitiert: 70 Prozent der Beschäftigten in diesem Sektor sind Frauen, zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten aug Teilzeitbasis und mehr als zwanzig Prozent im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Gebäudereinigung und im Friseurgewerbe.

Diese Analyse führt auch einen eher immateriellen Gewinn der Mindestlöhne auf - die Herstellung von Legitimität, weil die Empfehlungen der Niedriglohnkommission für einen Konsens in der Geselschaft sorgten.

Dem Bericht des Europäischen Gewerkschaftsbundes zufolge bringt der britische Mindestlohn auch verstärkte Einwanderungsbewegungen mit sich, vor allem aus Ländern, in denen schlechter bezahlt wird.

Zwar gelten in zahlreichen Ländern Europas und in den USA festgelegte Lohnuntergrenzen. Die Auswirkungen auf die jeweiligen Volkswirtschaften sind allerdings nur eingeschränkt miteinander vergleichbar.

Die Situation in den USA sieht David Metcalf etwa als sehr ähnlich zu der in Großbritannien. Dagegen stuft er die geltenden Mindestlöhne in den Niederlanden und in Frankreich als zu hoch ein.

Der Wissenschaftler plädiert im Falle Frankreichs für ein abgestuftes Modell, dass für 16-Jährige einen Mindestlohn auf deutlich niedrigerem Niveau festlegt und ihn sukzessive bis auf das Erwachsenenniveau für 22-Jährige anhebt.

Die derzeitige Situation sei "ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter Jüngeren. Und deswegen fliegen Steine auf den Straßen."

Gelassenheit bei drastischen Warnungen

Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Instituts, befüchtet im Fall von Mindestlöhnen auch für Deutschland eine massive Verschlechterung. Bei der Einführung eines Mindestlohns von 7,50 Euro könnten 1,1 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen, prophezeit Sinn im Handelsblatt.

Auch David Metcalf bekommt in seinem Land immer wieder drastische Warnungen zu hören. Nach dem Erfolg des Programms in den letzten acht Jahren bleibt er gelassen.

Die Empfehlung des Wissenschaftlers: "Es ist sehr wichtig, die Balance einzuhalten. Zwischen dem Widerstand der Arbeitgeber und den Vorgaben der Linken, möglichst hohe Mindestlöhne festzulegen, muss man die richtige Entscheidung treffen.

Hätten wir ein Niveau von sagen wir 10 Euro festgelegt, würde das den Beschäftigungszahlen sehr schaden. Wir müssen den Wunsch nach höheren Löhnen und den möglichen Schaden für Jobs gegeneinander ausbalancieren."

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