Merkels Wirtschaftspolitik:Abkehr von Erhard

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"So viel Freiheit wie möglich, so viel Staat wie nötig" - das Prinzip war einmal. Kanzlerin Merkel hat ihre Wirtschaftspolitik seit ihrer Oppositionszeit stark geändert. (Foto: AFP)

Es gibt zwei Merkels: Die von vor ihrer Kanzlerschaft und die danach. In der alten Welt pflegte Merkel die Erinnerung an die CDU-Größe Ludwig Erhard, heute dagegen baut sie den Staat aus, führt Betreuungsgeld und Mindestlohn ein.

Von Marc Beise, München

Diese Frau, sagen manche Kritiker, hat keine Prinzipien, jedenfalls keine ordnungspolitischen. Besonders Ökonomen und solche, die sich dafür halten, urteilen gerne in diesem Sinne über Angela Merkel. Ordnungspolitik, das ist so ein Wort aus der alten Bundesrepublik, also aus der Zeit vor 2005 - in jenem Jahr wurde die Uckermärkerin Bundeskanzlerin. Seitdem bestimmt sie die Politik, und es gibt immer mehr Menschen in Deutschland, die ein Land ohne Angela Merkel an der Spitze gar nicht mehr kennen. Und die auch nicht mehr wissen, was Ordnungspolitik ist. Nämlich eine Wirtschaftspolitik, die einen Rahmen setzt, innerhalb dessen die Wirtschaftsprozesse stattfinden. Eine Wirtschaftspolitik also, die nicht alles und jedes regeln will (Planwirtschaft), aber auch nicht alles laufen lässt (Laisser-faire-Politik), sondern die Leitplanken fürs Wirtschaften zieht, einen Rahmen setzt.

Ordnungspolitik

Dieser Rahmen kann natürlich weiter oder enger gesetzt sein, es wäre begrifflich beides Ordnungspolitik, aber im alten Deutschland, dem vor 2005, waren Ordnungspolitiker jene Menschen, die für einen weiteren Rahmen plädierten, also für Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger und Unternehmen, kurz: So viel Freiheit wie möglich, so viel Staat wie nötig.

Man kann das natürlich auch anders herum sehen: so viel Staat wie möglich, so viel Freiheit wie nötig - das wäre aber keine Ordnungspolitik mehr im Sinne von Ludwig Erhard, dem Vater des Wirtschaftswunders: der erste Wirtschaftsminister, CDU-Bundeskanzler, Anhänger einer sozialen Marktwirtschaft. "Sozial", weil sie auf Ausgleich bedacht ist, weil sie den Schwachen helfen will. Aber eben vor allem "Marktwirtschaft", ein System, das für Wachstum und Wohlstand im freien Verkehr sorgt und nicht staatlich verordnet. Und in dem erst verdient werden muss, was dann umverteilt werden kann. So sah das Erhard, so steht es in den Programmen der CDU. Aber ist das auch die Überzeugung der Parteivorsitzenden und Erhard-Nachfolgerin Angela Merkel?

Wer so fragt und sucht, der stößt auf zwei Angela Merkels. Die von vor 2005 und die danach. In der alten Welt kannte Merkel ihren Erhard und pflegte die Erinnerung. Zitat von 1990: "Wenn es uns nicht gelingt, im Rahmen einer neuen Wirtschaftsordnung Werte zu erwirtschaften, können wir im sozialen und ökologischen Bereich auch nichts verteilen." Die Oppositionspolitikerin während Rot-Grün forderte 2003 eine "neue soziale Marktwirtschaft", in der Leistung sich mehr lohnen müsse und man mehr Eigenverantwortung brauche. Die Merkel von heute dagegen baut den Staat aus, führt Betreuungsgeld und Mindestlohn ein und konterkariert mit ihren Rentenbeschlüssen die "Rente mit 67", die ausgerechnet die früher regierenden Sozis mühsam salonfähig gemacht hatten.

Steuerpolitik

Noch auf dem berühmten Leipziger Parteitag der CDU, zwei Jahre vor dem Bundestagswahlkampf gegen Gerhard Schröder und Joschka Fischer, sprach sich Merkel für ein einfaches, gerechtes und leistungsstarkes Steuerrecht aus. Das Wort vom "Bierdeckel-Steuerrecht" stammt nicht von ihr, es gehörte aber zu ihrem Programm. Heute blockt die Kanzlerin jeden Versuch ab, eine Steuerdiskussion zu entfachen. Es gilt ihr und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble schon als ehrgeizig, Steuererhöhungen zu vermeiden, dabei hat der Staat Einnahmen so hoch wie nie zuvor. Die Merkel von 2003 hätte gegen diese steuerpolitische Trägheit den Furor der Reformerin gesetzt.

Gesundheitspolitik

Die Merkel von damals wollte das Gesundheitssystem reformieren, die Nebenkosten senken. Jeder, ob Manager oder Krankenschwester, sollte den gleichen Kassenbeitrag zahlen, die Kopfpauschale. Mit dem Zusatzbeitrag hat die große Koalition in der vergangenen Woche den letzten Rest dieses Vorhabens abgeschafft.

Infrastruktur

Die Merkel von damals wusste um die Notwendigkeit, die Infrastruktur zu stärken und die Innovation voranzutreiben. Die Merkel von heute weiß das vielleicht immer noch, lässt aber zu, dass für Infrastruktur aus dem Bundesetat zwar einige Milliarden Euro, im Vergleich zu anderen Ausgaben aber erschreckend wenig Geld zur Verfügung gestellt wird und der zuständige CSU-Minister sich auf dem Nebenkriegsschauplatz einer Maut verkünstelt.

Euro-Rettung

Die Merkel von damals machte sich für Eigenverantwortung nicht nur von Bürgern, sondern auf der europäischen Ebene auch von Staaten stark. Heute hat sie als maßgebliche Lenkerin der Euro-Gruppe milliardenschwere Hilfspakete für überschuldete Staaten auf den Weg gebracht und trägt immer größere Risiken mit bis hin zur lockeren Geld- und Kreditpolitik des EZB-Präsidenten Mario Draghi.

Energiewende

In der Energiepolitik, wo Angela Merkel den Atomausstieg selbst exekutiert hat, hat sie die Chance verstreichen lassen, daraus eine wirkliche alternative Politik zu machen. Noch immer wissen die Deutschen weder, wie die Energiewende ausgeht, noch, was sie am Ende kostet.

Die Pragmatikerin

Ihre Anhänger verweisen auf den Lernprozess der Kanzlerin im Zuge der Finanzkrise, die so viele angebliche Gewissheiten auch in der Ökonomie zerstört hat. In der harten Phase nach 2007 stand irgendwie alles auf dem Prüfstand - also machte sich Merkel selbst ein Bild. Und weil sie weiß, dass das ein unzulängliches Bild ist, bleibt sie vorsichtig. Also sucht man bei ihr vergeblich Grundsätze, Grundsatzreden, einen persönlichen Kompass. Stattdessen: abwarten bis zuletzt, auf Sicht fahren, den Ereignissen hinterhertaumeln. Eine "Wirtschaftspolitik in betrunkenem Zustand", hat das mal die Zeit genannt.

Wer so ist, macht nicht notwendigerweise alles falsch, im Gegenteil, er bucht für sich den Erfolg des Augenblicks. Das Problem ist vom Tisch, der Streit gelöst. Der EU-Gipfel befriedet, die politischen Gegner ausgeschaltet. Die Merkel nach 2005 hat eine Wahl nach der anderen gewonnen, darf man ihr da ihren Wackelkurs verübeln?

Ja, man darf - wenn man in historischen Dimensionen denkt. Denn das Prinzip Merkel ist vermutlich so endlich wie der Wirtschaftsboom, den Deutschland derzeit erlebt. Die nächsten Jahre, hat kürzlich das Forschungsinstitut Prognos skizziert, werden grandios, "Goldene Zwanziger Jahre". Danach aber, das steht auch in der Studie, geht's bergab mit dem immer schneller alternden und viel zu kostspielig organisierten Land. Angela Merkel wird dann nicht mehr Bundeskanzlerin sein, das ist schon klar. Aber für jene ferne Zeit werden schon heute die Weichen gestellt. Der viel gerühmte Merkel'sche Pragmatismus blickt nicht über den Tag hinaus.

© SZ vom 17.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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