Maßnahmen gegen die Krisen:IWF entdeckt die Nachteile der Inflation

Für die meisten Politiker und Ökonomen war eine hohe Inflation stets tabu. Der IWF-Chefökonom schockte die Finanzwelt, als er eine Teuerungsrate von vier Prozent ins Spiel brachte. Nun bekommt er Widerspruch - aus dem eigenen Haus. Wer recht hat, könnte das echte Leben bald zeigen.

Catherine Hoffmann

Es war ein Tabubruch: Seit Jahrzehnten gilt der Grundsatz, dass Notenbanken die Inflation niedrig halten sollen. Dann veröffentlichte Olivier Blanchard , damals Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), ein Papier mit dem Titel "Rethinking Macroeconomic Policy" - die Wirtschaftspolitik neu denken (PDF). Das war im Februar 2010.

Mitten in der Finanzkrise regte Blanchard eine Abkehr vom heiligen Konsens der Notenbanker an: "Sollten Geldpolitiker in normalen Zeiten nicht höhere Inflationsraten anstreben, damit sie mehr Spielraum haben, auf Schocks und Krisen zu reagieren? Sind die Kosten von Inflation bei, sagen wir, vier Prozent so viel höher als bei zwei Prozent?"

Was so harmlos klingt, hätte - in die Tat umgesetzt - gewaltige Auswirkungen: Vier Prozent Inflation hieße ja über 20 Jahre weit mehr als 50 Prozent Geldentwertung. Ausgerechnet eine höhere Teuerungsrate soll bei der Bekämpfung von Krisen helfen, obwohl viele Bürger kaum etwas mehr fürchten als Geldentwertung infolge lockerer Geldpolitik?

Der Widerhall der Ökonomen war gewaltig. Paul Krugman, prominentester Keynesianer der Zunft, lobte die Idee. John Taylor, einer der führenden Geldtheoretiker der Vereinigten Staaten, fragte dagegen: "Wenn man sagt, es sind vier Prozent, warum nicht fünf Prozent oder sechs Prozent?"

Nun wird die verwegene Idee von Blanchard ausgerechnet durch eine neue Studie des IWF infrage gestellt (hier als PDF). Etienne Yehoue kommt in ihrer Arbeit "Über Preisstabilität und Wohlfahrt" zu dem Ergebnis, dass schon geringfügig höhere Teuerungsraten äußerst unangenehme Nebenwirkungen haben: "Ein höheres Inflationsziel führt zu einem Wohlstandsverlust." Würde die amerikanische Notenbank ihr Inflationsziel von zwei auf vier Prozent anheben, entstünden Kosten in Höhe von sieben Prozent des realen Einkommens, ergeben ihre Berechnungen, die allerdings - wie jedes Modell - stark von den Annahmen abhängen.

Ein Thema, das die Geldpolitiker nicht loslässt

Nun gibt Yehoues Meinung nicht die offizielle IWF-Linie wieder, Gedankenspiele über höhere Inflationsraten dürften es künftig allerdings schwerer haben, ernst genommen zu werden. Zumal sich in den vergangenen Jahren ja gezeigt hat, dass die Geldpolitik keineswegs machtlos ist, wenn die Leitzinsen schon bei null liegen. Unter Umständen wirken unkonventionelle Maßnahmen wie Anleihekäufe sogar schneller und gezielter. Allerdings bergen auch sie die Inflationsgefahren, ein Thema, das die Geldpolitiker nicht loslässt.

Nachdem das keynesianische Experiment der 60er- und 70er-Jahre mit den Ölpreisschocks in ungebändigter Teuerung endete, trat Paul Volcker auf den Plan. Als Chef der amerikanischen Notenbank begann er 1979, die zweistelligen Inflationsraten mit schmerzhaft hohen Leitzinsen zu bekämpfen. Seit Mitte der 80er-Jahre erlebten die USA eine Entwicklung, die Ökonomen als "great moderation", große Mäßigung, bezeichnen.

Trotz gelegentlicher Schocks wurden die konjunkturellen Ausschläge kleiner, die Inflationsraten schrumpften. Nicht wenige Ökonomen glaubten, Inflation und Wirtschaftskrisen seien von gestern; sie ließen sich von den guten Daten "einlullen", wie Blanchard in seinem Papier schrieb.

Während die Inflationsraten in den meisten Industrieländern stabil waren, zeigten sich mehr und mehr Risse im ökonomischen Fundament. Rekordhohe Rohstoffpreise und der Boom am Immobilienmarkt wurden jedoch übersehen, jedenfalls nicht als Anzeichen einer kommenden Krise erkannt. Bis die Blase platzte und 2008 und 2009 die Wirtschaft kollabierte.

Um noch Schlimmeres zu verhindern, senkten die Notenbanker ihre Leitzinsen auf nahe null Prozent und griffen tief in die Trickkiste ihrer geldpolitischen Instrumente. "Wäre es ihnen möglich gewesen, hätten sie die Zinsen weiter gesenkt. Aber bei nominalen Zinsen von null Prozent ist Schluss", schrieb Blanchard.

Viele Fragen, die der damalige IWF-Chef aufwarf, sind bis heute unbeantwortet: Sollten sich Notenbanker nicht nur auf Verbraucherpreise konzentrieren, sondern auch Vermögenspreise im Blick haben? Vor allem: Sollten die Währungshüter angesichts extrem geringer Inflationsraten den Mut zu einer sehr laxen Geldpolitik haben, um eine Deflation zu verhindern - auch um den Preis, dass in Zukunft die Inflation stark steigt?

Die USA und Europa sind gerade dabei, dies herauszufinden, nicht in einer wissenschaftlichen Studie, sondern im echten Leben.

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