Maßnahme gegen Hunger:Indien startet gigantisches Ernährungsprogramm

Weizenernte in Indien

Ein indischer Farmer auf einem Weizenfeld.

(Foto: dpa)

Ein Kilo Reis für vier Cent, ein Kilo Weizen für drei Cent: 800 Millionen Inder sollen bald vom Staat mit Getreide zu Spottpreisen versorgt werden. Doch ist das milliardenschwere Ernährungsprogramm ein historischer Meilenstein im Kampf gegen den Hunger oder nur ein gefährliches Wahlversprechen?

Sonia Gandhis Stimme bebt, als sie vor dem indischen Parlament spricht. Öffentliche Auftritte der 66-Jährigen sind rar. "Die Frage, ob wir es schaffen, stellt sich nicht. Wir müssen es schaffen. Es ist ein historischer Schritt, um Hunger zu bekämpfen", sagt die Chefin der regierenden Indischen Kongresspartei - dann erleidet Gandhi einen Schwächeanfall und wird mit Herzschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Da dauert die Debatte um das Superprojekt der Regierung bereits mehrere Stunden. Am Ende wird der Gesetzesentwurf das Parlament passieren.

Das Vorhaben ist gigantisch. Mit einem Gesetz und einem darauf aufbauenden Hilfsprogramm will die indische Regierung die Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung garantieren. 820 Millionen Inder, das sind zwei Drittel aller in dem Land lebenden Menschen, sollen bald Getreide und Reis zu Cent-Preisen bekommen. Jede bedürftige Familie soll monatlich bis zu 35 Kilogramm der stark subventionierten Nahrungsmittel kaufen können. Ein Kilo Reis für vier Cent, Weizen für drei Cent, andere Getreidesorten für einen Cent. Schwangere und stillende Frauen sowie Schulkinder bekommen kostenlose Mahlzeiten. 16 Milliarden Euro wird das Mammutprogramm den indischen Staat kosten.

Keine Frage, der Bedarf ist ebenfalls gigantisch. Jeden Tag verhungern nach Angaben von Unicef mehr als 4000 Kinder in Indien. In der Statistik schlägt sich ihr Schicksal in der Kindersterblichkeit nieder, dem sichersten Indikator von Hungersnot. Bei der Kindersterblichkeit teilt sich Indien die vorderen Plätze mit Ländern wie dem Tschad und Äthiopien. Auf 1000 Geburten gerechnet sterben 66 Kinder noch vor ihrem fünften Lebensjahr - in Deutschland sind es weniger als vier. Die Welthungerhilfe beschreibt die Lage in Indien als "sehr ernst", 42 Prozent der indischen Kinder sind unterernährt. Premierminister Manmohan Singh nannte diese Zahlen eine "nationale Schande".

Indien im Umbruch

So könnte das Gesetz namens "National Food Security Bill" ein historischer Meilenstein in der Bekämpfung des Hungers in der weltgrößten Demokratie der Welt sein. Oder ein gefährliches Wahlkampfmanöver mit falschen Versprechungen. 2014 stehen Parlamentswahlen an. Die Regierung hatte das Ernährungsprogramm im Wahlkampf 2009 versprochen, Ende 2011 einen ersten Entwurf vorgelegt. Schon damals gab es Kritik an dem Papier.

Doch Sonia Gandhi blieb unbeirrt. "Wir wollen dieses Hilfsprogramm, damit künftig kein Kind mehr hungrig ins Bett gehen muss", sagte die Schwiegertochter der 1984 ermordeten indischen Premierministerin Indira Gandhi und Frau des 1991 ebenfalls ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi. Seit 1998 ist die gebürtige Italienierin Präsidentin der derzeit regierenden Indischen Kongresspartei. Sie gewann 2004 die indischen Parlamentswahlen, verzichtete aber auf das Amt der Ministerpräsidentin. Von der Forbes-Liste wird sie aktuell auf Platz elf der mächtigsten Menschen der Welt geführt. Ihr Privatvermögen soll sich auf mehrere Milliarden Euro belaufen. Seit sie sich vor zwei Jahren einer Krebsoperation in den USA unterzog, vermeidet sie öffentliche Auftritte. Doch dieses Mal ginge es um alles oder nichts, heißt es in indischen Medien.

Das Schwellenland Indien steht vor einem gewaltigen Umbruch. 2011 noch zur am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft gekürt, lahmt das Wachstum momentan gefährlich, die Rupie ist im freien Fall und die Inflation treibt die Nahrungsmittelpreise nach oben. Indien hat die drittmeisten Milliardäre der Welt - aber ein großer Teil der 1,2 Milliarden Inder leben immer noch unter der Armutsgrenze.

Hauptproblem Korruption

"Einige Leute fragen uns, ob wir die Mittel für dieses Programm haben. Aber diese Frage stellt sich nicht", sagte Gandhi vor dem Parlament. Die indische Zentralbank (RBI) warnt davor, dass die stetig steigenden Kosten für Sozialprogramme wichtige Investitionen in anderen Bereichen wie Landwirtschaft verhindern. Die großzügige Subventionspolitik der Regierung erhöhe empfindlich den Druck auf die ohnehin schon gebeutelte Staatskasse. Und es setze an den falschen Stellen an.

Eine staatlich geförderte Lebensmittelvergabe an die Armen gibt es in Indien schon seit den fünfziger Jahren. Mittlerweile kamen zahlreiche Ernährungsprogramme hinzu. Doch das große Problem all dieser Projekte ist die Korruption. So gibt es schon lange staatlich subventionierte Lebensmittelläden. Doch nach Schätzungen von unabhängigen Experten verschwindet bis zu 60 Prozent dieser Ware und taucht auf anderem Weg im normalen Verkauf wieder auf. Es fehlen auch die Lagerkapazitäten für die zusätzlichen Millionen Tonnen an Getreide. Schon jetzt vergammeln jährlich Millionen Tonnen aufgrund falscher Lagerung. Neben Korruption und schlechter Organisation verhindert auch die willkürliche Verteilung der Waren eine gerechte Versorgung der Bedürftigen. Dieses System soll jetzt noch mehr Menschen mit staatlichen Mitteln versorgen? Viele Inder sind skeptisch.

Finanzexperten warnen laut Business Insider vor einem Anstieg der Inflation durch das Ernährungsprogramm. Die Regierung habe auch die hohen anfallenden Folgekosten nicht einberechnet, ohne die sich das Programm nicht flächendeckend umsetzen lasse, heißt es weiter. Es fehle in Indien schlicht die Infrastruktur, um ein Projekt dieser Größe zu bewältigen. Immerhin sollen etwa die Hälfte der Stadt- und drei Viertel der Landbevölkerung von dem staatlich subventionierten Getreide profitieren.

Wirtschaftsreformen statt Ernährungsprogramm

Auch Vertreter von Hilfsorganisationen sind skeptisch. Es sei ein "kleiner Schritt in die richtige Richtung", auch weil die Menschen ihr Recht auf Lebensmittelhilfen und damit ihr Recht auf Nahrung jetzt einklagen könnten, sagte der Regionalleiter der Deutschen Welthungerhilfe, Joachim Schwarz, in der taz. Problematisch sei aber, dass das neue Gesetz die Ursachen des Hungers in Indien völlig ausblende. Es gehe nur um kurzfristige Hilfe und gar nicht darum, die Ernährungssituation in den betroffenen Regionen nachhaltig zu verbessern, zum Beispiel durch die Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Mitglieder der hindu-nationalistischen Oppositionspartei BJP fordern Wirtschaftsreformen statt des Ernährungsprogramms. Getreide könne zwar Hunger bekämpfen, aber es reiche nicht für eine ausgewogene Ernährung. BJP-Mitglied Murlli Manohar Joshi sagte: "Das ist kein Ernährungssicherungs-Gesetz, das ist ein Wahlsicherungsgesetz."

Das Oberhaus muss in den kommenden Tagen zwar noch über das Ernährungsprogramm abstimmen, doch Beobachter halten es für wahrscheinlich, dass das Gesetz dort nicht mehr gekippt werden wird.

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