Lebensgefahr Asbest:"Das ist eine immense Tragödie"

Hunderttausende sterben jährlich an Asbest-Erkrankungen - trotzdem wird das Mineral in vielen Ländern weiter abgebaut und verarbeitet. Dahinter steckt eine mächtige Asbest-Lobby. Ein Gespräch über Geschichte und Gegenwart einer Industriekatastrophe mit Maria Roselli, der Autorin des Buchs "Die Asbestlüge".

Sarina Märschel

sueddeutsche.de: Frau Roselli, für Ihr Buch "Die Asbestlüge" haben Sie fast sechs Jahre lang Informationen gesammelt und Gespräche geführt. Was hat Sie bei Ihrer Recherche am meisten erstaunt?

Lebensgefahr Asbest: Maria Roselli ist eine Schweizer Journalistin und hat sechs Jahre lang für ihr Buch "Die Asbestlüge" recherchiert.

Maria Roselli ist eine Schweizer Journalistin und hat sechs Jahre lang für ihr Buch "Die Asbestlüge" recherchiert.

(Foto: Foto: Matthias Preisser)

Maria Roselli: Das Ausmaß des Leides der Menschen. Ich habe beispielsweise in Italien eine ältere Frau kennengelernt, die ihren Mann, ihre Schwester, eine Cousine, einen Neffen und schließlich die Tochter durch Asbestkrebs verloren hat. Wenn man solche Menschen trifft, dann lässt es einen nicht mehr los. In Europa möchte man seit dem geltenden Asbestverbot das Problem aber eigentlich gar nicht mehr sehen.

sueddeutsche.de: In der EU gilt seit 2005 ein Asbestverbot - das Problem hat sich dadurch also nicht erledigt?

Roselli: Nein! Vor dem Verbot wurde ungefähr 90 Jahre lang mit Asbest produziert. Und diese Produkte sind ja nicht einfach verschwunden - sie lagern auf Deponien und in unseren Häusern. Wir rechnen zum Beispiel damit, dass in 80 Prozent der Häuser in der Schweiz Asbest noch in irgendeiner Form vorhanden ist, zum Beispiel in den Heizungsräumen. Bauarbeiter können bei Sanierungs- oder Umbauarbeiten also unvermittelt mit dem Material in Kontakt und damit in Gefahr kommen - das geschieht täglich.

sueddeutsche.de: Dass Asbest krank macht, war schon seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts oder spätestens seit den 1940er Jahren bekannt. Warum hat es so lange gedauert, bis die Faser in Europa verboten wurde?

Roselli: In Deutschland, Frankreich und der Schweiz ist die Geschichte ähnlich. Nehmen wir das Beispiel Schweiz: Hier wurde 1978 von der Zementindustrie der Ausstieg aus dem Asbest angekündigt. Im gleichen Jahr hat die Schweizer Asbestlobby, in der verschiedene Industrien sich vereinigt hatten, einen Verein gegründet, den Arbeitskreis Asbest. Dieser hatte das Ziel, die Klassifizierung von Asbest in die Giftklasse 1 zu verhindern. Die Klassifizierung konnte um neun Jahre hinausgeschoben werden, was wiederum das Eintreten des Verbots hinausschob.

sueddeutsche.de: Womit argumentierte die Asbestlobby?

Roselli: In der Schweiz brachte man das rechtliche Argument, dass man Asbest nicht als giftig klassifizieren könne, weil nicht die Asbestprodukte krebserregend seien, sondern das Abfallprodukt Asbeststaub. Dass der Stoff gefährlich sei, wäre ihnen außerdem bekannt - sie versprachen, verantwortungsbewusst damit umzugehen. Die Ämter haben sich auf solche Argumentationen eingelassen.

sueddeutsche.de: Kann man sagen, wie viele Menschen heute noch an Asbest sterben?

Roselli: Laut der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO) muss man davon ausgehen, dass jedes Jahr weltweit 100.000 Menschen an Asbest-Erkrankungen sterben. Und es gibt auch Hochrechnungen einer Kommission des Europarates, die besagen, dass allein in Europa bis 2030 noch bis zu einer halben Million Menschen an Asbesterkrankungen sterben werden. Wegen der langen Latenzzeit werden also noch in vielen Jahren Menschen sterben, obwohl der Kontakt mit dem Material schon lange her ist.

sueddeutsche.de: Welche Berufsgruppen sind besonders gefährdet?

Roselli: Zur Blütezeit von Asbest in Europa gab es etwa 3000 verschiedene Produkte aus oder mit Asbest - von der Kupplung über den Toaster bis zu Isolierungen und Welldachplatten. Es sind Menschen aus ganz unterschiedlichen Branchen mit den Fasern in Berührung gekommen.

sueddeutsche.de: Warum ist Asbest immer noch nicht weltweit verboten?

Roselli: Asbest ist nur in knapp 30 Prozent der WHO-Länder verboten. In allen anderen Ländern kann es also abgebaut, importiert und verarbeitet werden. Das Problem hat sich in die Entwicklungs- und Schwellenländer verschoben. Es wird zwar insgesamt weniger Asbest abgebaut und verarbeitet, aber es gibt Ballungen in gewissen Ländern. Akut ist die Problematik sicherlich in Lateinamerika, schlimmer noch sind die Unmengen an Asbest, die in China, Russland und Indien verarbeitet werden. In Indien und in China werden durch den Bauboom Asbestprodukte abgesetzt wie noch nie, das ist ein riesiges Problem.

Im zweiten Abschnitt: Wie die Industriekatastrophe gestoppt werden könnte.

"Das ist eine immense Tragödie"

sueddeutsche.de: Was sind die kritischsten Punkte?

Roselli: Es gibt zwar generell keine sichere Verarbeitung von Asbest, aber in den Entwicklungs- und Schwellenländern verfügt man nicht einmal über die Techniken, die man in Europa hatte, als man noch mit Asbest produziert hat. Mir ist beispielsweise zugetragen worden, dass chinesische Bauern als Nebenjob Asbestsäcke aus den Fabriken holen und die Asbestfasern der Länge nach sortieren. Die bringen das Material also mit nach Hause! Das ist eine immense Tragödie.

sueddeutsche.de: Könnte diese Tragödie gestoppt werden?

Roselli: Es gibt einen Weg, um den Entwicklungs- und Schwellenländern zumindest eine Entscheidungsmöglichkeit zu geben, ob sie solche Materialien importieren wollen. Die Rotterdamer Konvention führt eine Liste mit gefährlichen Substanzen. Weißasbest ist dort bislang nicht aufgeführt. Nächstes Jahr ist ein neuer Vorstoß geplant. Aber es genügt das Veto eines Landes, um zu verhindern, dass die Substanz aufgenommen wird. Beim letzten Mal hat Kanada schon zu Beginn der Konferenz angekündigt, dass es sein Veto einreichen wird. Kanada ist ein großer Exporteur von Asbest und hat eine mächtige Asbestlobby. Dahinter stecken natürlich ganz klar wirtschaftliche Interessen.

sueddeutsche.de: Hilft es, wenn Druck aus Europa kommt?

Roselli: Schlussendlich geht es natürlich darum, dass diese Länder ihr Veto nicht einreichen. Aber ich denke, wenn man auch in anderen Ländern öffentlich Stellung nimmt und Druck ausübt, ist das bestimmt wichtig. Sicherlich ist hier die Politik gefragt.

sueddeutsche.de: Und die Betroffenen? Wehren die sich nicht?

Roselli: Viele Betroffene sind selbst krank, deshalb gibt es keine starke Lobby von Asbest-Geschädigten.

Maria Roselli wurde 1962 in Italien geboren. Sie arbeitet als Freie Journalistin in Zürich. Ihre Schwerpunktthemen sind Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit sowie Entwicklungszusammenarbeit. Maria Roselli hat eine Tochter.

Maria Roselli Die Asbestlüge - Geschichte und Gegenwart einer Industriekatastrophe Rotpunktverlag ISBN-10: 3858693553 24 Euro Zürich, 2007

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