Langzeitarbeitslose:Keiner will dich

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Eine Million Langzeitarbeitslose sind die Vergessenen des Jobbooms. Besuche bei denen, die es weiter versuchen.

Von Alexander Hagelüken

Er hat die beiden Damen zufällig im Café getroffen, sie wohnen ja alle in der Nähe. Links von Jürgen Hoofmann* steht seine Hausmeisterin, rechts die Nachbarin. Sie reden ein bisschen. Die älteren Damen lächeln ihn an, das heißt, sie lächeln hoch zu dem Zwei-Meter-Mann. Gut sieht der aus. Oben hat er die restlichen Haare abrasiert, er wirkt kantig. Entschlossener als einer, der seine Glatze zu verstecken versucht. Der Herbsttag in Nürnberg ist mild, der 47-Jährige trägt T-Shirt. Unter dem schwarzen Stoff zeichnen sich Muskeln ab, er trainiert.

Keine von ihnen fragt sich, warum ihr Bekannter an einem Dienstagmorgen im Café sitzt statt am Arbeitsplatz. Er hat ihnen ja erzählt, dass er Freiberufler ist. Wie angenehm, sich die Zeit so einzuteilen! Jürgen Hoofmann lügt die Damen an. Er lügt überhaupt einige Menschen an bei dem Versuch, seine berufliche Situation besser zu verstecken als seine Glatze. Am Anfang erzählte er offen, dass er keinen Job mehr hat. Aber er merkte schnell, wie ihn Leute dann anschauen. So jung und gesund und keine Arbeit? Er sagt es so: "Ich bin fit, habe ein Gebiss und spreche Deutsch. Welche Hindernisse kann es geben?"

Jürgen Hoofmann hatte seinen bisher letzten Job 2003.

In Deutschland sind mehr als eine Million Menschen langzeitarbeitslos, das heißt: länger als ein Jahr. 200 000 suchen mehr als vier Jahre. Man kann sagen, sie sind die Vergessenen des Booms, der die Zahl der Arbeitslosen in der vergangenen Dekade halbierte. Wahrscheinlich ist es kein Wunder, wenn eine Gesellschaft angesichts so einer Erfolgsgeschichte nicht mehr über jene redet, für die es doch nicht reicht. Noch nie seit der Wiedervereinigung hatten so viele Arbeit wie jetzt. Es gibt eine halbe Million offene Stellen. Welche Hindernisse kann es geben?

"Sie stellen sich infrage. Manche werden aggressiv."

Laut OECD suchen 40 Prozent der deutschen Arbeitslosen länger als ein Jahr, mehr als in Frankreich, Polen oder Skandinavien. Die Arbeitsagenturen mühen sich sehr und mit vielen Programmen, sie reden die Situation nicht schön. "Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich in den vergangenen Jahren verringert, doch die Beschäftigungschancen sind immer noch sehr gering", sagt Harald Neubauer, Vorsitzender der Münchner Agentur. "Die Eingliederungschancen sind eher rückläufig."

Nach Jahren der Arbeitslosigkeit trauen sich viele Bewerber kaum noch in ein Vorstellungsgespräch. (Foto: dpa/Oliver Berg)

Bei vielen gibt es eindeutige Gründe, warum sie schwer an eine Stelle kommen. Keine Ausbildung oder eine, die lange Arbeitslosigkeit entwertet hat. Gesundheitsprobleme. Zu wenig Deutsch. Drogen. Weist jemand mehrere dieser Merkmale auf und ist vielleicht jenseits der 50, sinken seine Chancen gegen null, so eine Studie des IAB-Instituts. Aber was ist mit jenen wie Jürgen Hoofmann, die keines dieser Merkmale aufweisen? Was löst es in einem aus, wenn er lange nichts findet?

Jürgen Hoofmann verkaufte, seit er 19 war. Erst Autozubehör, dann Kopierer, später Versicherungen. Eigenes Vertriebsgebiet, eigener Chef, erfreuliches Netto. Mit 36 ein Bandscheibenvorfall. Die Operateure treffen Nerven, er ist zeitweise gelähmt. Hoofmann trainiert sich da raus. Heute läuft er Marathon. Als er mit 42 wieder Arbeit suchen kann, ist er optimistisch. Er war doch 17 Jahre im Job erfolgreich. Er schreibt Hunderte Bewerbungen.

Helen Maurer* berät in einer Jobagentur in Hessen seit Jahren solche Kunden. Sie beschreibt, in welche Schleife Menschen geraten können. "Anfangs ist jeder guter Dinge." Doch Firmen seien inzwischen bei Vertriebs- oder Verwaltungsjobs schon kritisch, wenn einer mal sechs Wochen ohne Arbeit war. Hoofmann war sechs Jahre raus. Und ab 40 kostet einer mehr als ein junger Kandidat. "Die Bewerber kriegen lauter Absagen, die sie nicht verstehen", sagt Maurer. "Sie waren doch gut im Job. Sie stellen sich infrage. Manche werden aggressiv. Viele verlieren das Gefühl dafür, wo sie stark und schwach sind. Das bräuchten sie aber, um einzuschätzen: Wo ist eine Bewerbung sinnvoll? Wie kann ich mich noch qualifizieren?"

Hoofmann schläft damals nächtelang nicht. Er will sich die Adern aufschneiden. Ein Satz fasst seine Verzweiflung: "Keiner will dich."

Die meisten Bewerber werden abgelehnt, "weil im Gespräch die Chemie nicht stimmt"

Er stabilisiert sich, in dem er exzessiv Sport treibt. Inzwischen presst er seine Tage in ein Korsett, das anderen der Beruf vorgibt. Früh aufstehen, joggen, Bewerbungen, vegan essen, kein Fernsehen, ehrenamtlich ins Altenheim, um die Zeit rumzukriegen. Hoofmann stemmt sich gegen den Sog, der Arbeitslosen nach vielen Absagen droht. "Manche schlafen lange", schildert der norddeutsche Jobberater Olaf Wehrlich*, der wie andere Berater in dieser Geschichte anonym bleibt, um offen reden zu können. "Sie richten sich in der Arbeitslosigkeit ein. Sie entfernen sich mehr und mehr von ihrem Berufsalltag. Dadurch wird die Rückkehr schwer", sagt Wehrlich, der Hunderte Langzeitjoblose betreute.

Wie andere Berater schätzt er den Anteil jener, die gar nicht wollen und nebenbei schwarz arbeiten, auf zehn Prozent. 90 Prozent wollen. Aber sie können oft umso schlechter, je länger sie draußen sind. Jobberaterin Helen Maurer hat gerade einem Lkw-Fahrer, vier Jahre weg vom Fenster, ein Vorstellungsgespräch besorgt. Tags zuvor meldete er sich krank. Sie rief ihn an. Er redete sich raus. Dann fing er an zu weinen. Er traut es sich nicht mehr zu.

Langzeitarbeitslose mit Versagensängsten treffen auf ohnehin skeptische Firmen. "Das größte Problem ist: Firmen geben diesen Bewerbern heute keine Chance mehr", findet die rheinische Jobberaterin Barbara Herbst*, die lang im Management arbeitete, bevor sie nach einer Auszeit bei der Agentur anfing. "Gerade Großfirmen minimieren heute Risiken, um den Gewinn zu maximieren." Und Zeitarbeitsfirmen sortierten Langzeitjoblose aus, weil sie unzufriedene Kunden fürchteten.

Keiner will dich. Man spürt, wie Jürgen Hoofmann die Welt kategorisch in Gut und Böse aufteilt, um nach Jahren mit 370 Euro Hartz IV im Monat sein Selbstbewusstsein zu erhalten. Er selbst? Macht nichts falsch. Aber "Kanzlerin Murksel"! Aber die Berater, die ihn mit Jobs aus der Statistik tilgen wollten, die nicht zum Leben reichten. Die Firmen, für die er zu lang raus ist und zu alt. Mit 47. "Laut Gesetz soll ich noch 20 Jahre arbeiten!" Er hat ein professionelles Bewerbervideo, das kostete eine Woche Mühe. Keiner schaut es an.

Vielleicht sieht er alles inzwischen zu kategorisch, um eine Nische zu finden, einen kleinen Start. Barbara Herbst erzählt von einem Drucker, der lange ohne Stelle war. Ein Caterer suchte jemand. Der Drucker schluckte. Buffets abräumen? Er ging trotzdem mal hin. Jetzt arbeitet er da. Jürgen Hoofmann will Außendienstler sein wie früher, sonst nichts. Bieten sie ihm Jobs wie McDonald's an, sorgt er dafür, dass ihn keiner nimmt. Sein Bewerbertrainer sagte ihm, er käme nie mehr in den alten Beruf, wenn er mit Hilfsjobs anfinge.

Oft bekommen Bewerber nicht mal Absagen

Die Firmen ignorieren Hoofmann offenbar, weil er lange raus ist. Aber warum scheuen sie Kandidaten, die anscheinend nur Pluspunkte haben? Miriam Hauner* spricht fließend Englisch und Französisch, arbeitete zwölf Jahre im Kundenmanagement, auch im Ausland. Alles mit 37. "Sie sind eine Sahneschnitte", sagt ihr Jobberater. Hauner öffnet die Tür zu ihrer Wohnung in Augsburg. Die Eigentümerin hat die Miete reduziert, damit die Familie bleibt.

Miriam Hauner ist offiziell seit Herbst 2014 arbeitslos. In Wahrheit sucht sie länger. Der Bruch kam nach dem ersten Kind 2009. Nach einem Jahr wollte sie zurück in den Job, doch die Firma hatte mittlerweile den Kundenservice verkauft, da blieb sie erst mal zu Hause. Nach dem zweiten Kind begann sie mit Bewerbungen. Keine Angebote. Seit das zweite Kind 2014 in den Kindergarten kam, arbeitet sie Vollzeit an der Jobsuche.

Sie hat ihre Bewerbungen auf den Esstisch gelegt, leuchtstiftgelb markiert. Da, diese Modemarke suchte eine wie sie, Kundenmanagement, Sprachen, Ausland. Dieser Süßwarenhersteller auch. Bekommt sie Absagen, weil sie Teilzeit arbeiten will? Oft bekommt sie nicht mal Absagen. Sie drückt lange ihren Ohrring. Die Augen werden feucht.

So schnell kann man raus sein

Wenn sie die Kleine vom Kindergarten abholt, fragen die berufstätigen Mütter, wie es mit der Jobsuche läuft. Dann denkt sie: Was haben die, was ich nicht habe?

Sie ist ins Grübeln gekommen. "Vielleicht trete ich unprofessioneller auf, weil ich raus bin?" Wer ein paar Jahre ausstieg, spricht anders, sagt Beraterin Maurer. Manchem Personalmanager reiche das schon. "80 Prozent der Bewerber werden abgelehnt, weil im Gespräch die Chemie nicht stimmt."

Es lässt sich immer was anders machen. Miriam Hauner könnte ihre Kinder voll fremdbetreuen lassen und auf Vollzeitjobs zielen. Vielleicht macht sie das irgend-wann. Oder sie setzt sich bei Aldi an die Kasse. Sie hätte einfach nie gedacht, dass sie so lange suchen muss.

So schnell kann man raus sein.

Und bleiben. Fragt sich Jürgen Hoofmann manchmal, ob es bis zur Mini-Rente weitergeht ohne Job? "Das verdränge ich. Ich programmiere mich, anders zu denken."

*Name geändert

© SZ vom 12.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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