Kritik des Sachverständigenrats:Danke, Retro-Apo!

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Sie umringen Kanzlerin Merkel: der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Christoph Schmidt (rechts), der Wirtschaftsweise Peter Bofinger von der Uni Würzburg (links) - in der Runde steht auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) (Foto: dpa)

Die Politik der Regierung ist egoistisch und kurzsichtig, sie braucht dringend Reformen. Die Wirtschaftsweisen kritisieren, steuern gegen, widerlegen alte Thesen. Sie sind wie eine Art außerparlamentarische Opposition. Gut so.

Kommentar von Guido Bohsem, Berlin

Die öffentliche Meinung ist bis auf ein paar Kleinigkeiten einheitlich. Im Parlament sitzen lauter Parteien, die den gleichen wirtschaftspolitischen Prinzipien folgen. In der Regierung herrscht ohnehin breiter Konsens darüber, was im eigenen Land laufen sollte. Die künftigen Herausforderungen werden weitgehend ignoriert. Strittig ist lediglich die Frage, wie man das andersgläubige Ausland auf den richtigen Kurs bringen kann.

So geht es zu in der real existierenden Wirtschaftsdebatte des Jahres 2014 - zur Zeit der zweiten großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel. Diese Diskussionskultur kann einem seltsam bekannt vorkommen, besonders, wenn man lange östlich der Elbe gelebt hat. Man merkt, dass Union und SPD aus dem ersten Bündnis gelernt haben, wo sie sich selbst die größte Opposition waren und monatelang über Richtungsentscheidungen zofften.

In der zweiten großen Koalition Merkel wird Streit über den richtigen Kurs als störend empfunden. Der Koalitionsplan wird technokratisch abgearbeitet - selbst wenn er mautmäßigen Unsinn enthält. Und auch die Opposition hat wenig zu melden, weil Grüne und Linke eben auch sozialdemokratische Parteien sind, genauso wie Union und SPD, die eine eben mit öko-paternalistischem, die andere mit sozialistisch-romantischem Zuschnitt.

Das Gutachten liest sich wie ein marktwirtschaftlicher Gegenentwurf

Wie gut, dass es den Sachverständigenrat gibt. Zumindest einmal im Jahr schafft es das renommierte Gremium aus fünf von der Regierung vorgeschlagenen Wissenschaftlern, ein bisschen Leben in diese staden groß-koalitionären Tage zu hauchen. Das Gutachten der Sachverständigen liest sich wie ein marktwirtschaftlicher Gegenentwurf zur Debatte im Parlament (sieht man vom abweichenden Votum Peter Bofingers ab). Mit großer Akribie bemühen sie sich, eingefahrene Thesen zu widerlegen. Das ist gut und nützlich, weil die Demokratie nun mal vom Streit über den richtigen Weg lebt.

Die Sachverständigen erweisen sich als eine Art außerparlamentarischer Opposition. Sie sind die Retro-Apo. Denn was sich derzeit so erfrischend anders liest, ist nichts anderes als das, was die Wirtschaftsweisen auch schon vor zehn oder 15 Jahren beschrieben und empfohlen haben. Mit einem Unterschied: Zur Zeit der rot-grünen Koalition waren diese Positionen mehrheitsfähig. Sie galten als Weg aus der Misere, die mit den Worten "Deutschland, der kranke Mann Europas" beschrieben wurde. Opa erzählt von Reformen, könnte man jetzt meinen. Doch das wäre falsch.

Diese alte Mehrheitsmeinung ist verschwunden, gerade auch weil die damals empfohlenen Reformen so erfolgreich waren. Die Arbeitslosigkeit wurde deutlich und nachhaltig abgebaut, die Finanzen der Sozialsysteme sind gefestigt. Trotz der Schuldenkrise Europas ist die schwarze Null im Bundeshaushalt greifbar. Die Abwesenheit von krisenhaften Zuständen im eigenen Land hat der Politik erst die Möglichkeit gegeben, vom Reformmodus in ökonomisch schädliche Klientelpolitik umzuschalten.

Der demografische Wandel wird kommen

Machtpolitisch betrachtet kann man das weder der Union noch der SPD übel nehmen. Denn sie verfolgen damit im Wesentlichen das, was auch ihre Wähler wünschen. Für die Union geht diese Strategie dank der Popularität Merkels vollständig auf, für die SPD läuft es nicht so gut. Denn sie hat ein Problem: Sie muss sich einerseits von der Union absetzen, andererseits will sie aber weiter als regierungsfähige Kraft der Mitte gelten. Und so haben politische Ansätze, die auf mehr Wettbewerb und weniger Regulierung setzen, derzeit nur wenig Chancen in Deutschland. Obwohl das Land den südlichen Teil Europas und auch Frankreich genau auf diesen Pfad führen möchte.

Klug ist diese Politik nicht. Nein, sie ist egoistisch und kurzsichtig. Denn der demografische Wandel wird kommen, und er wird die Grundlagen unseres Wirtschaftens und Lebens prägen. Weniger junge Erwerbstätige werden mehr Rentner und Ruheständler versorgen müssen. Derzeit noch bewohnte Landstriche werden veröden. Ihr Rückbau ist notwendig und wird viel Geld verschlingen, das ist gesichert. Daran würde weder eine dramatisch steigende Zuwanderung etwas ändern, noch ein Babyboom, selbst wenn der schon 2015 beginnen sollte.

Doch die alternde Gesellschaft ist nicht die einzige Herausforderung. Noch weiß niemand genau, was die digitale Revolution für ein arbeitsintensives Industrieland bedeutet. Womöglich brechen die guten alten Jobs bei Daimler oder bei Bayer schneller weg, als gute neue entstehen. Das sind die Herausforderungen, die es anzunehmen gilt. Die Weisen haben die Regierung daran erinnert. Gut so, Apo!

© SZ vom 13.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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