Krise in Franken:Hoffen auf die Tausendfüßler

In Nürnberg und Fürth kennt man sich mit Krisen aus. Große Namen wie Grundig und AEG sind verschwunden, doch immer kam Neues nach. Auch jetzt, nach dem Aus für das Quelle, wird an Konzepten gebastelt.

Uwe Ritzer

Diese Straße weckt keine großen Gefühle. Höchstens die Angst, als Fußgänger überfahren zu werden. Sie ist trotz der vielen Alleebäume und der breiten Geh- und Radwege am Rand kein Prachtboulevard, sondern eher das Gegenteil: Ein unsentimentaler Transportweg, laut und hektisch, ohne Eleganz oder Flair, ein "Bindestrich zwischen Nürnberg und Fürth", wie einer mal geschrieben hat.

Quelle, dpa
(Foto: Foto: dpa)

Die Fürther Straße beginnt "Am Plärrer", Nürnbergs verkehrsreichstem Platz, und führt schnurgerade nach Westen zur Stadtgrenze von Fürth. Zwei Fahrspuren in jede Richtung, dazwischen taucht an der Haltestelle Eberhardshof die U-Bahn ans Tageslicht auf. Wer hier aussteigt und in den sechsten Stock von Hausnummer 212 hochfährt, hat die Krise vor Augen.

Eine "Monsteraufgabe"

Durch die Fensterfront seines Büros blickt Immobilienunternehmer Gerd Schmelzer hinüber auf die andere Straßenseite. Dort liegt das Quelle-Versandzentrum, ein verschachtelter, ockerblasser Klinkerstein-Kasten so groß wie der ehemalige Berliner Flughafen Tempelhof. Schmelzer stützt sich auf den Fenstersims und spricht von einem "Giganten", einem "Koloss".

Eine "Monsteraufgabe" werde es, prophezeit er, dieses tote Herz von Europas ehedem größtem Versandhaus wieder zum Schlagen zu bringen. Irgendwann einmal. Und wenn überhaupt, dann in einem ganz neuen Organismus, mit völlig neuen Unternehmen, neuen Impulsgebern für die Region. Denn Quelle, das ist Geschichte. Das Versandhaus wird gerade abgewickelt. Und für Nürnberg geht es nicht nur um die Wiederbelebung eines Geländes, sondern um die ganz große Zukunftsfrage. Wieder einmal.

Dabei sah vor einem Jahr noch alles so gut aus. Im November 2008 waren im Raum Nürnberg/Fürth so wenige Arbeitslose registriert wie seit 1992 nicht mehr. Von 2006 bis 2009 hatte sich ihre Zahl annähernd halbiert. Die Erwerbslosenquote lag bei 5,0 Prozent. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war zuvor kräftig gewachsen.

Das Schlimmste schien überstanden: der Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen allein in der Metall- und Elektroindustrie seit Mitte der achtziger Jahre. Die Grundig-Pleite 2003. Die Schließung des AEG-Hausgerätewerkes 2007. Doch jetzt schütteln neue Schockwellen Nürnberg und Fürth gewaltig durch. Bis zu 5000 Menschen, genau weiß es noch niemand, werden hier mit dem Untergang der Quelle und ihrer Schwesterfirmen ihre Arbeit verlieren.

Es könnten noch mehr werden, denn einige dutzend Zulieferer kämpfen jetzt um ihre Existenz. Allein in Bayern hat das Versandhaus zuletzt Aufträge von über einer Milliarde Euro pro Jahr vergeben, das meiste davon blieb in Franken hängen. Nun erwartet die Bundesagentur für Arbeit, dass die Erwerbslosenquote in Nürnberg/Fürth bald auf zwölf Prozent und mehr steigen wird.

Es ist eine wirtschaftliche Achterbahnfahrt, die beide Städte seit Jahren durchleben, und nirgendwo spiegelt sich das besser als an der 4,2 Kilometer langen Fürther Straße, der früheren Chaussee des Wohlstands.

Hier standen die großen Fabriken. Hier wurde auch Weltgeschichte geschrieben, als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Nürnberger Justizpalast den Größen des Dritten Reiches der Prozess gemacht wurde. Und Industriegeschichte: 1835 rollte der Adler-Zug von Nürnberg nach Fürth, die erste deutsche Eisenbahn. Quasi im Gepäckwagen brachte er die Industrialisierung mit.

Fortan roch diese Straße nach Öl und Eisen und darauf war man stolz in Nürnberg. Fahrräder und Motorräder wurden hier gebaut, Blechspielzeug und Schrauben, Haushaltsgeräte und Schreibmaschinen. An den Gebäuden prangten bekannte Namen wie Triumph-Adler, Mars, Hercules, Schuco oder AEG, Zigtausende Menschen fanden in den Fabriken Arbeit. Max Grundig machte hier eine Zeitlang Geschäfte. Und natürlich Grete und Gustav Schickedanz mit ihrem Quelle-Versand. 1955 ließen sie das Versandzentrum an der heutigen U-Bahnhaltestelle Eberhardshof bauen.

Kümmerlicher Abgesang

An diesen Ort hatten die Gewerkschaften Anfang dieser Woche zur Protestkundgebung gegen den Ablauf der Quelle-Pleite geladen. Ein Teil der Fürther Straße wurde dafür gesperrt.

Doch was als wütender Aufschrei einer ganzen Stadt gedacht war, geriet zum kümmerlichen Abgesang auf das Traditionsunternehmen: 1000 Demonstranten kamen, höchstens. Das sagte viel aus über die Befindlichkeit vor Ort. Seit der Insolvenzverwalter von Quelle am Abend des 19.Oktober überraschend den Stecker zog und in einer chaotischen Hauruck-Aktion ein paar tausend Menschen auf die Straße setzte, beherrscht weniger Zorn, sondern vielmehr Lähmung die Stadt.

Was die Gewerkschaften tun wollen

Da half es wenig, dass Stephan Doll, der mittelfränkische DGB-Vorsitzende, mit viel Wut im Bauch auf den zur Rednerbühne umfunktionierten Lastwagen vor dem Versandzentrum kletterte und vorrechnete, was alles falsch läuft in der Region. Doll, dem oft vorgeworfen wird, ein Schwarzmaler zu sein, bemüht gern die Statistik.

Jeder zweite Arbeitslose in Nürnberg/Fürth habe keine abgeschlossene Ausbildung. Gut 60 Prozent der Menschen seien Langzeitarbeitslose. Jeder vierte Nürnberger ist laut kommunalem Armutsbericht arm oder von Armut bedroht. Und nun auch noch Quelle. "Wir haben bereits massive strukturelle Probleme. Das Quelle-Desaster ist für die Region eine Katastrophe", sagt Doll.

Nun hoffen die Gewerkschaften, dass wenigstens der Schutzschirm über der Metall- und Elektroindustrie hält. Gemeinsam haben ihn Stadt, Arbeitgeber und Gewerkschaften zu Jahresbeginn über die 50.000 Beschäftigten gespannt. Sie haben versprochen, alles zu tun, jede gesetzliche und tarifliche Möglichkeit bis zum äußersten auszureizen, um die Jobs über die Wirtschaftskrise zu retten. Das klappt nur bedingt.

Gut 2000 Arbeitsplätze gingen trotzdem verloren und von den 25.000 Kurzarbeitern der Branche hält der örtliche IG-Metall-Chef Jürgen Wechsler 10.000 Stellen für gefährdet, sollte sich die Konjunktur nicht bald aufhellen. "Wenn es aber nicht gelingt, diese Arbeitsplätze zu halten, wird Nürnberg tatsächlich in eine Katastrophe stürzen", warnt auch er.

Doch Wechsler weist gleichzeitig auf die positiven Entwicklungen hin. Vor Wirtschaftskrise und Quelle-Drama habe man "den Strukturwandel gut im Griff" gehabt, sagt er. Selbst die lange kriselnden Maschinenbauer hatten wieder Fahrt aufgenommen. MAN produziert hier höchst erfolgreich Elektromotoren für Nutzfahrzeuge. Bosch Rexroth investierte 180 Millionen Euro in ein Werk für Großgetriebe von Windkraftanlagen. Auch bei Siemens, mit 35.800 Mitarbeitern größter Arbeitgeber der Region, laufen die Geschäfte. Vor allem jene mit Medizintechnik und Energietechnologie, zwei unbestrittenen Zukunftsbranchen.

Es wird oft übersehen: Die Wirtschaftsregion Nürnberg - das sind nicht nur Grundig, AEG oder Quelle. Inzwischen sind das vor allem viele große und kleine Unternehmen, nicht selten Weltmarktführer mit klangvollen Namen, die in den letzten Jahren kräftig Personal eingestellt haben und sich in der Krise als robust erweisen: die Sportartikelhersteller Adidas und Puma, der Spielwarenfabrikant Playmobil, die Stifteproduzenten Faber-Castell oder Schwan Stabilo, die Nürnberger Versicherung, der Technologie- und Rüstungskonzern Diehl, der Autozulieferer Leoni, die Uvex-Brillenentwickler.

Keine Elefanten mehr

Die Nürnberger Messe hat zu den größten hierzulande aufgeschlossen und expandiert. Die Kernkraftwerksbauer von Areva suchen gerade ein paar hundert Ingenieure auf einmal. Und auch Schaeffler gehört zu den Erfolgreichen, trotz des Continental-Abenteuers. Und der Marktforscher GfK.

Eine ihrer Niederlassungen liegt im hinteren Teil des alten AEG-Geländes an der Fürther Straße. Früher wurde in dem Bürogebäude die AEG verwaltet. Wer in Franken nach Aufbruchstimmung sucht, ist bei der GfK und ihrem Vorstandsvorsitzenden Klaus Wübbenhorst richtig. Vor 17 Jahren kam der Westfale nach Nürnberg. Seit 1999 führt er die frühere Gesellschaft für Konsumforschung, die er an die Börse brachte und zu einem globalen Konzern umbaute.

Heute ist die GfK SE der viertgrößte Marktforscher der Welt und Wübbenhorst im Ehrenamt Präsident der Nürnberger IHK. Vieles habe sich zum Positiven verändert, sagt der hochgewachsene Manager. Sie entwickle sich wirtschaftlich "von einer Region mit ein paar dicken Elefanten zu einem Tausendfüßler-Gebiet", sagt Wübbenhorst. "Und wenn ein Tausendfüßler sich mal ein paar Beinchen bricht, ist das nicht so schlimm wie bei Elefanten."

Verändert, sagt er, habe sich aber vor allem auch das Verhalten von Unternehmern und Politikern. Die Franken würden nicht mehr als jammernde Bettler in München und Berlin um staatliche Unterstützung anklopfen, wie früher. "Heute heißt es: 'Schaut her, wir haben gute Ideen, wenn Ihr uns Geld gebt, wird sich das verzinsen'", beschreibt Wübbenhorst.

Also sammeln sie in diesen Tagen besonders eifrig Ideen, allen voran der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly, ein Sozialdemokrat und promovierter Volkswirt. Die Trauerarbeit bei Quelle sei zwar wichtig, sagt er, doch jetzt gehe es vor allem darum, die erwiesenen Stärken der Region auszubauen. Schließlich gebe es einen vielfältigen Mix aus kleinen und mittleren Dienstleistern und Produzenten, viele davon in zukunftsträchtigen Branchen: Informationstechnologie, Verkehrstechnik, effiziente Energiesysteme oder Logistik.

"Taumeln im Moment"

Tausende Arbeitsplätze sind in diesen Sparten in den letzten Jahren entstanden. Der fränkische Ballungsraum weist inzwischen eine hohe Ingenieursdichte und die meisten Patentanmeldungen bundesweit auf. Und es gibt ein dichtes Netz an Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen. "Wir taumeln im Moment", sagt Maly, " aber wir werden den Weg weitergehen."

Gemeinsam mit dem Land Bayern wird gerade ein Strukturpaket geschnürt. Es geht um die Qualifikation derer, die als Angelernte bei Quelle arbeiteten, in Jobs, die es nicht mehr gibt. Es geht um Anwender- und Forschungszentren in Sektoren wie Verkehrstechnik, Logistik und Maschinenbau. Ein Energiecampus wird errichtet. Man munkelt, ein Teil des Quelle-Versandzentrums könnte ein erster Baustein für eine Technische Universität werden. Das wäre der "große Wurf", den Ministerpräsident Horst Seehofer angekündigt hat. "Eines ist klar", sagt OB Maly, "billig wird es nicht."

Aber es geht. Die Fürther Straße beweist auch das. Wo früher Schrauben und Spielzeug gebaut wurden, residiert heute die Datev, ein prosperierender IT-Dienstleister. Auf dem AEG-Gelände, das 2007 nach einem harten Arbeitskampf geräumt wurde, siedeln sich wieder Firmen an. Gerade hat Siemens hier eine Außenstelle seines Trafowerkes eröffnet, dessen Geschäfte mit den weltweit leistungsstärksten Transformatoren für Stromübertragung florieren.

Wenn Immobilienunternehmer Gerd Schmelzer hinüber auf das verlassene Versandzentrum von Quelle blickt, tut er dies vom ehemaligen Verwaltungszentrum des Triumph-Adler-Werkes aus. Schmelzer hat das Werk und das Gelände mit 100000 Quadratmetern Nutzfläche gekauft, nachdem es 1993 aufgegeben wurde. 90 Millionen Euro hat er investiert, nun steht hier ein Mittelstandszentrum.

Wo früher Fahrräder, Motorräder und später Büromaschinen zusammengeschraubt wurden, sind heute unter anderem das Dienstleistungszentrum einer Bank, das größte Fitnessstudio Nordbayerns, ein Zahnlabor, ein Hotel, Künstlerateliers und eine Bühne der Staatsoper untergebracht, dazu berufliche Schulungszentren, Geschäfte und Büros. 2000 Menschen sind hier beschäftigt. "Die Fürther Straße hat wie Nürnberg viel Niedergang erlebt", sagt Schmelzer. "Aber auch viel Aufschwung."

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