Krankenversicherungen:Der Schutz fehlt, die Schulden steigen

Zehntausende Menschen sind in Deutschland nicht krankenversichert, obwohl sie seit 2007 dazu verpflichtet wären. Stattdessen häufen viele Selbständige Verbindlichkeiten an - die versperren ihnen den Weg zurück.

Von Kristiana Ludwig, Bad Segeberg

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Trotz Krankenversicherungspflicht haben in Deutschland offiziell 80 000 Menschen keine solche Karte.

(Foto: SZ-Grafik)

Seit August geht Veronika Lose nicht mehr zum Arzt. Zwar braucht sie seit Jahren Medikamente, die ihren Blutdruck senken. Doch im Sommer lief ihre Krankenversichertenkarte ab. Stattdessen schrieb ihr die Kasse, ihr Schutz beschränke sich nun nur noch auf Notfälle. Denn Lose zahlt ihre Beiträge nicht mehr. Sie kann sie sich nicht leisten.

An einem Mittwoch im November steigt Veronika Lose, die in Wahrheit einen anderen Namen hat, in einen Bus und fährt aus ihrem Dorf in Schleswig-Holstein in das Städtchen Bad Segeberg. Sie ist 56 Jahre alt, eine stämmige Frau, ihr Pullover ist rosa, sie hält eine kleine Handtasche fest. In der Zeitung hat sie einen Artikel über eine Praxis gelesen, die Menschen ohne Papiere oder Versicherung behandelt. Flüchtlinge und so weiter. Heute wird sie selbst in diesem Wartezimmer für Arme sitzen. Sie, als ehemalige Geschäftsführerin einer Computerberatung, die ihr Mann gegründet hatte, bevor er starb. Sie, als ehrenamtliche Familienhelferin. Doch eine andere Lösung sieht sie nicht.

In Deutschland herrscht Krankenversicherungspflicht. Trotzdem leben Zehntausende Menschen ohne diese Absicherung. Das Bundesgesundheitsministerium geht von knapp 80 000 Nicht-Versicherten im Jahr 2015 aus, manche Experten sprechen sogar von bis zu zwei Millionen Betroffenen. Genau kann das niemand feststellen, die Dunkelziffer dürfte erheblich sein. Denn oft sind es Selbständige, die sich die Versicherung sparen, weil sie schlicht zu teuer ist.

Beim Regelbeitrag für hauptberuflich Selbständige legen die gesetzlichen Krankenkassen ein fiktives Monatseinkommen von 4350 Euro zugrunde. Daraus ergibt sich ein Versichertenbeitrag von rund 700 Euro. Für Veronika Lose, die mit ihrer Witwenrente und dem, was sie als Familienhelferin verdient, auf gerade einmal 650 Euro im Monat kommt, ist das unerschwinglich. Theoretisch könnte sie nachweisen, wie wenig sie verdient, und so die Beiträge senken. Aber auf viel weniger als 350 Euro würde sie auch damit nicht kommen. Die Untergrenze der Kassen liegt nämlich bei einem fiktiven Monatseinkommen von 2231,25 Euro. Doch viele Menschen, die als selbständig gelten, verdienen nicht einmal das im Monat.

2231,25

Euro ist das fiktive Einkommen, von dem Krankenkassen bei Selbständigen mindestens ausgehen.

"Das idealtypische Modell des (früher meist männlichen) Unternehmers und Gründers, der mit voller Arbeitskraft seine Firma aufbaut, erweitert und lebenslang fortführt, spielt eine immer geringere Rolle", schreiben Forscher des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. Heute wechselten sogenannte Selbständige dagegen häufig zwischen abhängigen Jobs und Freiberuflichkeit, oder sie gingen beiden Tätigkeiten zugleich nach. So kommt es, dass sich in der Bad Segeberger "Praxis ohne Grenzen" Mittelständler aus den unterschiedlichsten Sparten behandeln lassen: ein Taxiunternehmer und ein Schiffsingenieur, ein Maurer, ein Werbefachmann, ein Rechtsanwalt, sagt Praxisgründer Uwe Denker.

Für viele Betroffene wäre das Sozialamt ein Ausweg, doch sie scheuen diesen Schritt

"Darf ich mich da mal einmischen?", fragt Schwester Bärbel, hauptberuflich Rentnerin, während Veronika Lose auf dem Behandlungsstuhl sitzt, die Hände im Schoß gefaltet. Lose habe doch ein Recht auf Hartz IV, sagt die alte Dame, und das Jobcenter übernehme dann auch die Krankenversicherung. Dort sei sie schon gewesen, erwidert Lose: "Die schmeißen einem dann irgendwelche Paragrafen um die Ohren, warum das nicht geht." Lose hat deshalb so reagiert, wie viele in ihrer Situation und die Schreiben der Krankenkasse einfach ignoriert. Etwa 15 000 Euro Schulden habe sie mittlerweile angehäuft.

Ein Härtefallantrag oder das Sozialamt wäre für Betroffene zwar ein Ausweg. Doch viele scheuen diesen Schritt, weil sie um ihre Existenz fürchten. Der Hamburger Unternehmer Claudius Holler zum Beispiel bat Anfang des Jahres per Youtube-Video um mehrere Tausend Euro Spenden für eine Hodenkrebs-Operation. Als seine kleine Getränkefirma ins Schlingern geriet, hatte er sich eine Weile kein Einkommen mehr ausbezahlt, sagt er, und verzichtete auch auf die Krankenversicherung. Eine Krebs-OP habe seine alte Krankenkasse nicht mehr bezahlt. Und eine Firmeninsolvenz mit anschließendem Gang zum Sozialamt hätte auch Kollegen ruiniert. "Die Versicherungspflicht", sagt Holler, "hat aus unversicherten Selbständigen nur unversicherte, hochverschuldete Selbständige gemacht".

Versicherte haben etwa 3,6 Milliarden Euro Schulden bei den gesetzlichen Kassen

Das größte Problem für Menschen, die den Versicherungsschutz verlassen, sind die Beitragsschulden, die dadurch entstehen. Nach einigen Jahren sind das schnell immense Summen. Im Sommer 2013 hatte der damalige Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) per Gesetz einen Schuldenerlass ermöglicht. Menschen, die bislang gar keine Versicherung hatten, konnten bis Silvester 2013 eine Kasse wählen, ohne für all die Beiträge belangt zu werden, die der Kasse seit Beginn der Versicherungspflicht 2007 durch die Lappen gegangen waren. Und auch für die Menschen, die, ähnlich wie Veronika Lose heute, zwar Kassenmitglied waren, sie aber nicht bezahlten, reduzierte Bahr den Säumniszuschlag von fünf auf ein Prozent.

Doch gelöst hat die Reform das Problem nicht. Heute haben Versicherte noch immer rund 3,6 Milliarden Euro Schulden bei den gesetzlichen Krankenkassen, und auch den Privatversicherungen fehlten im vorvergangenem Jahr 375 Millionen Euro. Mehr als 103 200 Privatpatienten landeten deshalb im vorigen Jahr im Notlagentarif, und auch bei den gesetzlichen Kassen bekommen Beitragsschuldner nur noch das Nötigste: Schmerzbehandlungen und Notoperationen werden bezahlt sowie Schwangere versorgt, mehr aber nicht.

Auch Politiker der SPD, FDP und Grünen und auch der CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe sehen "Weiterentwicklungsbedarf" bei den Beiträgen von Selbständigen mit geringem Einkommen. Für die Sozialdemokraten wäre eine Bürgerversicherung die Lösung. Für den Gesundheitsforscher Dietmar Haun vom AOK-Institut wird es jedoch nicht genügen, die Beiträge zu senken. Die nächste Bundesregierung müsse den Nicht- oder Not-Versicherten auch einen Weg aus den Schulden ermöglichen, sagt er.

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