Kommentar:Wer regiert, muss nicht provozieren

Kommentar: Marc Beise erlebte bereits die Krise 2008 als SZ-Wirtschaftsredakteur. Es ist eine prägende Erinnerung. Illustration: Bernd Schifferdecker

Marc Beise erlebte bereits die Krise 2008 als SZ-Wirtschaftsredakteur. Es ist eine prägende Erinnerung. Illustration: Bernd Schifferdecker

Seit einer Woche ist die neue Regierung im Amt, doch in der Öffentlichkeit scheint das nur wenige zu interessieren. Es gibt viel zu tun, aber Aufbruchstimmung macht sich nicht breit. Dass das so ist, hat die Politik selbst verschuldet.

Von Marc Beise

Wie kann das sein: Monatelang haben sich die Deutschen nach der Bundestagswahl 2017 leidlich interessiert mit Koalitionsvor- und -hauptgesprächen rumgeschlagen. Haben sich brav Tag für Tag über den jeweiligen Wasserstand informiert. Haben zur Kenntnis genommen, ob und wo sich die potenziellen Partner verstehen und wo nicht, was bereits Konsens war und was wieder aufbrach, weil erneut jemand gezündelt hatte. Haben die FDP, die "Jamaika" aufgekündigt hat, gefeiert oder verhöhnt und anschließend mit der selbstquälerischen SPD gelitten. Und zum Schluss haben sie sogar ein wenig Mitleid mit der Kanzlerin bekommen, die endlich sollte regieren dürfen. Aber nun, da die Regierung im Amt ist und das vielfach angekündigte Arbeiten beginnt - interessiert es nicht. Eine seltsame Stimmung des "Mir doch egal" legt sich übers Land.

Wie kann das sein, da doch jeder weiß, wie fragil die Lage ist? Der seit acht Jahren währende Wirtschaftsboom wird nicht anhalten, natürlich nicht, es werden wieder schwierige Zeiten kommen, wenn nicht wegen Trump oder den Chinesen, dann jedenfalls wegen der Überalterung der Gesellschaft und dem Siegeszug der Digitalisierung. Es gibt so viel zu tun, von Steuern über Arbeit bis zu Rente und Pflege. Die Weichenstellungen in dieser Legislaturperiode werden lange nachwirken, erst recht die verpassten Chancen. Und dennoch hat, als diese Woche die neue Regierung ihre Feuertaufe im Bundestag hatte, kaum jemand aufgemerkt. Die ersten programmatischen Aussagen, selbst die Jungfernreden der neuen Minister - alles ist irgendwie verpufft. Man schiebe das jetzt nicht auf eine mangelnde Qualität der Politiker. Das ist ein beliebtes, aber wohlfeiles Motiv: früher bei Brandt, Strauß, Wehner, ach ja ... Aber heute sind viele Politiker und Redner besser als ihr Ruf, und in dieser Woche im Bundestag hat man manchen tatsächlich wieder frei reden hören, sogar Minister. Nur - was hilft es, wenn's keiner merkt?

Die Bürger sind verunsichert, aber sie suchen keine Hilfe bei der Politik. Die ist selbst schuld

Es wirkt wie ein Paradox: Viele Menschen sind trotz der guten ökonomischen Daten verunsichert und besorgt, aber sie suchen keine Hilfe bei der Politik. Woran wiederum diese gerade selbst schuld ist, denn sie macht zwei entscheidende Fehler. Der erste ist die Konstellation an und für sich: Wer vertraut schon einem Bündnis, das sich selbst nicht vertraut? Das gemeinsam regieren will, aber sich beständig voneinander abgrenzt? Nur lässt sich das nicht mehr ändern, die Koalition der Missmutigen steht. Der zweite Fehler dagegen ist revidierbar. Wer regiert, muss nicht provozieren, er sollte das wirklich lassen. Erklärt am Beispiel des konservativen CDU-Mannes Jens Spahn: Als Gesundheitsminister braucht er eine Haltung zum System, das schon. Auf kalkulierte Affronts von Hartz IV bis zu Abtreibungen darf er gerne verzichten.

Das ist ja gerade die Chance der Wirtschaftspolitiker, und dazu zählt auch die Gesundheitspolitik, dass sie sich auf die Sache konzentrieren können. Sie müssen nicht den Islam einbürgern oder ausgrenzen, und können das dumme Gerede von der angeblich "ungebremsten Masseneinwanderung" der AfD überlassen. Stattdessen sollten sie sich auf die Stärkung der Wirtschaftskraft im Land und auf die Sorge um die sozial Schwachen konzentrieren. Für letzteres braucht es kluge Umverteilung im Rahmen des finanziell Möglichen, braucht es Empathie und Rationalität. Für ersteres braucht es mehr wirtschaftliche Dynamik gerade auch im Mittelstand. Das ist ein Thema von freien Märkten, Wettbewerb und Preisen als Koordinationsinstrument, aber auch des richtigen Ordnungsrahmens. Darüber kann man auch streiten, und wie! Aber es ist ein fruchtbarer Streit, ein zielführender. Nicht ein Schüren von Ressentiments.

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