Kommentar:Warum Kronzeugen straffrei ausgehen müssen

Wenn ein Konzern mit seinen Konkurrenten jahrelang Preise abspricht, ist das illegal. Es klingt unfair, dass Kartell-Kronzeugen keine Strafe zahlen müssen. Es gibt aber gute Gründe dafür.

Von Caspar Busse

Eine Milliarde Euro ist eine sehr große Summe, auch für einen international erfolgreichen Konzern. Sogar noch mehr als das, nämlich genau 1,2 Milliarden Euro, hätte die Strafe der EU-Kommission für den Lkw-Bauer MAN betragen. Doch den Deutschen wurde die Summe erlassen, weil MAN als Kronzeuge im bislang wahrscheinlich größten europäischen Kartellverfahren fungierte. Das Tochterunternehmen des Volkswagenkonzerns ist damit der lachende Dritte. MAN hatte sich 14 Jahre lang an dem Kartell beteiligt. Doch bestraft werden nur die Konkurrenten. Allein Daimler muss immerhin eine Milliarde Euro zahlen, die anderen Hersteller zusammen noch einmal fast zwei Milliarden Euro. Alles in allem ist das die höchste Kartellstrafe, die die EU-Kommission je verhängte.

Eine Milliarde Euro geht der Kommission also wegen der Kronzeugenregelung verloren. Ist es das wert? Und ist das auch gerecht?

Der Kronzeuge geht straffrei aus. Das ist ungerecht, aber pragmatisch

Gerecht ist es sicher nicht. Während fast alle großen Hersteller erhebliche finanzielle Einbußen für ihre Fehlverhalten hinnehmen müssen, wird MAN überhaupt nicht belangt. Dabei wird auch MAN von den Preisabsprachen profitiert haben. Und das möglicherweise sogar erheblich. Denn der Münchner Konzern ist einer der großen Hersteller in Europa mit einem durchaus hohen Marktanteil.

Normalerweise gilt: Wer sich strafbar gemacht hat, egal wie, und verurteilt wird, muss auch belangt werden. Wer in Deutschland mit den Behörden kooperiert, etwa in Drogenverfahren oder bei der Aufklärung der organisierten Kriminalität, bekommt zwar mildernde Umstände, aber er geht in der Regel nicht völlig straffrei aus.

In Wettbewerbsverfahren ist das anders. Hier tritt Pragmatismus an die Stelle der Gerechtigkeit. Das allerdings mit gutem Grund. Der Umstand, dass im Lkw-Kartellverfahren MAN die - zugeben sehr hohe - Summe von einer Milliarde Euro erlassen wurde, darf die Kronzeugenregelung nicht als solche infrage stellen.

Gerade bei der Aufklärung von Kartellfällen sind die Behörden dringend auf einen Insider angewiesen, der auspackt und alle Informationen preisgibt. Anders sind Kartellverfahren oft nicht zu führen und genügend Beweise zu finden. Preisabsprachen zulasten der Kunden, wie jetzt zwischen den Lkw-Herstellern, werden in kleinen Zirkeln im Verborgenen vereinbart, abseits der Öffentlichkeit. Alle Beteiligten, manchmal sogar solche aus der höchsten Führungsebene, bauen darauf, dass die Vereinbarungen in jedem Fall geheim bleiben. Solche Kartelle sind deshalb oft sehr langlebig. Auch die Lkw-Bauer haben sich schon seit 1997 über gemeinsame Preise verständigt. Viele Jahre lang kam nichts an die Öffentlichkeit - bis bei MAN ein anderer Korruptionsskandal aufflog und deshalb im Unternehmen alles geprüft wurde. So geriet die Sache ans Licht.

Das Bundeskartellamt hatte im Jahr 2000 eine Kronzeugenregelung eingeführt, auf europäischer Ebene gibt es sie bereits seit 1996. Sie hilft, die Mauer des Schweigens zu brechen, die viele Kartelle umgibt. Die Zahl der Unternehmen, die auspacken, ist seitdem deutlich angestiegen. Das Bundeskartellamt mit derzeit nur etwa 350 Mitarbeitern und einem relativ geringen Etat hätte anderenfalls kaum die Möglichkeit, alle Fälle genau zu untersuchen und zum Abschluss zu bringen. Auch dank der Kronzeugenregelung wurden allein im Jahr 2014 Kartellstrafen von ungefähr einer Milliarde Euro verhängt, die dann in den Bundeshaushalt fließen. Das bekannte Bierkartell etwa, das lange zu hohe Preise von den Verbrauchern verlangte, wurde durch einen Kronzeugen geknackt. Der Beck's-Brauer AB Inbev arbeitete eng mit der Behörde zusammen.

Dazu kommt, dass die Kronzeugenregelung auch einen präventiven Charakter hat. Nichts ist schlimmer für ein verschworenes Kartell als die nagende Unsicherheit, dass eine der beteiligten Firmen sich den Behörden offenbart und so für sich einen großen Vorteil rausholt. Allein die Möglichkeit, dass eine ausscheren könnte, bringt endlich Instabilität in Verhältnisse, die möglicherweise seit Langem fest gefügt waren.

Die Bildung von Kartellen und Absprachen aller Art, ob im Großen oder im Kleinen, sind alles andere als Kavaliersdelikte. Die Leidtragende sind Kunden und Verbraucher, die zu hohe Preise zahlen müssen oder andere erhebliche Nachteile erleiden. Zudem können Innovationen ausgebremst oder das Aufkommen neuer, vielleicht besserer Anbieter verhindert werden. Ein effizienter Kampf gegen Kartelle ist im Interesse aller. Auch wenn der Preis manchmal hoch erscheinen mag.

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