Kommentar:Sind wir noch zu retten?

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Marc Beise erlebte bereits die Krise 2008 als SZ-Wirtschaftsredakteur. Es ist eine prägende Erinnerung. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: ipad)

Man muss über Reformen auch für das Sozialsystem reden - aber bitte nicht auf der Basis von alarmistischen Hilferufen.

Von Marc Beise

Sahra Wagenknecht hat ihr Urteil gefällt. Ob im Deutschen Bundestag oder im Festzelt: Bei der Linkspolitikerin findet die Bundeskanzlerin keine Gnade. Angela Merkel, da wird Wagenknecht ganz deutlich, hat Deutschland heruntergewirtschaftet, ihre Politik hat die gesellschaftliche Spaltung vorangetrieben, dem sozialen Abstieg von immer mehr Menschen Vorschub geleistet. Es ist auffällig, dass diese Position Gehör weit über Wagenknechts angestammtes Klientel hinaus findet.

Zustimmung kommt natürlich von den Mitgliedern und Anhängern der Linkspartei, deren Co-Fraktionsvorsitzende im Bundestag Wagenknecht ist. Aber auch distanziertere Geister sind von der klugen und sprachgewandten Politikerin fasziniert. Längst ist die einst so unnahbare selbsternannte "Kommunistin" zum Politstar geworden, sie füllt jede Halle und beeindruckt auch viele, die mit der DDR und ihrem Erbe nichts gemein haben. Vor allem aber trifft Wagenknecht das Zeitgefühl. Mehr Menschen als noch vor einem Jahr glauben, dass es hierzulande immer ungerechter zugeht, dass die Armut steigt, und die Gesellschaft vor die Hunde geht.

Nur stimmt das nicht.

Es wird niemand ernsthaft bestreiten wollen, dass es Armut in Deutschland gibt. Dass Menschen ohne und sogar mit Arbeit finanziell am Existenzminimum leben. Dass insbesondere für alleinerziehende Mütter die Armut fast automatisch programmiert ist. Niemand kann auch bestreiten, dass es Ungleichheit gibt. Dass manche Bürger viel Geld oder sogar sehr viel zur Verfügung haben, andere wenig, und dass das häufig nicht durch individuelle Leistung und moralische Integrität legitimiert ist.

Die Frage ist nur, ob sich dieser Zustand in einem vertretbaren Rahmen bewegt oder ob er ein Skandal ist. Für Wagenknecht liegen "Jahre neoliberaler Politik hinter uns, in denen der Sozialstaat demontiert wurde". Und selbst der überparteilich angesehene Ökonom Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, spricht davon, dass "die soziale Marktwirtschaft nicht mehr existiert."

Dies ist, in dieser Zuspitzung, dann doch maßlos.

Denn es erweckt erstens den Eindruck, als sei es einmal ganz anders gewesen, als ginge es überhaupt komplett anders. Dabei ist es gerade die Aufgabe einer "sozialen" Marktwirtschaft, Ungleichheiten auszugleichen. Immer, in jedem Wirtschaftssystem gibt es Verlierer, auch und gerade in einem freiheitlichen System. Zur Freiheit gehört auch Ungleichheit, per definitionem. Deshalb organisiert die soziale Marktwirtschaft ja eine Umverteilung, und gerade in Deutschland tut sie das in hohem Maße: im Steuerrecht, wo höhere Einkommen höhere Steuersätze haben. In den Sozialsystemen, wo es in vielen Bereichen staatliche Transferleistungen für jene gibt, die bedürftiger sind als andere.

Deutschland, sagt Fratzschers Ökonomen-Kollege Clemens Fuest, der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, gehört weltweit zu den vier Ländern mit dem am stärksten ausgebauten Sozialstaat. Seit 2005, seit den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Schröder-Koalition, ist die Ungleichheit, die zuvor gestiegen war, wieder zurückgegangen. Die Vermögensungleichheit hat sich seit mehr als einem Jahrzehnt zumindest nicht verschlechtert.

Man kann, man muss sogar über Reformen auch im Sozialsystem reden - aber bitte nicht auf der Basis von alarmistischen Hilferufen, die der tatsächlichen Lage in einem der reichsten Länder der Welt einfach nicht gerecht werden.

© SZ vom 31.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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