Kommentar:Reisen verbindet

Der Tourismus hat eine viel größere Bedeutung als manch andere Industrie. Es geht um Menschen, nicht um Dollar. Das gerät angesichts des Terrors in Gefahr.

Von Michael Kuntz

Wenn von Menschenrechten und Tourismus die Rede ist, sind normalerweise die Lebensumstände in den Ländern gemeint, in die gereist wird. Also ob die Hotelangestellten menschenwürdig behandelt und bezahlt werden, ob Frauen unterdrückt werden, es Kinderprostitution gibt. Ob vom Geld der Pauschalurlauber auch etwas im Gastland bleibt. Das aber ist nicht alles. Damit die genannten Aspekte überhaupt zum Tragen kommen können, muss eine andere Voraussetzung erfüllt sein, muss es Menschen erst einmal ermöglicht werden, überhaupt eine Reise ins Ausland zu unternehmen. Es muss ihnen politisch erlaubt und wirtschaftlich möglich sein. Dieses Reiserecht besitzt für viele fast den Stellenwert eines Menschenrechts.

Man muss nicht in die Ferne schweifen, um zu sehen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Wer vier Jahrzehnte in der DDR eingesperrt war, kannte die weite Welt als Normalbürger vor allem aus dem Fernsehen, dem verbotenen Westfernsehen. Als dann die Mauer fiel, fehlten zunächst oft Zeit und Geld, um sich vor Ort davon überzeugen zu können, dass das Leben nicht auf der ganzen Welt aus Plaste und Elaste bestand.

Für die meisten bleibt der Urlaub die populärste Form des Glücks

Reisen hat in unserer Gesellschaft einen enorm hohen Stellenwert: Von den Deutschen wollen 88 Prozent in diesem Jahr verreisen. Für die meisten bleibt der Urlaub die populärste Form des Glücks. Der Urlaub ist nach Immobilie und Auto die drittgrößte Geldausgabe. Für manche allerdings ist das Recht zum Verreisen ein eher theoretisches: Für prekär Beschäftigte kann selbst Bahnfahren zu teuer sein. Die Mischung aus dem Wunsch nach Abwechslung vom Alltag und dem Drang zur Entdeckung fremder Kulturen treibt die Menschen in die Ferne. Das gilt für die Industriestaaten mit ihren tradierten Verhaltensformen, aber auch für die aufstrebenden Schwellenländer. Deren Potenzial ist so groß, dass sie den weltweiten Tourismus bereits in Schwung halten und für Wachstum sorgen, wenn nur ein Teil ihrer Mittelschicht zu Urlaubsreisen in das Ausland ausschwärmt. Zunehmend sind diese Touristen individueller unterwegs als früher, wo die unerfahrenen Ersturlauber in der Gruppe ihren Reiseführern mit Fähnchen folgten. Reisen bildet, so war es nicht nur bei Goethe, so ist es heute auch bei den neuen Reisenden der Gegenwart. Chinesen, einmal im Ausland unterwegs, bleibt nicht verborgen, dass es außer dem kommunistischen Einparteiensystem zu Hause noch andere Regierungsformen gibt. Reisen bildet, macht den Kopf frei für ungewohnte Eindrücke, fördert die Toleranz für andere Lebensweisen.

Wirtschaftlicher Wohlstand ist freilich nicht der einzige Faktor, der die Reiselust beeinflusst. Eine anhaltende Serie terroristischer Anschläge verunsichert Menschen und lässt sie zweifeln, ob es eine gute Idee ist, mit der gesamten Familie in die Ferien nach Tunesien, Ägypten oder in die Türkei zu reisen, oder eine Städtereise nach Istanbul, Paris oder nun auch Brüssel zu wagen. Und nach Einschätzung der meisten Experten wird das eine ganze Weile so bleiben. Für etliche Volkswirtschaften sind die Dienstleistungen rund um den Tourismus aber ein wesentlicher Sektor geworden, wie gerade Tunesien, Ägypten und die Türkei erfahren. Diese Länder stecken teilweise bereits seit Beginn des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 in einer Dauerkrise, ein Ende ist nicht absehbar. Die Masse der Urlauber verhält sich wie scheues Wild, das aufgeschreckt wird: Aus einem beliebten Reiseziel wird sehr schnell ein unbeliebtes.

Gereist wird trotzdem, nur eben zu anderen Zielen. Erstaunlich ist angesichts der aktuellen Verunsicherung, dass weltweit erneut mehr gereist werden wird. Vielleicht fällt 2016 der Zuwachs geringer aus als in den vergangenen Jahren, in denen die Reiseindustrie stets ein Wirtschaftszweig war mit eindrucksvollen Zuwachsraten, von denen etwa die meisten Autokonzerne deutlich entfernt waren. Insgesamt besitzt der Tourismus noch in anderer Hinsicht eine ungleich größere Bedeutung als manch andere Industrie. Es geht um Menschen, nicht nur um Dollar. Es ist ein Miteinander, kein Gegeneinander. Das alles droht auf der Strecke zu bleiben, wenn ein Land zum touristischen Niemandsland wird. Die Staaten, denen das bereits passiert ist oder denen es droht, müssen vor allem wieder Vertrauen schaffen, um erneut als ein attraktives Reiseziel in Betracht zu kommen. Urlauber können sich bei der Wahl ihres Zieles orientieren an den Hinweisen des Auswärtigen Amtes. Der Einzelne wird die Welt nicht ändern können. Das verbreitete Gefühl von Unsicherheit zu überwinden, es ist Aufgabe der Regierungen. Vertrauen ist die neue Währung des Tourismus.

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