Kommentar:Mehr Herz als Verstand

Klamotten, Möbel, Deko, Autos sowieso - Retro ist angesagt. Was alt ist oder wenigstens auf alt gemacht, erinnert an früher, schönt die Erinnerung und wärmt das Herz. Wenn die Retrowelle allerdings auf die Politik überschwappt, muss einem himmelangst werden.

Von Uwe Ritzer

Klamotten, Schuhe, Möbel, Deko, Autos sowieso - Retro ist angesagt. Der Trend hat viel mit Psychologie zu tun. Was alt ist oder wenigstens auf alt gemacht, erinnert an jugendlichere, vermeintlich bessere oder wenigstens besondere Zeiten und wärmt das Herz. Wenn die Retrowelle allerdings auf die Politik überschwappt, wie sie das seit geraumer Zeit tut, muss einem himmelangst werden. Denn dann wird mit überholten Rezepten versucht, die Probleme von heute oder morgen zu kurieren.

Ein paar Beispiele gefällig? Da wäre der neue Arbeitsminister Hubertus Heil. Als eine seiner ersten Amtshandlungen dachte der Sozialdemokrat laut über die Abschaffung von Hartz IV nach. Obwohl er wissen muss, dass gerade die Agenda 2010 ein wesentlicher Grund dafür war und ist, dass Deutschland wirtschaftlich viel besser dasteht und weniger Arbeitslose hat als vergleichbare Länder. Oder die Verbesserungen im Rentensystem. Die sind sozialpolitisch verständlich, werden aber Milliardensummen verschlingen - und niemand weiß, woher das Geld kommen soll. Und, drittes Beispiel, Markus Söder. Kaum als Ministerpräsident des reichen und prosperierenden Bayern vereidigt, dreht er die Zeit zurück und führt munter neue Behörden ein: eine bayerische Grenzpolizei wie zu Wittelsbacher Zeiten, ein Bayern-Bamf für das Flüchtlingssproblem. Sogar das Oberste Landesgericht, das sein politischer Ziehvater Edmund Stoiber einst als überflüssig abgeschafft hat, lässt Söder wieder auferstehen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Politiker meinen es gut, aber sie verspielen die Chancen der wirtschaftlich guten Jahre

Möglich wird diese Retropolitik durch die prall gefüllten öffentlichen Kassen. Also greifen Kommando-zurück-Politiker tief hinein und werfen in fahrlässiger Sorglosigkeit mit dem Geld um sich. Es wird auch einiges investiert, das schon, doch es werden eben auch üppig Wohltaten verteilt und teure Abenteuer gestartet, die nicht wirklich neues Wachstum generieren. Das Ganze geht ganz im Stil der letzten goldenen Wirtschaftswunderjahre des vorigen Jahrhunderts, ehe Öl- und andere Krisen das Land durchschüttelten.

Erinnern wir uns nur ein Jahrzehnt zurück, wie auf dem Höhepunkt der Wirtschafts- und Finanzkrise all jene ungelösten Großprobleme dieses Landes sichtbar wurden. Das Gesundheitssystem, durch das viel Geld gepumpt wird, das aber ökonomisch nicht effizient arbeitet und medizinisch besser sein könnte. Oder das Rentensystem, von dem jeder weiß, dass es (allein wenn man mathematischen Grundsätzen folgt) in seiner bestehenden Form scheitern muss, weil immer weniger jüngere immer mehr ältere Menschen durchfüttern müssen. Und waren sich nicht vom Kleinstunternehmer bis zum Konzernlenker, vom Politiker bis zum Leitartikler jahrelang alle einig darin, dass die Bürokratie unerträglich überbordet?

Davon aber redet niemand mehr, es ist auch kein Thema, wie die Volkswirtschaft dauerhaft stark gehalten werden kann. Stattdessen werden Behörden aufgeblasen, erfunden oder wiederbelebt, bürokratische Monster wie die Pkw-Maut geschaffen oder das Rentensystem in Richtung Kollaps gesteuert, koste es auf Dauer, was es wolle. Hauptsache, die eigene Wählerklientel ist kurzfristig zufrieden und alle haben das Gefühl, die gute alte Zeit ist wieder da. Ist sie aber nicht.

Deshalb wird sich diese fahrlässige Sorglosigkeit bitter rächen, spätestens bei der nächsten Wirtschaftskrise. Dann geht das Gejammer wieder los über die leeren Staatskassen und die ach so notwendigen Sparmaßnahmen, die man beherzt angehen müsste. Dabei wäre dafür jetzt die beste Zeit. Solange die Steuereinnahmen sprudeln, könnte das Land am effektivsten renoviert und neu ausgerichtet werden.

Im großen Stil könnte auch mit Blick auf die Zukunftsthemen Digitalisierung, Wohnen, Infrastruktur und Mobilität investiert werden, anstatt symbolpolitisch ein paar Förderprogramme für schnelles Internet aufzulegen oder in der Bundesregierung immer mehr Digital-Zuständige zu ernennen.

Die fetten Jahre wären auch der optimale Zeitpunkt, um den deutschen Bürokratenapparat nachzujustieren. Braucht es wirklich dieses oder jenes Landesamt für irgendwas? Könnten vorhandene Kompetenzen vielleicht besser gebündelt und verzahnt werden? Wo braucht der Staat tatsächlich neue Kapazitäten? Und wie müssen die staatlichen Rahmenbedingungen sein, damit dieses Land die digitale Revolution ohne soziale Verwerfungen und trotzdem global erfolgreich besteht?

Das wären Fragen, die in die Zukunft reichen. Denn Retro mag im Alltag schick sein. In der Politik hat es nichts zu suchen.

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